Die Welt Kompakt - 09.09.2019

(Ben Green) #1

Noch häufiger wird Özdemir
als Nachfolger seines Partei-
freundes Winfried Kretschmann
gehandelt, des baden-württem-
bergischen Ministerpräsidenten.
Kretschmann, seit 2011 erster
grüner Regierungschef eines
Bundeslandes, wird wohl Mitte
der Woche ankündigen, ob er
2021 nochmals antreten wolle.
Allgemein wird mit einer positi-
ven Entscheidung des konserva-
tiven Katholiken mit maoisti-
schen Jugendverirrungen gerech-
net. In seiner mutmaßlich letz-
ten Legislaturperiode könnte der
71-jährige Kretschmann versu-
chen, Özdemir als seinen Nach-


71-jährige Kretschmann versu-
chen, Özdemir als seinen Nach-


71-jährige Kretschmann versu-


folgekandidaten aufzubauen.
Wenn Özdemir in dieser Zeit ei-
nen interessanteren Posten als
den des Verkehrsausschussvor-
sitzenden im Bundestag beklei-
det, kann das nur in beider Inte-
resse liegen – und in dem der
Partei außerdem.
Dazu muss Özdemir allerdings
zzzwei profilierte Grüne zur Seitewei profilierte Grüne zur Seite
schieben: Hofreiter, den promo-
vierten Biologen, und Göring-Eck-
ardt, die in der späten DDR ein
Theologie-Studium wegen Krank-
heit unter- und wegen der Wende
schließlich abgebrochen hat.
Als dieses links-rechte, west-
östliche und im Zweifel vor allem
pragmatische Duo voriges Jahr
als Vorsitzende bestätigt wurde,
schien beim „anatolischen
Schwaben“ Enttäuschung darü-
ber erkennbar, dass sich keine
breite Strömung für eine eigene
Kandidatur starkgemacht hatte.
„Dass ich gern Fraktionsvorsit-
zender geworden wäre, verheim-
liche ich nicht, aber dafür hatte
ich erkennbar keine Mehrheit in
meiner Fraktion“, sagte Özdemir
im Januar 2018 im WELT-Inter-
view. Er fügte hinzu, er hätte sich
„in der Tat vorstellen können,
dass andere Kriterien mindestens
so entscheidend sind“ wie die
Flügelzugehörigkeit, etwa sein
Agieren im Bundestagswahl-
kampf und bei den (gescheiter-
ten) Jamaika-Sondierungen.
Hofreiter und Göring-Eckardt
waren da gerade im Amt bestätigt
worden – allerdings mit einem er-
nüchternden Ergebnis. Er bekam
66,1 Prozent, sie 67,7 Prozent –
für eine Kandidatur ohne Gegen-
kandidaten ist das schwach.
Wohl deshalb war in den ver-
gangenen Wochen in Fraktions-
kreisen von einer „Nervosität“
der beiden Vorsitzenden die Re-
de. Sie war in erster Linie Özde-
mir zuzuschreiben, der als poten-
zieller Herausforderer galt, aber
sein Pulver bislang trocken ge-
halten hatte.
Özdemir ist in der Wähler-
schaft beliebter als in der Frakti-
on, vor allem auf deren linken
Flügel. Jürgen Trittin, der einstige
Bundesumweltminister, gilt als
erklärter Gegner Özdemirs. Ande-
rerseits wissen die Grünen, dass
sie sich keinen Gefallen tun, wenn
sie einen in der Öffentlichkeit
ausgesprochen populären Politi-
ker zu sehr am Rand verstecken.
Der Parteispitze Habeck/Baer-
bock, die noch im Herbst von den


Delegierten im Amt bestätigt
werden muss, würde Özdemir
zudem nicht gefährlich. Er hat
bereits vor geraumer Zeit erklärt,
von seiner formal noch bestehen-
den Spitzenkandidatur zurück-
zutreten. Und er wie Kappert-
Gonther bestätigten auch in ih-
rem Brief vom Samstag, sie wür-
den eine Spitzenkandidatur bei
der nächsten Bundestagswahl
nicht anstreben. Was wohl auch
ein Kamikazeunternehmen wäre:
Habeck und Baerbock sind in der
Partei bislang völlig unumstrit-
ten, und ihre Persönlichkeiten
gelten als ein wichtiger Grund
für den hohen demoskopischen
Zuspruch für die Grünen. Dass
die Partei jüngst in Brandenburg
und Sachsen nicht die Zahlen
und Größenordnungen erreichte,
für die es seit 2018 in Bayern,
Hessen und bei der Europawahl
reichte, kreiden die Grünen nicht
oder nur sehr bedingt ihrem Spit-
zenduo an.
Özdemir wurde als 28-Jähriger
1994 zusammen mit Leyla Onur
(SPD) der erste Bundestagsabge-
ordnete mit türkischen Eltern.
2002 erfuhr seine politische Kar-
riere eine jähe Unterbrechung,
nachdem die private Nutzung
dienstlich erworbener Bonusmei-
len sowie die Annahme eines Kre-
dits des PR-Beraters Moritz Hun-
zinger bekannt geworden waren.
Sein in jenem Jahr gewonne-
nes Bundestagsmandat über die
Landesliste nahm Özdemir nicht
an, sondern kandidierte 2004 für
die Europawahl. Er blieb für eine
Legislaturperiode, bis 2009, in
Brüssel und Straßburg. 2013 ge-
lang ihm die Rückkehr in den
Bundestag.
Özdemir gilt vielen Fraktions-
mitgliedern als Einzelkämpfer,
der eher auf sich als auf ein Team
baut. Seine Wahl in der Fraktion
ist deshalb alles andere als sicher.
Darum kann es sich für Özde-
mir als cleverer Schachzug erwei-
sen, nun zusammen mit Kappert-
Gonther den Fraktionsvorsitz
anzustreben. Die aus Marburg
stammende Fachärztin für Psy-
chiatrie war seit 2011 Abgeordne-
te in der Bremischen Bürger-
schaft und wechselte 2017 in den
Bundestag. Kappert-Gonther ist
Obfrau ihrer Fraktion im Ge-
sundheitsausschuss und Spre-
cherin für Drogenpolitik. Ihre
fachliche Kompetenz ist unum-
stritten. Dass sie ambitioniert
sei, hatte sich auch schon herum-
gesprochen. Jetzt greift die Ko-
Vorsitzende der Parlamentari-
schen Linken in der Grünen-
Fraktion weit nach oben.
Und während Kappert-Gont-
her als offiziöse Repräsentantin
des linken Flügels gegen Hofrei-
ter antreten wird, muss Özdemir
die Klingen kreuzen mit Göring-
Eckardt. Die beiden Überra-
schungskandidaten wollen der
Fraktion neuen Schwung aller-
dings nicht durch ihre Kandida-
tur vermitteln – sondern durch
ihre Wahl.
Für Özdemir könnte das eine
Zwischenstation werden. Auf
dem Weg nach Stuttgart.

DIE WELIE WELIE WELT KOMPAKTT KOMPAKT MONTAG, 9. SEPTEMBER 2019 POLITIK 7


E


in Parteichef darf interne
Probleme in der Öffent-
lichkeit höchstens andeu-
ten. Deshalb konnte AfD-Chef
Jörg Meuthen am Montag nach
den Wahlen in Sachsen und
Brandenburg über die westdeut-
schen AfD-Landesverbände nur
sagen, dass die noch „Luft nach
oben in der Geschlossenheit“
hätten. Wer aber nicht Partei-
chef ist, muss feststellen: Mit
Ausnahme von Hessen und
Hamburg ist die AfD in allen
West-Ländern schwer zerstrit-
ten. Zwar hat die „Schneise der
Verwüstung“, wie Bundesvize
Kay Gottschalk in WELT die
westlichen Verhältnisse nannte,
unterschiedliche Formen. Aber
der Grund ist überall derselbe:
In der AfD kann man nicht damit
umgehen, klein zu sein.

VON MATTHIAS KAMANN

Eine Partei, die von funda-
mentalen Forderungen lebt,
kann sich mit ihrer geringen Wir-
kung im Westen nicht arrangie-
ren. Weil die Wahlergebnisse
nicht den Erregungen entspre-
chen und die Partei nicht mitre-
gieren will noch darf, können
sich die Anspannungen nicht
entladen. Das führt zu perma-
nenter Unzufriedenheit und
macht anfällig gegenüber „Flü-
gel“-Anhängern, die mehr Erfolg
durch noch rabiateres Auftreten
verheißen. Hinzu kommt: Dem
sehr speziellen Personal dieser
Partei ermöglichen vor allem
kleine Landesverbände die Cli-
quenwirtschaft. Bei den Wahlen
in Brandenburg und Sachsen
blieb die AfD in den jeweils größ-
ten Städten, in Potsdam und
Leipzig, deutlich unter ihren lan-
desweiten Ergebnissen. In wach-
senden Großstädten ist die Par-
tei nun einmal schwach.
Das gilt erst recht für Berlin.
Daher träumt der dortige Lan-
des- und Fraktionsvorsitzende
Georg Pazderski nicht vom
Durchmarsch, sondern will die
AfD durch einen gemäßigten
Kursan großstädtische Verhält-
nisse anpassen. Da aber Berlin
von ostdeutschen „Flügel“-
Hochburgen umgeben ist und
mit diesen in der Partei vergli-
chen wird, wird die Berlin-
Schwäche nicht hingenommen.
Daher gerät Pazderski nun unter
Druck. Bei der Neuwahl des Lan-
desvorstands im Herbst ist eine
Revolte gegen ihn nicht auszu-
schließen. Und in der Abgeord-
netenhausfraktion gibt es für de-
ren Vorstandswahl am Dienstag
Gegenkandidaten zu Pazderski
und zu einem seiner wichtigen
Mitstreiter, dem parlamentari-
schen Geschäftsführer Frank-
Christian Hansel. Zwar geht es
dabei auch um offene persönli-
che Rechnungen. Aber im Hin-
tergrund mischt der „Flügel“
mit, um Pazderski und Hansel
zumindest anzählen zu können.
Zu den Eigenheiten der AfD
gehört, dass Landesverbände
üüüberhaupt wichtig sind. Währendberhaupt wichtig sind. Während
sie in anderen Parteien meist un-

auffällig vor sich hin funktionie-
ren, haben sie in der AfD eine
eminente Bedeutung. Als
Schlachtfelder. Das liegt schon
daran, dass es in dieser Partei als
besonders basisdemokratisch
gilt, wenn Landesparteitage nicht
nur Delegierten offenstehen,
sondern allen Mitgliedern – je-
denfalls denen, die sich mobili-
sieren lassen, um für Rabatz zu
sorgen. Zugleich sind die AfD-
Fraktionen in den Landtagen arm
an Einfluss – von Koalitionen
ausgeschlossen, an parlamentari-
schen Knalleffekten stärker inte-
ressiert als an der Herausbildung
von Kompetenznetzwerken. Und
wenn die Fraktionen dann noch
so zerstritten sind wie die in Ba-
den-Württemberg, konzentriert
sich alles auf den Landesverband
und dessen Frontverläufe. Die se-
hen im Südwesten so aus, dass
der erst im Frühjahr gewählte
VVVorstand ein Trümmerhaufen ist.orstand ein Trümmerhaufen ist.
Der eine Landeschef, der Bundes-
tagsabgeordnete Dirk Spaniel,
wwwurde vom anderen Vorsitzen-urde vom anderen Vorsitzen-
den Bernd Gögel und weiteren
VVVorstandsmitgliedern zum Rück-orstandsmitgliedern zum Rück-
tritt aufgefordert, weil das Ver-
trauensverhältnis „endgültig be-
schädigt“ sei. Umgekehrt emp-
fffahl Spaniel denjenigen, die esahl Spaniel denjenigen, die es
anders als er nicht mit dem „Flü-
gel“ halten, den Gang in eine „li-
berale Selbsthilfegruppe“.
Strukturell ähnlich ist es in
Niedersachsen. Die kleine Frak-
tion unter der Vorsitzenden
(und Landeschefin) Dana Guth
spielt im Landtag eine marginale
Rolle, und im Landesverband
herrscht ein lähmender Drei-
kampf. Guth und ein kleiner
Kreis von tendenziell Gemäßig-
ten stehen „Flügel“-Protagonis-
ten gegenüber, für dauerndes
Störfeuer sorgen die Getreuen
des früheren Landeschefs Ar-
min-Paulus Hampel.
Ist ein Landesverband klein,
könnte man zusammenhalten
und sich von außen helfen lassen.
Die AfD im Saarlandmacht es
anders. Dem dortigen Lande-
schef Josef Dörr, der mithilfe ei-
ner familiär geprägten Kleincli-
que herrscht, warf der saarländi-
sche Bundestagsabgeordnete
Christian Wirth vor, den Landes-
vorstand zum „Politbüro“ zu ma-
chen. Dörr wiederum will Wirth
aus der Partei ausschließen. Der
Bundesvorstand würde am liebs-
ten den Landesverband auflösen,
scheitert aber am Widerstand
von Dörr und den Seinen.

Da darf man in Bremennicht
zurückstehen. Der Spitzenkandi-
dat bei der Bürgerschaftswahl im
Mai, Frank Magnitz, will sein
Mandat als Bundestagsabgeord-
neter gegen den Protest des Bun-
desvorstands behalten, obwohl
Magnitz nun in Bremen in der
Bürgerschaft sitzt. Und in der hat
er sich mit zwei anderen AfD-Ab-
geordneten aus der bisher fünf-
köpfigen Fraktion verabschiedet.
Die drei von der Magnitz-Truppe
wollen sich „AfD-Gruppe in der
Bremischen Bürgerschaft“ nen-
nen, aber der Bundesvorstand
hat ihnen verboten, den Namen
der Partei zu benutzen.
Magnitz dürfte ein Novum ge-
lungen sein: Im Bundestag einer
Fraktion anzugehören, deren
Parteiname ihm in einem Lan-
desparlament von der eigenen
Partei verwehrt wird.
In Schleswig-Holsteinsieht
es so aus, als sei die schwerste
Krise überstanden: Die bisherige
Landeschefin Doris von Sayn-
Wittgenstein wurde wegen
rechtsextremer Positionen aus
der Partei ausgeschlossen und
wird auch nicht mehr vom „Flü-
gel“ unterstützt.
Einen neuen Landeschef
braucht die AfD auch in Rhein-
land-Pfalz. Der bisherige Vorsit-
zende Uwe Junge will das Amt
abgeben, aber Fraktionschef im
Landtag bleiben. Junge gelang es
in den vergangenen Monaten
immer weniger, seine Versuche
zur Abgrenzung von rechtsex-
tremen Tendenzen im Landes-
verband zu vermitteln. Leute,
die solche Tendenzen hinneh-
men, dürften nach Junges Ab-
gang Auftrieb bekommen.
Faktisch keine Führung hat
der größte AfD-Verband, der
nordrhein-westfälische. Nach-
dem sich Anfang Juli alle mehr
oder weniger gemäßigten Vor-
standsmitglieder zurückgezogen
haben, gehören dem Gremium
nur noch drei Personen an.
In Bayern, wo seit dem Absin-
gen aller drei Deutschlandlied-
Strophen bei einem „Flügel“-
Treffen Anfang Mai ebenfalls
heftige Kämpfe toben, hat sich
Landeschef Martin Sichert Luft
verschafft. Vorläufig zurückge-
wiesen wurde der Machtan-
spruch von Katrin Ebner-Stei-
ner, der völkischen Vorsitzen-
den der zerstrittenen Landtags-
fraktion. Eines der radikalsten
Landesvorstandsmitglieder,
Benjamin Nolte, wurde aus dem
Gremium ausgeschlossen.
Das heißt nicht, dass die Völ-
kischen Ruhe geben. So soll
nicht nur Ebner-Steiner, son-
dern auch Nolte am 19. Oktober
in Beratzhausen beim „Ostbay-
ernfest“ der dortigen Jungen Al-
ternative als Redner auftreten.
Ebenfalls mit dabei sind drei
Leute, an denen sich ein weite-
rer Grund ablesen lässt, warum
westliche AfD-Landesverbände
nicht zur Ruhe kommen: Immer
wieder gesellen sich „Flügel“-
Protagonisten aus Ostdeutsch-
land zu Leuten, die im Westen
für Ärger sorgen.

So


zerstritten


ist die AfD


im Westen


Triumphe im Osten,


anderswo fast nur
tiefe Krisen
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