Süddeutsche Zeitung - 09.09.2019

(C. Jardin) #1
Der Mann im weißen Raumanzug bewegt
sichlangsam durch die graue Wüste, er
stapft von Krater zu Krater. Was der Ame-
rikaner Neil Armstrong konnte, kann der
indische „Moonwalker“ schon lange, die
Kamera ist immer dicht dran an ihm. Es
scheint, als können die Leute auf dem Sub-
kontinent gar nicht genug von diesem Vi-
deo bekommen. Ein indischer Astronaut
auf dem Mond? Was könnte bewegender
sein für die ehrgeizige Nation.
Die optische Täuschung ist gelungen,
die Bilder sind bei Nacht gedreht, die Lich-
ter geschickt gesetzt. Erst als sich die
graue Szene etwas aufhellt, ein Hupen zu
hören ist und eine Motorrad-Rikscha
durchs Bild knattert, dämmert es dem Be-
trachter: Dieser Astronaut musste für
sein großes Abenteuer gar nicht so weit
reisen. Es reichte, einfach vor die Haustür
zu treten, hinaus in die Straßen der Metro-
pole Bangalore, wo manche Krater im As-
phalt längst extra-terrestrische Ausmaße
annehmen.
Der Clip ist das Werk des indischen Ak-
tionskünstlers Baadal Nanjundaswamy,
er ließ einen Schauspieler im Weltraum-
kostüm durch die städtische Holperland-
schaft stapfen, die er zuvor mit Farbe und
Pinsel noch als Mondattrappe präpariert
hatte. Das ironisierende Video vom Moon-
walker hat sich viral verbreitet, und ver-
mutlich hätte man das große Paradox In-
diens kaum witziger einfangen können.
Viele grübeln ja darüber nach, wie das ei-
gentlich alles zusammenpasst: Zwar
schickt Indien fleißig Raketen Richtung
Mond und Mars, aber um die Schlaglö-
cher vor der Haustür scheint sich nie-
mand im Staat besonders zu kümmern.
Dass die jüngste indische Raummissi-
on, ein Fahrzeug auf dem Mond zu lan-

den, am Wochenende gescheitert ist,
konnte der Künstler beim Drehen des Vi-
deos nicht vorhersehen. Indiens Premier
war nun zu sehen, wie er den Chef der
Raumfahrtbehörde tröstete, ein Moment
nationaler Enttäuschung, aber auch An-
lass für sarkastische Kommentare: In Indi-
en gebe es eben weit mehr zu reparieren
als die Mondmission, schrieb einer auf
Twitter. Schlaglöcher, zum Beispiel, wie
sie Künstler Nanjundaswamy ins Licht
rückt. Er gilt als Experte, was die Gestal-
tung von Straßenkratern angeht.
Einmal hat er ein lebensgroßes Kroko-
dil modelliert und es in einem trüben

Tümpel ausgesetzt, der sich quer über die
Fahrbahn zog. Eine Wasserleitung war ge-
platzt und niemand reparierte den Scha-
den. Der inszenierte Reptilienbiotop er-
regte damals großes Aufsehen, genauso
wie die jüngste Mondsimulation. Interes-
santerweise ist der Schöpfer der Werke
ein Mann, der das Licht der Öffentlichkeit
eher scheut.
Als der vermeintliche Mondspazier-
gang die sozialen Netzwerke eroberte,
schaltete der Künstler sein Handy ab, erst
Tage später war er wieder zu erreichen,
wer mit ihm spricht, hört die schüchterne
Stimme eines Mannes, der sagt: „Ich sehe
meine Arbeit als kleinen Einsatz zur Welt-
verbesserung.“ Er schafft Werke einer-
seits für sich selbst, aus der kreativen Ar-
beit schöpft er Zufriedenheit, anderer-
seits will er damit auch einen Dienst für
die Gemeinschaft leisten. Deshalb gefällt
es Nanjundaswamy, wenn ihn die Leute ei-
nen „Straßenkünstler“ nennen.
Der 39-Jährige hat Malerei in Mysore
im Süden Indiens studiert, er ist verheira-
tet, hat ein Kind, und arbeitet in der High-
tech-Metropole Bangalore. Er kann sich
für die Farben Van Goghs begeistern, er
schätzt Salvador Dalí und den Graffiti-
Künstler Banksy. Als er nun seinen Moon-
walk-Clip schuf, dauerte es nicht lange,
bis die Bagger von Bangalore anrückten
und die Krater auffüllten, die der Künst-
ler für seine Mondsimulation genutzt hat-
te. Aber er weint seinem Werk nicht nach,
im Gegenteil. Der Sinn seines Schaffens
liege ja in der Vergänglichkeit, sagt er. „So-
bald mein Werk verschwunden ist, bin ich
glücklich.“ Die Bürger von Bangalore dürf-
ten es ihm noch lange danken. Schlaglö-
cher kosten jedes Jahr 3000 Inder das Le-
ben. arne perras

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von cathrin kahlweit


V


iele Tories hatten sich gewundert,
dass ihre Kollegin Amber Rudd
sich überhaupt hinter Boris John-
son gestellt hatte und dann auch noch als
Arbeitsministerin in sein Kabinett einge-
treten war. Sie war immer für den Ver-
bleib in der EU gewesen und hatte sich
mehr als einmal abfällig über den Mann
geäußert, der nun Premier ist. Was auch
immer ihre Beweggründe waren: Am
Samstag mochte sie nicht mehr. Ihr Rück-
trittsbrief ist eine schallende Ohrfeige für
Johnson. Er betreibe aktiv No Deal, er
spalte die Tories, er spiele Vabanque mit
Partei und Nation.
Normalerweise wäre ein solcher Rück-
zug, dem in den nächsten Tagen weitere
Rücktritte folgen dürften, Schlagzeile ge-
nug für einen Tag – und ein Grund für
Johnson, sich Sorgen zu machen. Aber
der legt es genau darauf an. Alle, die sich
gegen seinen Kurs stellen, sollen entfernt
werden oder sich entfernen. Denn er
braucht das Parlament nicht mehr. Er
braucht, wenn sein Plan aufgeht, auch kei-
ne Parlamentsmehrheit mehr. Weil es so
aussieht, als wolle ihm die versammelte
Opposition rasche Neuwahlen verwei-
gern, aus denen er als strahlender Brexit-
Verwirklicher hervorzugehen dachte, ist
sein neuer Plan B, gegen das Unterhaus
zu regieren. Und gegen das Gesetz.
Johnsons engster Berater in Downing
Street, Dominic Cummings, soll die Ope-
ration „Kettensägenmassaker“ ausgeru-
fen haben. Die, die meinten, die letzte Wo-
che im Unterhaus sei chaotisch verlau-
fen, würden sehen, dass das Chaos steige-
rungsfähig sei. Abgesehen davon, dass al-
lein diese Kriegsrhetorik, wenn die Be-
richte so stimmen, mehr als bedrohlich
ist, so sind es die Pläne von Cummings
und Johnson erst recht. Debattiert wird
derzeit offenbar, das No-Deal-Vermei-
dungsgesetz, das an diesem Montag Ge-

setzeskraft erhalten soll, zu ignorieren.
Johnson will in Brüssel keine Verschie-
bung des Brexittermins beantragen. Soll-
te die Opposition ihn deswegen vor dem
Obersten Gericht verklagen, spekuliert
er damit, dass der 31. Oktober schneller
kommt, als ein Urteil da ist. Er droht da-
mit, die Arbeit der EU zu torpedieren, die
wegen des Einstimmigkeitsprinzips bei
wichtigen Themen fürs erste noch von
der Stimme Londons abhängig ist. Er
droht, keinen Kommissar in die nächste
Kommission zu entsenden. Er droht, soll-
te das Parlament in London ihn per Miss-
trauensvotum stürzen, nicht zurückzutre-
ten. Er droht und droht und droht, sodass
die Oppositionsparteien schon überle-
gen, ob es taktisch nicht doch besser wä-
re, Neuwahlen zuzustimmen.

Johnson nützen die Drohszenarien,
ihm nützt das befürchtete Chaos, ihm nüt-
zen sogar die Schlagzeilen, dass er lieber
ins Gefängnis gehen als das Diktat des
Parlaments umsetzen werde. Denn offen-
sichtlich lieben es die konservativen Wäh-
ler – zumindest die Leave-Fans. London
ist egal, die Stimmung im Rest des Lan-
des ist das, was für Johnson zählt.
Und tatsächlich: Am Ende einer Wo-
che, in der der Premier mehrere Niederla-
gen erlitten hat, sind die Umfragewerte
seiner Tories nach oben geschnellt. Nach
oben – man muss sich das auf der Zunge
zergehen lassen: Viele Briten sind begeis-
tert von dem Rambo, der das Gesetz bre-
chen, die Volksvertreter demütigen, die
EU beschädigen und ihnen endlich den
Brexit bescheren will. Man kann Cum-
mings und Johnson zynisch finden, perfi-
de oder schlicht irre. Aber es ist gut mög-
lich, dass ihre Taktik aufgeht.

von stefan braun


S


eit Angela Merkel den CDU-Vorsitz
abgegeben hat, kann man eine ande-
re Kanzlerin erleben. Nicht im Regie-
ren, nicht im Ausbalancieren der Kräfte
im Kabinett. Wohl aber darin, wie sie über
das spricht, was ihr wirklich wichtig ist. So
konnte man zuletzt erfahren, wie sehr ihr
die Solidarität unter Frauen am Herzen
liegt; wie dramatisch sie das Wiedererstar-
ken des Rechtsradikalismus erlebt; wie
harsch sie im Kampf gegen die Erderwär-
mung mit sich selbst hadert – und wie
sehr sie heute für Kompromisse wirbt,
wenn es um den Zusammenhalt in der EU
geht. Merkel, die Sphinx – das war einmal.
Nur an einer Stelle klafft eine Lücke.
Und diese Lücke bündelt sich in einem Na-
men: China. Dabei geht es nicht um eine
Dienstreise, nicht um einen Kabinetts-
ausflug und erst recht nicht um ein Land
in weiter Ferne. Es geht um eine massive
Veränderung der Welt – und die Frage,
was das für Deutschland bedeutet.
Kein anderes Land steht so sehr für die
globale Veränderung auf der Welt wie Chi-
na. Keines hat es geschafft, neben den
USA eine Potenz zu entwickeln, an der nie-
mand mehr vorbeikommt. Mit einer atem-
beraubenden Geschwindigkeit bei der Di-
gitalisierung der eigenen Gesellschaft,
was dem Land nebenbei datentechnisch
unfassbare Vorteile einbringt; mit einem
beängstigenden Machtanspruch der chi-
nesischen Führung, die demonstrativ alle
Demokratien als Staatsform herausfor-
dert; und mit einer Wirtschaftskraft, von
der sich – vielleicht mit Ausnahme der
USA – kein Land mehr ohne große Verlus-
te emanzipieren könnte.
Für das Exportland Germany verbin-
den sich damit existenzielle Fragen; für
das weltoffene, demokratische Deutsch-
land erwächst daraus eine Herausforde-
rung, die niemand mehr ignorieren sollte.
China ist zur Weltmacht aufgestiegen, die

bis in die EU ausgreift, indem es ärmeren
EU-Staaten Geschäfte, Geld und Partner-
schaft anbietet. Deutschland muss sich
wappnen, will es sich behaupten.
Merkel weiß das, in allen Einzelheiten.
Kein anderes Land studiert und seziert sie
mit vergleichbarer Akribie. Und sie stellt
sich längst alle Fragen: Wie stehen die
Deutschen da im Vergleich zu China? Füh-
ren sie noch die richtigen Debatten? Set-
zen sie die notwendigen Prioritäten?
Reicht die deutsche Ingenieurskunst
noch, um den Wohlstand zu sichern? Und
was muss geschehen, wenn sich Europa ei-
ne prägende Kraft erhalten möchte?

Ende der Woche ist die Kanzlerin zum
zwölften Mal in Peking gewesen. Man
kann davon ausgehen, dass sie mit großen
Sorgen zurückgekommen ist. Zu heikel
und brüchig ist eine Welt geworden, in der
Amerika und China gefährlich streiten,
Europa an Energie einbüßt und Deutsch-
land hechelnd bemüht ist, Schritt zu hal-
ten. Umso mehr stellt sich die Frage, wann
die Kanzlerin das offen ausspricht? Wann
sie den Menschen das sagt, was sie selbst
längst weiß: dass Deutschland sich auf die-
se neue Welt schleunigst vorbereiten
muss. Wann wird sie versuchen, die Debat-
te um eine Grundrente in Relation zu set-
zen zu den gewaltigen Aufgaben, die in
Wahrheit bevorstehen? Wann wird sie öf-
fentlich dafür werben, sich ganz anders
und also viel entschlossener für den digita-
len Wettbewerb auszubilden und auszu-
statten? Und wann wird sie mit aller Klar-
heit aussprechen, dass Europa sich mutig
neu positionieren muss, wenn es noch ein
Wort mitreden möchte?
Es geht nicht um eine Traueranspra-
che. Es geht um Mut und Aufbruch.

B


ärtige Talibanführer trinken kurz
vor dem Jahrestag des 11. Septem-
ber Tee auf der Terrasse von Camp
David – diese Vorstellung finden viele US-
Bürger bizarr. Dass das von Trump erst
mit seiner Absage publik gemachte Ge-
heimtreffen nicht stattfindet, ist jedoch
nicht nur aus Pietät gegenüber den Op-
fern der Terroranschläge von New York
und Washington eine gute Nachricht.
In Afghanistan wird ein Frieden nur
durch Verhandlungen zu erreichen sein.
Das bestreiten nicht einmal Falken wie Si-
cherheitsberater John Bolton, die bei der
Lösung von Konflikten eher auf Waffen
denn auf Worte setzen. Dass Trump bei ei-
nem spektakulären Treffen auf US-Boden


einen tragfähigen Frieden hätte erreichen
können, bezweifeln hingegen viele – die
Gefahr wäre groß gewesen, dass sich der
schon halb im Wahlkampf befindliche US-
Präsident auf einen Deal eingelassen hät-
te, dessen Folgen kaum absehbar sind.
Trump will seiner Basis beweisen, dass
er die Truppen nach 18 Jahren vom Hindu-
kusch heimholen kann. Ein zweifellos
sinnvolles Ziel, für das jedoch bisher die
Grundlagen fehlen. Denn dass sie wieder
nach der ganzen Macht in Afghanistan
greifen wollen, daraus machen die Tali-
ban kein Geheimnis. Ihnen das durch eine
vorschnelle Einigung zu erlauben, wäre
ein zu hoher Preis für ein Wahlkampf-
manöver. moritz baumstieger

K


aum haben die Grünen die Wahlen
in Ostdeutschland überstanden,
kündigt sich ein Machtkampf an.
Ex-Parteichef Cem Özdemir, der nach den
Jamaika-Sondierungen recht unsanft in
die zweite Reihe gebeten worden war, will
mit der Bremer Abgeordneten Kirsten
Kappert-Gonther den Fraktionsvorsitz
im Bundestag übernehmen. Ein Putsch
gegen die Amtsinhaber Katrin Göring-
Eckardt und Toni Hofreiter? Ach,
Quatsch. Aber ein riskantes Manöver.
Denn während die Parteilinke Kap-
pert-Gonther ihre Kandidatur als Auf-
bruch in irgendwas Neues verkaufen
kann, ist Realo Özdemir bestens bekannt:
als brillanter Redner und schneller Kopf,


aber eben auch als einer, der zum Egotrip
neigt. Özdemirs Besserwisserei ist legen-
där und sein gefährlichster Feind. Und
kaum einer seiner Parteifreunde vermisst
die Zeit, als er mit Parteichefin Simone
Peter final verkracht war, der Draht zwi-
schen Partei- und Fraktionsspitze abriss.
In einer Phase sacht sinkender Umfrage-
werte wäre das Gift für die Grünen.
Und doch, es tut der Fraktion gut, dass
jetzt Schluss mit gemütlich ist. Göring-
Eckardt und Hofreiter haben zuletzt nicht
eben geglänzt mit neuen Ideen. Vieles ist
arg erwartbar geworden. Erfahrung, Ver-
lässlichkeit? Alles gut und schön. Aber ein
Feuer unterm Hintern kann da nicht
schaden. constanze von bullion

M


an würde sich wünschen, dass
die Polizei einmal für Law and Or-
der sorgte, dass sie null Toleranz
zeigen würde – und zwar, wenn es um Tä-
ter in ihren eigenen Reihen geht. Schon
wieder ist in der hessischen Polizei eine
Whatsapp-Gruppe mit antisemitischen
und rassistischen Witzchen aufgeflogen,
diesmal unter Polizeischülern. Schon
wieder sind es widerwärtige Dinge, gepos-
tet von Leuten, die beim organisierten
Massenmord an jüdischen Familien offen-
bar denken: Witzig, schicke ich mal an die
ganze Klasse.
An die 20 Personen lasen das. Mehr als
ein Jahr lang. Kein einziger dieser Polizei-
schüler ist auf die Idee gekommen, diese


Hetze anzuzeigen. Das disqualifiziert alle
diese Polizeischüler für den angestrebten
Beruf. Die Reaktion der Führung ist trotz-
dem weich. Lediglich eine kleine Gruppe
von Schülern – bekannt sind bislang
sechs Fälle – muss sich nun einen Job in
der Privatwirtschaft suchen. Ihren Ab-
schluss dürfen sie aber noch machen; das
ist Fürsorge auf Staatskosten. Die übrigen
werden demnächst in Hessen auf Streife
geschickt werden, als wäre nichts gewe-
sen; was lernen sie, was lernen alle ande-
ren Polizisten aus dieser Episode?
Die offene Menschenverachtung man-
cher Polizisten ist mehr als eine Reihe von
empörenden Fällen. Das ist ein politisches
Führungsproblem. ronen steinke

I


n diesem Herbst debattiert und ent-
scheidet der Bundestag darüber, ob
und wie ein Einsatz gegen den soge-
nannten Islamischen Staat fortge-
setzt werden soll. VierTornadosder
Luftwaffe sind derzeit über Syrien und
dem Irak im Einsatz, um Bilder zu liefern,
die zeigen, wo sich IS-Kämpfer verste-
cken oder nach ihrer militärischen Nieder-
lage neu zusammenfinden. Im Irak bildet
die Bundeswehr Soldaten aus. Ende Okto-
ber sollte das Mandat auslaufen.
Nach anfänglichem Zögern der SPD
scheint nun eine Verlängerung wahr-
scheinlich, die große Koalition will dieTor-
nadosbis Ende März 2020 weiterfliegen
lassen, die Ausbildung und die Teilnahme
von Bundeswehrsoldaten anAwacs-Auf-
klärungsmissionen soll ein weiteres Jahr
fortgeführt werden. Das ist eine gute und
richtige Entscheidung. Der islamistische
Terrorismus war eine Bedrohung, als
2015 die Entsendungen beschlossen wur-
den. Er ist es heute auch noch. Dies zu
vergessen, wäre ebenso falsch, wie es
falsch war, nicht früh genug gegen rech-
ten Terrorismus vorzugehen.


Ein Ärgernis ist dagegen, dass die politi-
sche Debatte darüber, was notwendig ist,
um den Wiederaufstieg des IS zu verhin-
dern, wieder einmal zeigt, wie sehr das Mi-
litärische überbetont wird – während
andere, mindestens ebenso wichtige Fak-
toren kaum Beachtung finden. Etwa die
humanitäre Hilfe: Ein von den Vereinten
Nationen koordinierter Hilfsplan für den
Irak ist gerade einmal zu 41 Prozent finan-
ziert. Der humanitäre Hilfsplan für Syrien



  • hier geht es auch um die unter kurdi-
    scher Kontrolle stehenden befreiten IS-
    Gebiete – steht bei kläglichen 28 Prozent.
    Mit diesem Geld soll der Wiederaufbau
    bezahlt werden, in Raqqa etwa, der ehema-
    ligen Hauptstadt des nun zerfallenen Kali-
    fats, oder in Mossul, einer einst unter IS-
    Herrschaft stehenden Stadt, größer als
    Hamburg. Eine Vertreterin von Amnesty
    International nannte Raqqa eine der
    meist zerstörten Städte der Neuzeit und
    verglich sie mit Dresden am Ende des
    Zweiten Weltkrieges. Diese Orte der Apo-
    kalypse wieder bewohnbar zu machen,
    geht nur langsam voran, manchmal auch
    gar nicht.
    Der Sieg über den IS war eine Priorität
    für die Weltgemeinschaft. Die Hilfe für die
    Menschen, die unter ihm zu leiden hatten,
    ist es nicht. Das ist gefährlich. Schon ist
    dort vielerorts zu hören: Ja, der IS war
    schlecht, aber immerhin gab es Strom


und Wasser. Die schwierige Lage macht es
den Terroristen leicht, neue Anhänger zu
rekrutieren. Und sie warten nur darauf, ih-
re schwarzen Flaggen wieder zu hissen.
Den Krieg zu gewinnen, kann einfacher
sein, als den Frieden zu sichern.
Die Bundesregierung gehört zugegeben
zu jenen Staaten, die dies erkannt haben.
Sie überweist erhebliche Mittel und liegt
damit hinter den USA an Platz zwei. Sie en-
gagiert sich vor allem in jenen Gremien,
die sich um die Stabilisierung kümmern.
1,7 Milliarden Euro flossen seit 2014 allein
in den Irak. Manches Land, das bei den Ver-
teidigungsausgaben brav auf die Zwei-Pro-
zent-Vorgabe der Nato zusteuert, glänzt
bei der humanitären Hilfe durch weitge-
hende Abwesenheit. Und doch könnte und
sollte Berlin auf internationaler Ebene
noch einmal mehr tun, um endlich die not-
wendigen Gelder einzutreiben.
In einem anderen und nicht weniger
wichtigen Bereich duckt sich die Bundes-
regierung regelrecht weg, sie tut es in
klammheimlicher Übereinstimmung mit
vielen anderen Staaten. Es geht um die
Frage, was mit den Tausenden europäi-
scher IS-Anhängern geschehen soll, die in
der Region in Haft oder in riesigen Flücht-
lingslagern einsitzen. Niemand hat sie
daran gehindert, zum Kämpfen und Mor-
den in die Region zu ziehen. Nun wollen
vor allem die Kurden, dass sie nach Hause
geholt werden: Es drohten Ausbrüche und
vor allem auch eine weitergehende Radi-
kalisierung in den Lagern. So wachse die
nächste Generation Terroristen heran.
Gerade hat US-Verteidigungsminister
Mark Esper erklärt, die Situation sei „un-
haltbar“ und eine „Gefahr für die Region“.
US-Präsident Donald Trump hat Kanzle-
rin Angela Merkel zum Handeln aufgefor-
dert, zuletzt auf offener Bühne während
des G-7-Gipfels in Biarritz. Es ist eine
schwierige Entscheidung, aber Bundesre-
gierung und Bundestag sollten sich end-
lich ernsthaft mit dieser Frage beschäfti-
gen. Auch die Trump-Regierung kann ein-
mal recht haben.
Vier Bundeswehr-Tornadosund eine
Ausbildungsmission werden jedenfalls
nicht genügen, um den IS dauerhaft zu be-
siegen. Wie immer, wenn es um Terroris-
mus geht, braucht es eine kluge und lang-
fristige Strategie, zu der konsequente
Rechtsstaatlichkeit, Strafverfolgung und
humanitäre Hilfe gehören. Nicht nur Bom-
ben. Diese Lektion ist eigentlich lange ge-
lernt und wird doch immer noch ignoriert.
Wenn der Bundestag in diesem Herbst
über die Verlängerung des Mandats dis-
kutiert, sollte er es sich nicht zu leicht
machen. Zu debattieren ist, was getan wer-
den muss, um den IS dauerhaft niederzu-
halten. Und ob Deutschland dafür bereits
genug und das Richtige tut.

Es gibt im Leben eine Zeit
zum Arbeiten, eine Zeit zum
Leben und sogar eine Zeit
zum Spielen. Eltern bezeich-
nen so die Phasen, in denen
die Kinder sich ganz den eigenen Bedürf-
nissen hingeben dürfen. Fußballfans
wiederum sehen darin die Länge einer Be-
gegnung zweier Mannschaften, inklusive
der Verlängerung. Da aber das Leben
auch Theater ist, dürfte die Spielzeit an
der Bühne die bedeutendste sein. So be-
zeichnet man die gesamte Saison, also
die Phase, in der Vorstellungen laufen
und nicht nur geurlaubt, gezimmert und
geprobt wird. Der Spielzeitbeginn ist ein
kleiner Staatsakt, zumal am Burgtheater
in Wien. Der neue Intendant, Martin
Kušej, wird an diesem Donnerstag mit
„Die Bakchen“ eröffnen, einem Klassiker
von Euripides, inszeniert von Ulrich Ra-
sche. Es wird Kušejs erste Spielzeit dort,
nachdem er vom Residenztheater in Mün-
chen nach Wien gewechselt ist. Der
Abend wird also mit einiger Spannung er-
wartet, es werden Sponsoren da sein und
Ehrengäste. Am Residenztheater wieder-
um, Kušejs vorheriger Arbeitsstätte, wird
es erst am 18. Oktober unter der neuen
Intendanz von Andreas Beck losgehen.
So ein Wechsel wird vom Theaterpubli-
kum ja so kritisch begleitet wie ein Trai-
nerwechsel von Fußballfans. So gesehen
haben die Spielzeiten doch größere Ge-
meinsamkeiten. dapf

(^4) MEINUNG Montag,9. September 2019, Nr. 208 DEFGH
FOTO: PRIVAT
BORIS JOHNSON


Völlig enthemmt


DEUTSCHLAND UND CHINA


Merkels Auftrag


AFGHANISTAN


Besser nicht mit Trump


GRÜNE


Schluss mit gemütlich


POLIZEI


Ungeeignet für den Job


Fraktion oder Fraktur sz-zeichnung: oliver schopf


KAMPF GEGEN DEN TERROR


Waffen reichen nicht


von georg mascolo


AKTUELLES LEXIKON


Spielzeit


PROFIL


Baadal


Nanjundaswamy


Der indische
Aktionskünstler
schuf Moonwalker

Der britische Premier schert
sich nicht um Recht und Gesetz.
Und das Volk applaudiert

Die Kanzlerin muss den Bürgern
sagen, was sie längst weiß: wie
sehr die Welt sich ändert

Den Krieg zu gewinnen,


kann einfacher sein, als


den Frieden zu sichern

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