Süddeutsche Zeitung - 09.09.2019

(C. Jardin) #1

Berlin – Am Sonntagabend war Annegret
Kramp-Karrenbauer zum Sommerinter-
view bei der ARD. Und ganz am Ende kam
die Frage, die die Parteichefin so unange-
nehm findet, dann doch noch. Es sei doch
ungewöhnlich, dass hier eine CDU-Vorsit-
zende sitze, die nicht auch Kanzlerin sei,
sagte die Moderatorin. Ob sie „bald in Dop-
pelfunktion wieder“ komme? „Wir haben
eine Kanzlerin und ich bin Verteidigungs-
ministerin – und das ist auch gut so“, ant-
wortete Kramp-Karrenbauer. Ob sie Kanz-
lerin könne?, fasste die Moderatorin nach.
Aber die CDU-Chefin wich noch einmal
aus. „Wir haben deutlich gesagt: Wir wol-
len diese Legislaturperiode zu Ende füh-
ren. Wir sind vertragstreu. Das ist die Auf-
gabe, wie ich sie auch als CDU-Vorsitzende
vor mir sehe – und daran arbeiten wir“, sag-
te Kramp-Karrenbauer.
Aber was soll sie auch sagen? Als CDU-
Chefin kann sie nicht auf den Anspruch ver-
zichten, Kanzlerin zu werden – ohne sich
dabei gewaltig zu schwächen. Auf der ande-
ren Seite sind ihre Umfragewerte derzeit
so schlecht, dass ein klares Ja auf die Fra-
ge, ob sie Kanzlerin könne, leicht als anma-
ßend wahrgenommen werden könnte.
Vor dieser Schlussfrage ging es in dem
Interview auch um Inhalte – naheliegen-
derweise vor allem um die Klimapolitik,
die AfD und den Wahlausgang im Osten.
Dabei bekräftigte Kramp-Karrenbauer ihr
Nein zu einer Zusammenarbeit mit der
AfD. Die CDU dürfe sich nicht mit der AfD
„in ein Bett legen, das hat in ganz Europa
noch für keine konservative Partei funktio-
niert“, sagte die Parteichefin. Die Wähler
der AfD müssten stattdessen durch konkre-
te Politik zurückgewonnen werden. Bei
den Wahlen in Brandenburg – aber auch in
Sachsen – habe die AfD zum Beispiel in
den Braunkohlerevieren stark abgeschnit-
ten. Dies sei „Ausdruck davon, dass mit
Blick auf den Braunkohleausstieg die Men-
schen zuerst einmal sehen, was sie verlie-
ren werden, aber noch nicht greifen kön-
nen, was statt dessen kommen soll“. Dort
müsse die CDU „konkrete politische Ant-
worten geben, damit kann man Menschen
wieder überzeugen“.


Eine Strafsteuer auf Flugtickets oder
ein Verbot von Ölheizungen lehnte Kramp-
Karrenbauer ab. Sie plädierte dafür, in der
Klimapolitik auch stark auf Anreize zu set-
zen. Die CDU wolle den Menschen lieber
helfen, sich mit einer Abwrackprämie eine
bessere Heizung anschaffen zu können,
sagte die Parteichefin. Außerdem sprach
sie sich dafür aus, die Mehrwertsteuer auf
Bahn-Tickets zu senken. Kramp-Karren-
bauer will auch extreme Billigflugpreise
verhindern. Wenn Ticketpreise nicht ein-
mal die gesetzlich vorgeschriebenen Abga-
ben widerspiegelten, sei das aus ihrer Sicht
„Öko-Dumping“. Sie halte es deshalb für
vernünftig „festzulegen, dass zumindest
das, was an staatlichen Abgaben aufs Flie-
gen kommt, sich auch in einem Ticket ab-
bilden muss“.
Trotz der Milliarden, die die geplanten
Klimaschutz-Maßnahmen der Bundesre-
gierung kosten werden, will Kramp-Kar-
renbauer am Ziel eines ausgeglichenen
Haushalts festhalten. „Ich glaube, dass die
schwarze Null als Ausdruck auch von soli-
der Finanzpolitik ein Prinzip ist, das wir
auf keinen Fall aufgeben sollten“, sagte sie.
Für Vorschläge, privates Kapital über eine
Klima-Anleihe, wie sie CSU-Landesgrup-
penchef Alexander Dobrindt vorgeschla-
gen hatte, oder über eine Stiftung zu akti-
vieren, um damit Klimaschutz-Maßnah-
men zu finanzieren, zeigte sie sich aber of-
fen. robert roßmann


Berlin – „Herzlich, Eure Kirsten und Euer
Cem“ steht unter dem Brief, der am Wo-
chenende die grünen Fraktionschefs aufge-
schreckt hat. Katrin Göring-Eckardt und
Anton Hofreiter stehen seit 2013 gemein-
sam an der Spitze der grünen Bundestags-
abgeordneten. Am 24. September steht die
Neuwahl des Fraktionsvorstands an – und
bisher schien es so, als ob erneut niemand
gegen die beiden antreten wird. Göring-
Eckardt und Hofreiter hatten bei der jüngs-
ten Wahl Anfang 2018 zwar ein ziemlich
schlechtes Ergebnis eingefahren. Und ver-
glichen mit Annalena Baerbock und Ro-
bert Habeck an der Parteispitze sieht die
aktuelle Fraktionsführung eher altbacken
aus. Aber die Zwänge der grünen Arithme-
tik (Frau/Mann – Linke/Realos) hatten
Göring-Eckardt und Hofreiter geschützt.
Doch damit ist es jetzt vorbei. Kirsten Kap-
pert-Gonther und Cem Özdemir haben
überraschend kundgetan, ebenfalls antre-
ten zu wollen. Unterschrieben haben „Eure
Kirsten und Euer Cem“ den Brief mit grü-
ner Tinte.
Den bisher so geschlossenen Grünen
steht damit eine schwierige Personalent-
scheidung bevor. Dass Özdemir Interesse
haben könnte, war zuletzt offenkundig.
Der 53-Jährige war – neben Göring-
Eckardt – Spitzenkandidat seiner Partei
bei der bislang letzten Bundestagswahl
und bis Anfang 2018 Grünen-Chef. In ei-
ner Jamaika-Koalition wäre er wohl gerne
Außenminister geworden. Lange war Öz-
demir der beliebteste Grünen-Politiker in
Deutschland – in seiner eigenen Partei ist
er dagegen für manche eine Reizfigur. Und
bis zu diesem Wochenende fehlte ihm eine
„linke Frau“ an seiner Seite. Formal wäh-
len die Grünen ihre Fraktionschefs zwar
einzeln. Aber ohne passende Doppelpart-
nerin hätte Özdemir praktisch keine Chan-
ce. Seine Lage ähnelt damit der von Olaf
Scholz in der SPD.
„Wir sind überzeugt davon, dass ein fai-
rer Wettbewerb der Fraktion gut tut – nach
außen wie nach innen“, schreiben Kappert-
Gonther und Özdemir in ihrer Bewerbung.
Bis zur nächsten Bundestagswahl gehe es
darum, auch als kleinste Fraktion im Parla-
ment „mit neuem Schwung der Gegenpol
einer schwachen Regierung zu sein“. Die
Fraktion sei am „schlagkräftigsten“, wenn
jeder und jede „eine aktive Rolle über-
nimmt und die eigenen Stärken auch aus-

spielen kann“. Zusammenarbeit solle nicht
„Zuarbeit aus fein parzellierten Kleingär-
ten“ sein, sondern „ein gemeinsames
Einstehen für miteinander entwickelte Pro-
jekte“. Das wurde auch als Kritik am Stil
des bisherigen Führungsduos verstanden.
Kappert-Gonther und Özdemir stellen in
ihrem Brief außerdem klar, dass sie im
nächsten Wahlkampf keine Spitzenkandi-
datur anstreben – aber dafür gelten ohne-
hin Baerbock und Habeck als gesetzt.
„Wir treten gemeinsam als Team an,
weil wir um unsere unterschiedlichen Stär-
ken wissen“, schreiben Kappert-Gonther
und Özdemir. „Unsere unterschiedlichen
Herkunftsgeschichten, unsere unter-
schiedlichen Erfahrungen aus einem Rot-
Grün-Rot regierten Stadtstaat und einem
Grün-Schwarz regierten Flächenstaat brin-
gen wir gemeinsam ein.“
Kappert-Gonther war sechs Jahre lang
Abgeordnete in der Bremischen Bürger-
schaft, bevor sie 2017 in den Bundestag ge-
wählt wurde. In der Grünen-Fraktion ist
die Fachärztin für Psychiatrie und Psycho-
therapie Sprecherin für Drogenpolitik und

für Gesundheitsförderung. Seit den 80er-
Jahren engagiert sich die 52-Jährige gegen
Atomkraft und Rüstung.
Özdemir stammt dagegen aus Baden-
Württemberg. 1994 zog er als erster Abge-
ordneter türkischer Herkunft in den Bun-
destag ein. Von 2004 bis 2009 saß er im EU-
Parlament. Seit 2013 ist er wieder Bundes-
tagsabgeordneter, derzeit leitet er den
Verkehrsausschuss. In diesem Amt fühlt
Özdemir sich aber offenkundig unterfor-
dert. Wer bei der nächsten Bundestags-
wahl Fraktionschef ist, ist dagegen automa-
tisch aussichtsreicher Anwärter auf ein Mi-
nisteramt. Außerdem schadet ein heraus-
gehobener Posten nicht, wenn man sich
dereinst vielleicht als Nachfolger von Win-
fried Kretschmann als Ministerpräsident
in Baden-Württemberg bewerben will.
Wie groß die Chancen von Kappert-
Gonther und Özdemir sind, lässt sich noch
nicht klar abschätzen. Göring-Eckardt
und Hofreiter machten aber schon mal
deutlich, dass sie trotz der Herausforderer
erneut kandidieren werden.
robert roßmann  Seite 4

von christian wernicke


Essen – Wer begreifen will, was Jörg Sartor
antreibt, der muss mit ihm dorthin gehen,
wo er herkommt. Nach Altenessen, in jenes
Arbeiterquartier, in dem dieser bullige
Rentner einst das Laufen lernte. „Da drü-
ben hab’ ich als Kind gewohnt“, sagt der
63-Jährige und zeigt auf eine dreckig-
graue Hauswand, „Nummer 484, unten
rechts.“ Hinter den Fenstern fehlen die Gar-
dinen, fast alle Wohnungen des Häuser-
blocks im Essener Norden stehen leer. Bald
kommt der Abrissbagger.
Zweihundert Meter weiter werden die
Fassaden zwar bunter. Nur, Sartors Miene
hellt das nicht auf. Er sieht, was war – und
was nicht mehr ist. Vorne links lockte frü-
her ein Kino, da ist der Ein-Euro-Laden ein-
gezogen. Wo einst gehobene Haushaltswa-
ren im Schaufenster lagen, stehen heute
vier Dutzend Shisha-Pfeifen. Und das
Stammlokal des Vaters ist nun ein Nagel-
Studio. „Nichts ist mehr da – kein deut-
scher Metzger, kein Bäcker, keine Kneipe“,
brummt der pensionierte Bergmann. Nie
ist er weggezogen aus Altenessen – und
doch klingt er wie ein Heimatvertriebener.

„Stimmt“, sagt Sartor und streicht sich
nachdenklich übers Doppelkinn, „so fühle
ich mich häufig, wenn ich durch meinen
Stadtteil gehe.“ Er spricht leise.
Laut, geradezu dröhnend hat Jörg Sar-
tor nun geschrieben. All seinen Frust und
Zorn hat er herausgebrüllt. Und abgerech-
net, auf 224 Seiten, die am Montag als
Buch erscheinen: „Schicht im Schacht“ ist,
laut Untertitel, gemeint als Streitschrift
über „Verarmung, gescheiterte Integrati-
on, gespaltene Gesellschaft“ in Essen, im
Ruhrgebiet, ja eigentlich überall.
Jörg Sartor nutzt seinen Promi-Bonus:
Anfang vorigen Jahres hatte der Vorsitzen-
de der Essener Tafel mit der Entscheidung,
fünf Monate lang keine Ausländer mehr
als Neu-Kunden zuzulassen, bundesweit
hitzige Debatten ausgelöst. Genau da
macht er jetzt weiter. „Ich bin das Enfant
terrible, an dem sich die Geister der Repu-
blik erregten“, kokettiert Sartor im Vor-
wort.
Sartor nennt sich selbst „einen Boller-
kopp“. Einen, der mit dem Kopf durch die
Wand will. Anders kann er’s nicht. Für
Selbstzweifel ist in seinem Buch deshalb
kein Platz. Damals wie heute rechtfertigt

der Tafel-Chef sein Vorgehen mit dem Ver-
weis auf die verängstigte deutsche Oma,
die sich in der Warteschlange vor der Le-
bensmittelausgabe nicht länger der Vor-
drängelei junger Männer aus dem Nahen
Osten oder Osteuropa aussetzen wollte.
Was ihm Kritiker aus der Ferne als Rassis-
mus und Diskriminierung auslegten, ver-
teidigt Sartor als Notbremse: Der vorüber-
gehende Aufnahmestopp für Menschen oh-
ne deutschen Pass habe nur „die Balance
wiederhergestellt“ zwischen Deutschen
und Ausländern. Heute liege man stabil im
Gleichgewicht, bei etwa fifty-fifty.
Keine Reue also. Im Gegenteil, jede Auto-
fahrt durch Altenessen bestätigt ihm seine
Deutung der Welt: „Wir haben die Zuwan-
derung nicht gesteuert, wir haben neue
Ghettos zugelassen.“
Sartor parkt vorm Klinkerbau der alten
Grundschule, dort drinnen hat er einst
selbst das ABC gelernt. Weil da heute zu
neunzig Prozent Schüler mit Migrations-
hintergrund in den Klassen sitzen, würden
deutsche Eltern ihre Kinder lieber außer-
halb des Stadtteils einschulen. Was zu viel
sei, sei eben zu viel. Weshalb Sartor nun
auch hier empfiehlt, per Quotierung den

Ausländeranteil zu drücken: „Warum de-
ckeln wir da nichts?“ Der Tafelchef weiß
zwar, dass Stadt und Staat ans Gleichheits-
gebot des Grundgesetzes gebunden sind.
So freihändig wie sein privater Hilfsverein
darf keine Behörde einen Aufnahmestopp
für Ausländer verfügen. Dennoch, Sartor
glaubt an sein Mittel zum Zweck: „Denn
dann kommen auch wieder mehr Deut-
sche. Freiwillig!“
Sartor fährt weiter. Sein VW rollt durch
die frühere Zechensiedlung, in der sich vie-
le Türken ihr Eigenheim gekauft und her-
gerichtet haben. Oma, Mutter und Tochter
kommen vom Einkauf, alle drei tragen
Kopftuch. „Das wird zum Ghetto“, sagt Sar-
tor, „aber es wird ein ordentliches Ghetto.“
Weiter geht’s, vorbei an verfallenen Häu-
sern, in denen vor 35 Jahren die ersten
Großfamilien aus dem Libanon unterka-
men: „Heute wohnen da Bulgaren, das
sind die Ärmsten.“ Sartor kennt die Neu-
bauten, in denen nur noch Hartz-IV-Emp-
fänger leben. Es wurmt ihn, dass die katho-
lische Gemeinde am Karlsplatz demnächst
die Kirche am Karlsplatz abreißt. Damit, so
sagt er, „fällt eine letzte Bastion gegen den
Islam im Essener Norden.“

Manchmal, so räumt er ein, plage ihn
schlichte Nostalgie. Die alte Kumpel-Selig-
keit, das Gemeinschaftsgefühl – alles verlo-
ren. Jeder mache auf privat, „auch wir
Deutschen haben uns verändert“.
Sartor biegt ab. Durch die Scheibe zeigt
er auf eines der vielen Geschäfte, das den
neureichen, weil kriminellen Clans zuge-
schrieben wird: „Der Laden ist fast immer
leer, die machen keinen Umsatz“, sagt Sar-
tor und tippt sich an die Stirn, „das dient
nur zu Geldwäsche, das weiß hier jeder.“
Er sei, so schreibt der Tafel-Chef zu Be-
ginn seines Buchs, „traurig und zornig zu-
gleich“ über die Zustände in seiner Hei-
mat. Das beschreibt er eindrücklich, dazu
hat er zusammen mit dem Journalisten
Axel Spilcker als Co-Autor viele Zahlen aus
Studien zusammengetragen. Nur, meist be-
gegnet dem Leser allein der Wutbürger Sar-
tor: Der prangert an, poltert gegen Politi-
ker, polemisiert gegen Kritiker aus der eige-
nen Tafel-Bewegung. Er habe eben „die-
sen Gerechtigkeitsfimmel“, sagt er. Ganze
Kapitel durchzieht ein empört-aggressiver
Grundton – und besonders schrill klingt
Sartor, sobald er sich die SPD vornimmt.

Seine SPD. Bis 2018, bis zur Tafel-Affä-
re, hat Sartor die Genossen gewählt. Die So-
zialdemokraten waren immer da, gefühlt
hatten sie allzeit und überall die Macht: im
Land, im Rathaus, sogar zu Hause. Als jun-
ger Bergmann und Steiger hat sich Sartor
an seinem Vater abgekämpft, der es dank
SPD und IG Bergbau bis zum Personaldi-
rektor einer Zeche gebracht hatte. „Auf
Blut und Wasser gezankt“ habe er sich mit
dem Senior, erzählt Sartor im Gespräch:
„Für mich waren SPD und Gewerkschaft
damals auch nur welche von denen da
oben. Die kungelten, die dachten nur an
sich.“ Dennoch, am Ende gab auch der Juni-
or den Roten stets brav seine Stimme.
Vorbei. Bei der Europawahl im Mai wähl-
te Sartor CDU. Die SPD-Spitzenkandidatin
Katarina Barley hatte – damals noch Justiz-
ministerin – 2018 als eine der ersten Politi-
kerinnen seinen Aufnahmestopp ver-
dammt. „Diese Balalay“, sagt Sartor, „nee,
das ging ja nicht.“
Damit nicht genug. Sartor macht die Ge-
nossen (die er im Buch ab und an „Parteige-
nossen“ schimpft) für den Niedergang sei-
ner Heimat verantwortlich. Er wirft er den
Sozialdemokraten vor, all jene auszugren-
zen, die die sozialen Probleme ansprächen.
Manch einer sei deshalb zur AfD gegan-
gen, darunter auch der heutige EU-Abge-
ordnete Guido Reil: „Der ist ’ne Hohlbirne,
aber der ist von der SPD in die AfD getrie-
ben worden.“ Das Argument, er selbst avan-
ciere zum Kronzeugen der extremen Rech-
ten, lässt Sartor nicht gelten: „Quatsch!
Wer die Probleme benennt, gräbt der AfD
das Wasser ab.“
Am Ende seines Buches entwirft der Ta-
fel-Mann, der sich selbst einen „sozialen
Ausputzer am unteren Ende der Klassenge-
sellschaft“ nennt, einen knappen Plan für
den „Aufbau West“. Für eine Wiederbele-
bung des Ruhrgebiets, mit Grundrente,
Schuldenerlass, ja sogar „einer staatlich fi-
nanzierten Job-Maschine“. Was offenbart,
wie viel SPD, trotz alledem, noch immer in
ihm steckt. Er kann nicht anders.

Eigentlich war die Tagesordnung des
OrtsbeiratesWaldsiedlung recht unspek-
takulär, als das Gremium am 5. Septem-
ber zusammen saß. Es ging auch um die
Wahl eines neuen Ortsvorstehers, denn
der Posten war schon seit Wochen unbe-
setzt. Diese Wahl sorgt nun allerdings da-
für, dass der hessische Ort mit 2500 Ein-
wohnern in der Gemeinde Altenstadt,
Wetteraukreis, bundesweit Schlagzeilen
macht. Die sieben anwesenden Mitglie-
der wählten den stellvertretenden NPD-
Landesvorsitzenden Stefan Jagsch ein-
stimmig zum Ortsvorsteher. Bundespoli-
tiker von CDU, SPD und FDP zeigen sich
entsetzt, dass Parteifreunde von ihnen ei-
nen Politiker der rechtsextremen Partei
wählten. Nun versuchen die Lokalpoliti-
ker zu erklären, wie es dazu kam.

„Wir arbeiten für die Bürger, nicht für
die Parteien“, begründet Norbert Szielas-
ko (CDU) am Sonntag seine Wahl für den
NPD-Mann Jagsch. Dieser habe sich im-
mer für die Bürger des Ortsteils enga-
giert und etwa bei Müllsammlungen mit-
gemacht. Dass Jagschs Name mehrfach
in den vergangenen Jahren im hessi-
schen Verfassungsschutzbericht auf-
tauchte, interessiert den 71-Jährigen
nicht. „Er arbeitet gut mit bei uns im
Ortsbeirat.“ Es habe außerdem keinen
anderen Kandidaten gegeben, der das
Amt habe übernehmen wollen. Er selbst
habe sich nicht zur Wahl gestellt, da er et-
wa keine E-Mails schreiben könne. Der
vorherige Ortsvorsteher, Klaus Dietrich
(FDP), hatte Ende Juni sein Amt nieder-
gelegt.
Ali Riza Agdas, der für die SPD im Orts-
beirat sitzt, stimmte ebenfalls für den
NPD-Mann. Er sei von der Wahl etwas
überrascht worden, ursprünglich habe
er mit einem anderen Kandidaten ge-
rechnet, habe aber dann aus Mangel an
Alternativen für Jagsch gestimmt: „Ich
kenne ihn schon lange und habe nie ein

Problem mit ihm gehabt.“ Im Nachhin-
ein habe er sich allerdings geärgert, dass
er sich zu der Wahl habe hinreißen las-
sen. Er sei auch von SPD-Kollegen und
Bürgern angerufen worden, die ihn ge-
fragt hätten, warum er so gewählt habe.
Das habe ihn so sehr beschäftigt, dass er
über einen Rücktritt aus dem Ortsbeirat
nachgedacht habe. Am Sonntagabend
sollte sich, so hieß, das Gremium noch
einmal zusammensetzen und über das
weitere Vorgehen beraten.
Jagsch hatte sich in der Vergangen-
heit immer wieder negativ über etablier-
te Parteien geäußert. In einem Facebook-
Beitrag der NPD Wetterau vom 8. August
wird er mit den Worten wiedergegeben,
die AfD würde sich bei den „Systempar-
teien anbiedern“. In einem Fragebogen
des Hessischen Rundfunks zur Landtags-
wahl 2013 wird Jagsch mit der Aussage zi-
tiert: „Eine Koalition würde mit keiner
der etablierten Parteien in Frage kom-
men, da sie mit ihrem Verhalten den
Volkstod fördern und teilweise auch
noch öffentlich propagieren.“
Darauf angesprochen sagt Jagsch, zu
diesen Aussagen stehe er weiterhin. Auf
lokaler Ebene gehe es aber um ganz an-
dere Themen. Dass er sich von Vertre-
tern eben jener Parteien wählen ließ, die
er sonst so hart kritisiert, sei deshalb
kein Widerspruch: „Hier geht es nicht
um Parteipolitik.“
Nach Bekanntwerden des Falls ist die
Empörung groß. So forderte SPD-Gene-
ralsekretär Lars Klingbeil, die Wahl wie-
der aufzuheben. „Die SPD hat eine ganz
klare Haltung: Wir kooperieren nicht
mit Nazis! Niemals!“, schrieb Klingbeil
am Samstagabend auf Twitter. CDU-
Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer
forderte im ARD-Sommerinterview, die
Wahl müsse „auf jeden Fall“ rückgängig
gemacht werden. Die Kreisvorsitzende
der CDU Wetterau und der Vorsitzende
der CDU Altenstadt reagierten in einer
gemeinsamen Erklärung „mit Entsetzen
und absolutem Unverständnis“. Der
Kreisverband der Grünen in der Wetter-
au sprach von einem „Blackout der De-
mokratie“. v. dornis, k. lottritz

Berlin – Union und SPD wollen nach lan-
gem Ringen den Einsatz der Bundeswehr
im Kampf gegen die Terrormiliz Islami-
scher Staat voraussichtlich vorerst weiter-
führen. Die einzelnen Teile des Mandats
sollen aber in unterschiedlichem Maße ver-
längert werden. Die Ausbildungshilfe für
Sicherheitskräfte im Irak und die Beteili-
gung deutscher Soldaten an den Nato-Flü-
gen mitAwacs-Aufklärungsmaschinen sol-
len ein Jahr lang bis zum 31. Oktober 2020
weitergeführt werden, wie eine Sprecherin
der Unionsfraktion und der SPD-Verteidi-
gungspolitiker Karl-Heinz Brunner sag-
ten. Das Mandat für die Aufklärungsflüge
deutscherTornado-Jets von Jordanien aus
und für ein Tankflugzeug für die Luft-Luft-
Betankung von Kampfflugzeugen soll
aber bereits am 31. März enden. Der kom-
missarische SPD-Fraktionschef Rolf Müt-
zenich hatte sich lange gegen eine Verlän-
gerung, für die auch Außenminister Heiko
Maas geworben hatte, gesperrt. Er sagte
nun, die Regierung müsse ein Mandat erar-
beiten, die SPD werde es danach „prüfen
und politisch bewerten“. dpa  Seite 4


Annegret Kramp-Karrenbauer, CDU-Che-
fin undVerteidigungsministerin. FOTO: DPA


Guten Morgen, liebe Sorgen: Der Essener Tafelchef Jörg Sartor stand Anfang 2018 in der Kritik, als er Ausländern zeitweise den Zutritt verwehrte.FOTO: ROLAND WEIHRAUCH/DPA


Eine Herausforderung für die Grünen: Mit Kirsten Kappert-Gonther strebt Cem Öz-
demir an die Fraktionsspitze. FOTOS: CHRISTIAN SPICKER/IMAGO, SOEREN STACHE/DPA

„Blackout der Demokratie“


Wieein NPD-Funktionär Ortsvorstand in Hessen wurde


Anti-IS-Mandat


soll verlängert werden


DEFGH Nr. 208, Montag, 9. September 2019 (^) POLITIK HF3 5


Bollerkopp mit Gerechtigkeitsfimmel


Jörg Sartor, umstrittener Chef der Essener Tafel, hat ein Buch über gescheiterte Integration in Deutschland
geschrieben. Unterwegs mit einem zornigen Mann, der sich in seiner Heimat als Vertriebener fühlt

„Hier geht es nicht um
Parteipolitik“, sagen alle
Beteiligten, auch der NPD-Mann

„Wir sind


vertragstreu“


Der Frage, ob sie Kanzlerin könne,
weicht die CDU-Chefin aus

Den Niedergang lastet er
der SPD an – trotzdem hat er
sie selbst bis zuletzt gewählt

Ein Duo verspricht neuen Schwung

Özdemir und Kappert-Gonther kandidieren überraschend für Grünen-Fraktionsvorsitz

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