Die Zeit - 12.09.2019

(singke) #1

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Eigentlich hat Marco Reus das Zeug zum Exzentriker. Er
ist einer der besten und fantasievollsten Angriffsspieler
seiner Generation. Aber abseits des Feldes scheut er jeden
Auftritt. Es falle ihm, so sagt er, viel leichter, vor 80.000
Menschen Fußball zu spielen, als vor ein paar Hundert
Menschen zu sprechen. Und wenn Reus schließlich doch
spricht, vermeidet er es, »ich« zu sagen. Er sagt lieber »du«.
Etwa so: »Du hast im Spiel nur Sekundenbruchteile Zeit,
Entscheidungen zu treffen.« Oder: »Mit massiver Kritik
umgehen – das kannst du nicht mit 20, 23, 25. Das kannst
du erst mit 28, wenn du Tiefen gehabt und überstanden
hast. Es hilft auch, dass du zu schätzen weißt, welches
Glück du hast, in diesem Beruf arbeiten zu können.«
Je länger man ihm gegenübersitzt, desto mehr festigt sich
der Eindruck: Das ist keine sprachliche Marotte, sondern
seine Art der Bescheidenheit und Großzügigkeit. Aus »ich«
wird »du«: Er stellt, was er erlebt hat, als Material zur Ver-
fügung, damit wir uns in seine Lage versetzen können – als
spielten wir mit ihm in einer Liga. Es hat ihn in seiner Lauf-
bahn weit hinaufgetragen, aber er vermittelt seinen Fans mit
der abwinkenden Sachlichkeit eines gebürtigen Dortmun-
ders, dass es sich dort oben nicht wesentlich anders lebt als
unten in der Masse. Der Schauplatz unseres Gesprächs passt
zu dieser Haltung: Wir treffen uns zur Mittagszeit in einem
italienischen Restaurant am gänzlich unglamourösen Rand
Dortmunds, er spielt für den örtlichen BVB. Von den Kell-
nern wird er als Stammgast begrüßt und nicht, wie andere
Spieler seiner Klasse in solchen Situationen es gern hätten,
als ein König, der seinem Hofstaat die Ehre erweist.
Überschuss, Reichtum, Leichtigkeit – all das zeigt sich bei
Reus auf dem Platz. Abseits des Spiels ist er Lakoniker.
Einer, der schon mit dem skeptischen Schleifklang seiner
Stimme sagt: Lass mal die Kirche im Dorf. Was zeichnet seine
Auftritte aus? Das Übermütige, fast Arglose eines Artisten,
den das Wechselspiel von Ballverlust und Ballkontrolle nie-
mals langweilt. Er ist ein angreifender Spielgestalter, ein soge-
nannter hängender Stürmer. Und er ist ein Genussspieler, der
schon aufgrund seiner Schnelligkeit etwas von einem Gejag-
ten, einem Verfolgten hat. Zuschauer beobachten seine Läufe
mit jener Mischung aus Freude und Sorge, mit der man einen
Schützling begleitet, um dessen Gesundheit man bangt.
Marco Reus ist sehr oft durch Verletzungen aufgehalten
worden. Das bewirkt beim Publikum die paradoxe Wahr-
nehmung, es handele sich bei ihm, der ja schon 30, also ein
Senior des Gewerbes ist, um ein aufstrebendes Talent. Die
Verletzungen warfen ihn nicht nur zurück, sie bewahrten
ihm, so scheint es, auch seine Unschuld. Er ist ein Kan-
didat für Weltauswahlen, der es aber nie dorthin geschafft
hat. Man könnte ihn, in Anspielung an einen großen Pop-
Gitarristen, den Jeff Beck des Fußballs nennen – er ge-
nießt in Fachkreisen höchsten Respekt, hat es aber nie in
die Riege der Superstars geschafft. Und warum nicht? Weil

er unmittelbar vor der WM 2014 schwer gefoult wurde, in
einem belanglosen Länderspiel. Ein paar Stunden später
flogen seine Teamkameraden ohne ihn nach Brasilien und
kamen fünf Wochen später als Weltmeister zurück. Er
musste das Turnier in Schonhaltung als Fernsehzuschauer
verfolgen und sehen, wie bei der Siegerehrung die Spieler
sein Trikot in die Kameras hielten. Er wurde in Rio als
Abwesender gefeiert – was ihn zugleich gerührt, aber auch
zu einem sehr verlassenen Mann gemacht haben muss:
ein Beinahe-Weltstar auf der einsamen Insel, gestrandet
in den eigenen vier Wänden. Seitdem gibt es in der Fuß-
ballöffentlichkeit den Impuls, Reus trösten und zu einem
Weltmeister der Herzen küren zu wollen.
Ein wesentlicher Teil des Reus-Mythos speist sich aus der
Kostbarkeit seiner Auftritte. Der scheue Mann zeigt sich
kaum auf der Lichtung eines großen Turniers, wie bei der
vom Bundestrainer total vercoachten WM 2018 in Russ-
land. Bis hinein in die gegnerischen Lager bedauerte man
Reus dafür, dass er als Angehöriger dieser missorganisierten
Truppe mit unterging. Die Briten zum Beispiel halten viel
von ihm, sie erkennen in ihm den hellsten Repräsentan-
ten jenes blitzhaften Angriffsfußballs, den Jürgen Klopp
in Dortmund geübt und in Liverpool perfektioniert hat;
man nennt ihn dort »Rolls Reus«.
Und dann seine Schnelligkeit! Natürlich ist REUS ein tol-
ler, ihn genau fassender Fußballername, ein Laut wie eine
Stichflamme, der es den Radio- und TV-Reportern erlaubt,
einen angemessenen Schrei auszustoßen, wenn er in den
Strafraum eindringt. Er gilt als taktisch brillanter, voraus-
denkender, lernfähiger Spieler, der seine Gegner studiert,
während er Zweikämpfe mit ihnen führt. Sieht er sich wäh-
rend des Spiels selbst, von oben? Als Figur auf dem Feld?
»Man kann sich nicht fünf Sekunden Zeit nehmen, um
mal gedanklich in die Vogelperspektive zu gehen. Aber
wenn man in einer gewissen Situation einen Fehler macht,
speichert man die Erfahrung ab und kann daraus für die
nächste seine Lehre ziehen. Der Tanz mit dem Gegen-
spieler: Er hat sich nach links weggedreht, also gehe ich
nächstes Mal rechts vorbei. So was macht man instinktiv.«
Wenn man seine Dribblings in Zeitlupe sieht, erkennt man
darin tatsächlich das zweckfrei Tänzerische, die Freude am
Patt, aber natürlich entscheidet sich hier schon, wer gleich
führen und wer geführt und vorgeführt werden wird.
Herr Reus, Sie können Ihren Gegenspieler durch winzige
Körperbewegungen aus der Balance bringen. Wie groß ist
die Versuchung, den anderen zu demütigen? »Ich bin kei-
ner, der einen Gegenspieler demütigen will. Das ist eine
Sache des Respekts. Natürlich hast du Spielertypen wie
Neymar, die versuchen, dich zu überlupfen, dich schlecht
aussehen zu lassen« – und nun wechselt er doch vom Du
in die Ich-Form –, »da wären mir auch die Konsequenzen
egal, den würd ich einfach umhauen ... ganz ehrlich.« Er

Von Peter Kümmel

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