Die Zeit - 12.09.2019

(singke) #1
lacht. »Das war natürlich ein Scherz. Ich glaube, Neymar
will auch keinen demütigen. Das ist halt seine Art zu zei-
gen: Ich komm sowieso an dir vorbei. Ich kann machen,
was ich will, also probier ich mal was anderes aus – weil der
normale Weg für ihn vielleicht zu langweilig ist.«
Große Spiele sind hochpolitische Angelegenheiten. Das
Champions-League-Finale 2018 zwischen Real Madrid
und dem FC Liverpool hatte das Zeug dazu, alte spanisch-
englische Aggressionen aus der Zeit der Seeschlachten
wieder aufleben zu lassen. Es gab darin einen Zweikampf
zwischen Sergio Ramos (Real Madrid) und Mo Salah (FC
Liverpool), nach dem Salah verletzt ausgewechselt werden
musste. Das sah sehr nach Absicht von Ramos aus. Frage
an Marco Reus: Wie verarbeitet man Rache- und Angst-
gefühle gegen einen Spieler wie Ramos? »Ob es Absicht war
oder nicht, kann keiner wissen. Fakt ist: Er hat Mo hart
attackiert, so den besten Spieler rausgenommen und somit
auch einen Teil zum Gewinn des Champions-League-Finales
beigetragen. Aber als Mannschaft denkt man nicht: Das
müssen wir dem jetzt heimzahlen. Du versuchst dich auf
andere Art und Weise zu rächen, durch Zusammenhalt der
Mannschaft und durch Tore für den Sieg.« Rache durch
Brillanz: Typisch für Marco Reus ist die Leichtigkeit in der
Aggression. Er beherrscht die Kunst, seine Schüsse lapidar
aus dem Fußgelenk herauszupeitschen. Das Makellose der
Kraftumsetzung ist berauschend, die Winkel, aus denen er
Tore erzielt, sind teilweise absurd spitz – er spielt, als sei
alles ein toller, nicht ganz ernst gemeinter Zauber.
Wenn man ihn nach den Namen der Fußballspieler fragt,
die er für die sieben größten hält, kommt, nach kurzem
Nachdenken: »Pele. Maradona. Beckenbauer würd ich
schon dazuzählen. Messi. Ronaldo. Zidane. Van Basten
fand ich auch nicht schlecht. Einen will ich on top noch
nennen: Andrés Iniesta.« Iniesta, der schmächtige, schwer-
mütige Katalane, der einst mit Xavi die Schaltzentrale, ach
was: das Mittelfeld-Perpetuum-Mobile des FC Barcelona
gebildet hat. Wie schön wäre es gewesen, Iniesta und Xavi
hätten einmal mit Reus in einer Mannschaft gespielt. Sie
hätten sich blind verstanden. Xavi, scheinbar unbeteiligt im
Zentrum des Getümmels, immer anspielbar, der am Erfolg
der eigenen Mannschaft gar nicht interessiert zu sein schien:
Wie aus Verlegenheit schnipste er den Ball in den nächsten
sich öffnenden Raum, in den zuverlässig Iniesta schon hi-
neingeflitzt war. Marco Reus wirkt wie eine Synthese aus
Xavi und Iniesta. Er hat ihre zielstrebige, lässige Zuversicht:
als Vorbereiter und Vollstrecker in einem.
Je länger man mit Marco Reus spricht, desto klarer wird,
dass es in seinem Leben darum geht, sich spielend aus
schwierigen Lagen zu befreien. Er muss immerzu versperrte,
von Gegenspielern überfüllte Räume durchqueren, Fallen
erkennen, Barrikaden überwinden. Das gilt auf dem Spiel-
feld und auch, in einem vielleicht noch anstrengenderen
Maß, im sogenannten richtigen Leben. Dieses Leben ver-
teilt sich auf diverse Quarantäne- und Schutzgebiete (Trai-

ningsplatz, Verein, Hotels, Lieblingsitaliener, eigenes Heim,
Flughäfen), zwischen denen er in Mannschaftsbussen oder
in Limousinen mit getönten Scheiben unterwegs ist.
Anmerkung zum Stand der Dinge: Reus hat im August
2016 die Fahrprüfung bestanden, nachdem er jahrelang
ohne Führerschein unterwegs gewesen war. Die Geschich-
te wird an ihm hängen bleiben, auch sie ist Teil der Reus-
Legende. Warum hat dieser öffentliche Mann so etwas
Verstohlen-Dämliches, Eigensinniges und kindlich Ratloses
gemacht? Vielleicht wollte er einfach, so schnell wie mög-
lich, seinen Luxus spüren? Denn das Auto ist ja der Ort, an
dem ein junger Profi in aller Öffentlichkeit allein sein und
seine glänzenden Lebensaussichten genießen kann. Reus
war früh allein unterwegs, ohne sich den Zwang von Fahr-
stunden (also die Abhängigkeit von noch einem Trainer)
zuzumuten. Er war auf der Straße sein eigener Trainer –
grob fahrlässig, aber offenbar ohne Unfälle zu bauen. Zu
seinen Gunsten könnte man sagen: Er weiß sich instinktiv
und unfehlbar zu bewegen, auf einem Fußballfeld wie im
Verkehr. Und er hat eine hohe Strafe gezahlt: 540.000 Euro,
90 Tagessätze seines Gehaltes.
Zu Reus’ fehlender Exzentrik gehört auch, dass er die
eigene Stadt nicht als einen Ort darstellt, den man so
schnell wie möglich verlassen sollte. So machen es ja die
anderen begabten Spieler seiner Generation: Sie sprechen
vom »nächsten logischen Karriereschritt«, wenn sie nach
London oder Madrid oder Manchester gehen, ihre Bio-
grafien lesen sich wie Fluchten ins Große. Reus ist der
Sohn eines Betriebsschlossers und einer Bürokauffrau, er
stammt aus Dortmund-Körne, der BVB ist sein Jugend-
verein, den er als 16-Jähriger verlassen musste, weil man
ihn als zu schmächtig und zu wenig robust empfand. Also
ging er nach Ahlen in die dritte Liga und von dort zu Bo-
russia Mönchengladbach. Um schließlich, als verlorener
Prinz, 2012 nach Dortmund zurückzukehren. Er hätte zu
Real Madrid, zum FC Barcelona oder zu Paris St. Germain
wechseln können, aber er blieb in seiner Heimatstadt. Weil
er, wie er sagt, glücklich sein müsse, um mit freiem Kopf
Fußball zu spielen: »Es kann auch eine Sache des Mutes
sein, zu bleiben und an einem Ort was aufzubauen.«
Was wird er nach seiner Karriere tun? »Noch mal 15 oder
20 Jahre in diesem Business zu arbeiten, mit dieser Öffent-
lichkeit, als Trainer oder als Manager, das ist eher nicht
meins. Ich will auch die andere Seite des Lebens kennen-
lernen und Dinge tun, die ich nie tun konnte: also richtig
reisen, nicht so wie wir, die wir immer nur zwei Tage an
einem Ort sind. Es gibt noch so so viele Sachen, die man
noch erleben möchte. Dazu braucht man Zeit.«
Es könnte sein, dass er am Ende keinen einzigen »großen
Titel« gewonnen haben wird; nie Weltmeister, Champions-
League-Gewinner, Europameister oder Deutscher Meister
geworden ist. Aber selbst dann wird man sich an ihn als
einen der Größten erinnern. Vielleicht sogar gerade des-
halb. Er hat Titel gar nicht mehr nötig.

Er beherrscht die Kunst, seine Schüsse lapidar aus dem Fußgelenk herauszupeitschen


Jacke von Herno, Hose von Dior Men

12 .9.19 N^0 38

Foto-Assistenz

Beda Schmid; Grooming

Birte Krause / 21Agency; Set-Design

Leonardo Papini
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