Die Zeit - 12.09.2019

(singke) #1

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An einem Sonntagmorgen in Reggello, eine Autostunde
südöstlich von Florenz. In einem alten Bauernhaus liegt
der Duft von Zwiebeln, Lorbeer, Wein und Rosmarin in
der Luft. Franca Sodi, 80, rührt gleich in drei Töpfen: Im
ersten köchelt ragù di cinghiale, Wildschwein-Ragout.
Im zweiten Wildschwein dolceforte, Geschmacksrichtung
süß-sauer, mit Schokolade, Rosinen, Pinienkernen und
kandierten Früchten. Und im dritten cinghiale al latte,
Wildschwein mit Steinpilzen in Milch und Weißwein. Die
Rezepte stammen noch von Sodis Großmutter.
In der Toskana bereiten sie Wildschwein das ganze Jahr
über zu, und es heißt, es sei so einfach und köstlich, dass
es einem selbst an lauen Sommerabenden nicht schwer im
Magen liege. »Du musst wissen, was du tust, vor allem
aber musst du warten können«, sagt Franca Sodi, während
sie Rotwein, der aus den Trauben hinterm Haus gekeltert
ist, in Gläser schenkt.
Die Deutschen braten ihr Wildschwein gewöhnlich im
Ofen, meist im Winter, wobei es häufig zu trocken gerät
und sie es deshalb zur Sicherheit in schwerer brauner Sauce
ertränken. Kann man dem wunderbaren Fleisch seinen Ge-
schmack auf raffiniertere Weise entlocken, als man es hier-
zulande gewöhnlich tut? Wer mehr über das kulinarische
Geheimnis des Wildschweins erfahren will, muss deshalb
nach Italien reisen. Dort kommt er ins Grübeln über das
merkwürdige Verhältnis der Deutschen zum Wildschwein.
Der Deutsche Jagdverband meldete für die Jagdsaison
2017/18 den Abschuss von 840.000 Wildschweinen, so
vielen wie nie zuvor. In Restaurants und Läden aber findet
man das Fleisch so gut wie nie. Dabei müssten gerade jene,
die auf nachhaltig erzeugte Lebensmittel Wert legen, eigent-
lich begeistert Wildschwein essen. Das Fleisch könnte viele
ökologische Sehnsüchte erfüllen: Die Tiere leben in der Na-
tur, ernähren sich ohne künstliches Futter und ohne Soja,
das Umweltschützer für die Abholzung des Regenwalds in
Südamerika mitverantwortlich machen. Wer Wildschwein
isst, unterstützt nicht die viel kritisierte Massentierhaltung.
Warum nur verschmähen die Deutschen es dann?
Die Suche nach einer Antwort führt zu Wildschwein-
Experten und Händlern, die alles dafür tun, das Wild-
schweinfleisch populärer zu machen. Sie führt zu Metz-
gern und zu einer weiteren Köchin, die mit dem Fleisch
Verblüffendes anstellt – und am Ende an den Herd. Begin-
nen muss die Reise allerdings dort, wo das Wildschwein
zu Hause ist und für viele ein Problem darstellt: im Wald.
Wolfgang Kornder, 62, parkt seinen Wagen auf einem
Feldweg in einem Waldgebiet in der Nähe von Neustadt
an der Aisch. Kornder ist Vorsitzender des Ökologischen
Jagdverbands Bayerns und promovierter Theologe, haupt-
beruflich arbeitet er als Musik- und Religionslehrer. Er
sucht nach Spuren. Wildschweine wühlen gern tiefe Lö-
cher in die Erde, um an Engerlinge, Würmer und Wur-
zeln zu gelangen. Landwirte fürchten sie dafür ebenso

wie Dorf- und Stadtrandbewohner, denen die Tiere über
Nacht ihre Vorgärten umpflügen. In seinem Stück Wald
findet er nichts dergleichen. Wolfgang Kornder freut das –
er hat alles richtig gemacht.
»Als ich das Revier vor zehn Jahren übernahm, habe ich
gleich versucht, die Wildschweinbestände so intensiv wie
möglich zu regulieren«, sagt er. Sein Vorgänger hatte die Tie-
re gefüttert, um sie im Revier zu halten – so konnte er im-
mer wieder mal eins schießen und im Herbst schöne Treib-
jagden veranstalten. »Ich habe das Füttern sofort gestoppt,
aber Wildschweine merken sich so was.« Kornder schoss
jedes Jahr 10 bis 15 Tiere. Seit zwei Jahren hat er kein Wild-
schwein mehr gesehen. Es gehe aber nicht darum, sie aus-
zurotten, sondern die Bestände unter Kontrolle zu halten.
Die ökologisch orientierten Jäger, die sich 1988 zuerst in
Bayern gründeten, folgen dem Leitbild »Wald vor Wild«. Sie
begreifen die deutschen Forste vor allem als Biotope. Dem
Zustand des Waldes müssten alle anderen Interessen unter-
geordnet werden – vor allem die jagbaren Wildtierbestände.
Es gibt so viele Wildschweine, weil sie von vielen Jägern ge-
füttert werden und keine natürlichen Feinde haben. Wegen
der immer milder werdenden Winter finden sie im Wald
über das ganze Jahr Futter. Noch dazu bieten ihnen die rie-
sigen Raps- und Mais-Äcker, die heute die Landwirtschaft
prägen, sicheren Unterschlupf.
Jäger wie Kornder stellen den Wildschweinen auch nach,
um zu verhindern, dass die Afrikanische Schweinepest
Deutschland erreicht: eine für die Schweine unheilbare
Infektionskrankheit, die allerdings für Menschen ungefähr-
lich ist. Sie tötet jedes Tier, das sich ansteckt, egal ob wild
oder domestiziert. In vielen Ländern Osteuropas ist die
Seuche schon ausgebrochen, etwa in Polen und Ungarn.
Für die deutschen Schweinezüchter wäre ein Auftreten der
Seuche eine Katastrophe.
Wenn es gejagt wird, muss das Wildschwein im schlimms-
ten Fall vor seinem Tod einige nervenaufreibende – manche
sagen grausame – Stunden Treibjagd erleben. Im Vergleich
zur kurzen, oft qualvollen Existenz von Hausschweinen in
Massentierhaltung, die nie ihre natürlichen Instinkte ausle-
ben, weder im Boden wühlen noch sich im Schlamm suh-
len dürfen, geht es ihnen dafür ihr Leben lang ziemlich gut.
Als er noch Wildschweine schoss, sagt Kornder, habe er
vom Händler oft nur 50 Cent pro Kilo Fleisch bekommen,
»in der Decke« gewogen, also mit Knochen, Füßen und
Kopf. Wenn die Stücke das richtige Gewicht haben und
»sauber geschossen« sind, also von der Kugel unversehrt,
auch mal einen Euro.
Vor 15 Jahren bekam er noch vier, fünf Euro pro Kilo,
weil es damals noch nicht so viele Wildschweine gab. Die
Angst vor der Schweinepest hat die Preise weiter gedrückt.
Kornder rechnet vor: Überläufer – heranwachsende Tiere,
die keine Frischlinge mehr sind – wiegen zwischen 25 und
45 Kilo. Für ein solches Tier bekommt der Jäger heute oft

Von Ferdinand Dyck

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