Die Zeit - 12.09.2019

(singke) #1

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»Sie wollen wissen, wer ich bin? Dann sollten Sie nicht
mit mir reden.«
»Warum nicht?«
»Eines der besten Bücher, das ich jemals gelesen habe, heißt
Strangers to Ourselves. Der Psychologe Timothy Wilson er-
klärt darin, wie schlecht wir darin sind, uns selbst zu be-
schreiben. Wenn Sie wirklich etwas über mich erfahren wol-
len, dann müssten Sie mit Freunden, Weggefährten von mir
reden, im Zweifel wissen die viel besser, wer ich bin, als ich.«
»Mit wem sollte ich über Sie reden?«
»Ich verstehe, ich bin jetzt selbst schuld. Einer meiner engs-
ten Freunde ist Charles Randolph, ein Drehbuchautor. Er
hat einen Oscar gewonnen für den Film The Big Short.
Wenn Sie sich entscheiden müssten, sich mit mir über mich
zu unterhalten oder mit Charles über mich, sollten Sie sich
für Charles entscheiden. Er sieht mich objektiver, als ich es
je könnte. Er hat vermutlich einen verständnisvollen Blick
auf mich, aber er kennt auch meine blinden Stellen.«
Malcolm Gladwell, der Bestsellerautor, den die Londo-
ner Times gerade erst zum »berühmtesten Intellektuellen
Amerikas« ausgerufen hat, weiß, wie man Geschichten
erzählt. In seinen Büchern verbindet er meisterhaft und
auf unterhaltsame Art wissenschaftliche Erkenntnisse mit
überraschenden Anekdoten, die dafür sorgen, dass die Le-
ser danach die Welt mit anderen Augen sehen. In Verlags-
kreisen wird diese Methode mittlerweile mit dem Adjektiv
»gladwellian« beschrieben. Und als er an einem Dienstag
Mitte August rät, für dieses Porträt mit seinem Freund
Charles zu sprechen, weiß er noch nicht, dass er damit
dafür sorgt, dass auch dieser Text ein überraschendes Ende
haben wird – eines, das einen nicht die Welt verstehen
lässt, sondern Gladwell selbst.
Für die Begegnung mit ihm hatte seine Assistentin ein New
Yorker Gebäude von WeWork vorgeschlagen, einem Un-
ternehmen, das weltweit Büroflächen vermietet. Malcolm
Gladwells neue Firma hat dort Büroräume gemietet, Pushkin
Industries ist spezialisiert auf Podcasts, gegründet hat Glad-
well die Firma vor einem Jahr gemeinsam mit einem alten
Freund, dem Journalisten Jacob Weisberg. Der erfolgreichs-
te Podcast der Firma heißt Revisionist History, Gladwell ist
Autor und Gastgeber, er geht darin, wie er es selbst formu-
liert, »übersehenen oder vergessenen Dingen« aus der jünge-
ren Geschichte auf den Grund, von der Frage, warum Elvis
Presley den Song Are You Lonesome Tonight? nie fehlerfrei
singen konnte, bis zu dem Fall eines unbewaffneten Ame-
rikaners, der von einem Polizisten erschossen wurde.
Pünktlich steht Malcolm Gladwell im Besprechungszim-
mer, schüttelt einem die Hand, ein freundliches Lächeln
im Gesicht. Der 56-Jährige trägt eine dünne blau-gelbe
Jacke, Jeans und blaue Turnschuhe, er ist schlank, 1,75
Meter groß, schwarze Locken.
Er setzt sich in einen Sessel, faltet die Hände, das Gespräch
kann beginnen. Im September erscheint sein neues Buch
Talking to Strangers, die deutschsprachige Ausgabe heißt Die
Kunst, nicht aneinander vorbeizureden. Vor fast zwei Jahr-

zehnten ist sein erstes Buch Tipping Point erschienen, das
sich allein in den USA über zwei Millionen Mal verkauft
hat. Seitdem wurde Gladwell als »Pop-Psychologe« (Sunday
Times) und als »globales Phänomen« (Observer) beschrieben.
Mittlerweile, erzählt er lachend, werde er oft zuerst als
Podcaster vorgestellt, nicht mehr als Autor. »Es ist wirklich
lustig«, sagt er. Es sei für ihn eine »späte Karriere«, mit der
er nicht gerechnet habe. »Die Reichweite von Podcasts ist
gigantisch. Wir sind mit allen Folgen bei über 100 Millio-
nen Downloads für alle vier Staffeln. Ich habe zwar einige
Millionen Bücher verkauft, aber natürlich keine 100 Mil-
lionen. Ich merke, dass eine ganze Generation mich aus-
schließlich als Podcaster kennt.«
Nach Lektüre seines neuen Buchs hat man den Eindruck,
dass das Podcasten seine Art zu schreiben verändert hat. Er
nickt. »Ja, ich schreibe anders als früher. Das neue Buch ist
das erste, nachdem ich vier Jahre lang Podcasts gemacht
habe, und Podcasts sind nun mal ein emotionales Medium.
Deshalb ist mein neues Buch mein emotionalstes. Podcas-
ten hat mich befreit.« Wie meint er das genau? »Ich habe
beim Schreiben die ganze Zeit an das Hörbuch gedacht.
Wenn man bei einem Podcast jemanden interviewt, hört
man die Stimme, in meinem neuen Buch verwende ich
deshalb auch öfter direkte Dialoge als früher. Ich hatte das
Hören immer im Kopf, fast so, als schriebe ich zuerst ein
Hörbuch.« Er spricht seine Leser auch öfter direkt an, wie
er es in seinem Podcast auch tut. »Ich bin überrascht da-
von, wie sehr das Podcasten meine Art zu denken verändert
hat.« Sogar das Denken? »Ja. Beim Podcasten geht es ja viel
stärker um den Moment, den man gemeinsam erlebt, auch
das Unvorhergesehene. Man gibt als Autor Kontrolle ab,
das hat etwas Befreiendes.«
Die Podcast-Folge über Elvis Presley und seinen Schwierig-
keiten, Are You Lonesome Tonight? fehlerfrei zu singen, ist
deshalb auch eine seiner liebsten. Das eigentliche Thema
der Folge sind Freudsche Versprecher, woher sie kommen
und was sie bedeuten. Während eines Interviews für den
Podcast verspricht sich Gladwell plötzlich selbst. Eigentlich
will er sagen, dass er an Freudschen Versprechern »interes-
siert« sei, sagt aber, er mache »sich Sorgen« – und kommt
so plötzlich darauf, dass er offenbar selbst auch Angst vor
ihnen hat. Angst davor, die Kontrolle zu verlieren. Dann
verspricht sich auch noch der Sänger Jack White, ein Elvis-
Verehrer, den Gladwell gebeten hat, Are You Lonesome
Tonight? zu spielen, während der Aufnahme – ungeplante,
glückliche Momente eines Podcasters.
In Gladwells neuem Buch geht es darum, wie wir Menschen
miteinander kommunizieren. Gladwell fragt sich, was per-
sönliche Begegnungen wirklich wert sind, zumindest wenn
Fremde einander zum ersten Mal begegnen, die nicht in der
Lage sind, das Verhalten des anderen richtig zu interpretie-
ren. Viel zu leichtfertig, so seine These, würden wir uns auf
den persönlichen, oft oberflächlichen Eindruck einer ersten
Begegnung mit Fremden verlassen und daraus zu schnell
Rückschlüsse auf den Charakter des anderen ziehen.
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