Die Zeit - 12.09.2019

(singke) #1

W


enn an diesem Donnerstagnach-
mittag Mario Draghi die neueste
Entscheidung der Europäischen
Zentralbank verkündet, wird wie-
der viel von den Waffen der EZB
geschrieben werden. Von ihrem Arsenal, das wahl-
weise gut gefüllt oder ziemlich leer sei, von Pfeilen
im Köcher, von Pulver, das verschossen sei. Die
Kriegsmetaphorik ist verwunderlich. Denn die Auf-
gabe einer Notenbank ist ja nicht Krieg, sondern sein
Gegenteil: Ruhe, Gefasstheit, der bedachtsam da-
hinplätschernde Fluss der Wirtschaft. Ihr oberster
Auftrag ist es, nicht zu übertreiben, sondern die
Übertreibungen, zu denen die Geldwirtschaft neigt,
einzuhegen. Sie soll gerade nicht krass sein, sondern
das Geld stabil halten, am besten noch die Konjunk-
tur ausbalancieren, ausgleichend, ja: langweilig sein.
In Zeiten der Finanz- und Euro-Krise war es viel-
leicht für kurze Zeit ein wenig anders. Aber in halb-
wegs gewöhnlichen Zeiten, wenn keine scharfe Krise
ausbricht, ist die Notenbank kein Ort für Gewagtes.
Deshalb sorgte es schon vorab für Aufsehen, was
EZB-Präsident Mario Draghi jetzt vorhat. Er hat die
Erwartung geweckt, dass die EZB an diesem Donners-
tag ein großes Programm vorlegt, die Zinsen noch
einmal senkt und womöglich wieder mehr Anleihen
kauft – etwas, das die EZB gerade erst gebremst hatte.


In welchen Krieg zieht Mario Draghi da gerade?
Es ist nicht zu erkennen. Vielmehr könnte die
Entscheidung – wenn sie denn so kommt wie an-
gedeutet – Draghis erster echter Fehler werden. Und
das ausgerechnet kurz vor seinem Abschied von der
Spitze der EZB Ende Oktober.
Es gibt drei Gründe, die Sache skeptisch zu sehen.
Erstens kriselt es bislang nirgends in Europa so heftig,
dass ein Programm zur Konjunkturrettung logisch
erscheint. Zweitens werden die negativen Folgen der
Niedrigzinspolitik immer deutlicher sichtbar: Banken
hadern mit den Negativzinsen, der Immobilienmarkt
in deutschen Städten ist überhitzt.
Entscheidend ist aber der dritte Punkt: Es ist immer
fraglicher, ob die Notenbank mit dem, was sie tut,
überhaupt noch viel bewirkt. Zentralbanker und Öko-
nomen weltweit zweifeln zunehmend daran, dass
beispielsweise Zinssenkungen in Niedrigstzins- und
Negativzins-Zeiten noch in der Lage sind, Impulse zu
geben, die der Wirtschaft einen Schub verschaffen.
Das Horrorbeispiel ist Japan, wo die Notenbank sogar
Aktien kaufte und trotzdem keine Dynamik entstehen
mochte. Die große Sorge ist, dass Europa in einer Lage
endet, in der die EZB zwar die halbe Wirtschaft kon-
trolliert, es aber trotzdem mau läuft. Wozu dann der
Eingriff, der ja auch Märkte verzerrt, Anleger ver-
drängt, Preisblasen erzeugt?

Es geht dabei nicht nur um Draghi, sondern um
die ganze öffentliche Debatte rund um die EZB. Sie
ist von zwei Lagern geprägt, die sich immer kompro-
missloser gegenüberstehen. Draghi, der Retter, oder
Draghi, der Totengräber. Dazwischen gibt es nicht
mehr viel. Den einen gilt jeder EZB-Kritiker als
Populist, den anderen jedes EZB-Lob als Verrat am
Geld der Deutschen. Was macht man aber, wenn die
Fronten verhärtet sind (hier ist die Kriegsmetaphorik
ausnahmsweise angebracht), sich aber die Lage ändert?
Viele tun in einer solchen Situation gar nichts. Deshalb
werden die größten Fehler oft in derartigen Konstel-
lationen gemacht. Lagerdenken befördert die Gefahr,
dass gar nicht mehr nachgedacht wird.
Die Hoffnung ist, dass ein paar Notenbanker und
Ökonomen sich zwischen die Fronten wagen und eine
Debatte anstoßen. Nein, die EZB ist nicht allmächtig.
Derzeit ist sie eher ohnmächtig. Es wäre ein großer
Schritt, wenn Notenbanker sich die eigene Ratlosigkeit
eingestehen würden, auch öffentlich. Damit würde
der Druck auf Politik und Unternehmen steigen, die
wirtschaftlichen Schwierigkeiten selbst anzugehen. Die
EZB als alleiniger Reparaturbetrieb des Kapitalismus,
das funktioniert nicht dauerhaft. Ob Draghi solche
Offenheit wagt? Angedeutet immerhin hat er so etwas
schon. Falls nicht, wäre das vielleicht etwas für seine
Nachfolgerin Christine Lagarde.

Ohnmächtige Notenbank


WIRTSCHAFTSKOMMENTAR

Die Europäische Zentralbank ist mit ihren Mitteln zur Rettung der Wirtschaft an ihre Grenzen gestoßen.
Es ist Zeit, dass ihre Führung sich das öffentlich eingesteht VON LISA NIENHAUS

Fotos: Foto Huebner/dpa; action press (r.)

Marx für den


Kiosk


2013 hatte der französische Ökonom Thomas Piketty einen


Bestseller gelandet. Jetzt kommt die Fortsetzung VON GEORG BLUME


Die Europäische
Zentralbank in Frankfurt

D


er neue Piketty ist 1200 Seiten
stark. Kein Roman, kein
Thriller. Pure Ökonomie und
Sozialwissenschaft. Trotzdem
wird der weiße, auch auf dem
Cover unbebilderte Band an diesem Donners-
tag in jeder französischen Bahnhofsbuch-
handlung neben den aktuellen Bestsellern
liegen. Warum? Er ist eben ein Piketty. Er
trägt den Titel Capital et Idéologie (Kapital
und Ideologie).
Dröge Titel sind für diesen Autor typisch.
Dem Absatz haben sie bisher keinen Abbruch
getan: Über 2,5 Millionen Mal verkaufte sich
sein erster 1000-Seiten-Aufsatz Das Kapital des


  1. Jahrhunderts aus dem Jahr 2013. Er wurde
    in 40 Sprachen übersetzt. Nun kommt, was der
    Verleger Seuil in Paris »die Fortsetzung« nennt.
    Ist der Erfolg also gewiss? Kommt die »Piketty-
    mania« (The Guardian) zurück, die vor ein paar
    Jahren vor allem britische und US-amerikani-
    sche Universitäten eroberte?
    Damals luden die Berater von US-Präsi-
    dent Barack Obama den französischen Autor
    Thomas Piketty ein. Bill Gates sprach über
    Skype mit ihm. Die Protestbewegung Occu-
    py Wall Street applaudierte. Und in China
    verkaufte sich sein Buch 600.000-mal.
    Dabei ließen sich Pikettys erste tausend
    Seiten auch kurz zusammenfassen: zu der
    mathematischen Formel r > g. Oder ausge-
    schrieben: Die Kapitalrendite ist größer als
    das Wachstum. In Vulgärsprache übersetzt
    soll das bedeuten: Wer erbt, verdient mehr als
    derjenige, der arbeitet. Piketty erkannte darin
    »den zentralen Widerspruch des Kapitalis-
    mus«. Und obwohl es hier und da Einwände
    gab, hielt die These der Kritik stand.
    Piketty hatte in bisher nie vollbrachtem
    Umfang Datenmengen in seine Computer
    eingespeist, die r > g über Jahrhunderte hin-
    weg belegten. Seine Erkenntnis daraus laute-
    te, dass die Ungleichheit im Kapitalismus
    ständig wächst, die Schere zwischen Arm und
    Reich sich immer weiter öffnet. »Wir haben
    versagt! Das ist die grausame Erkenntnis aus
    der Langzeitentwicklung, die Thomas Piketty
    belegt hat. Wir müssen das einräumen«, kom-
    mentierte das beispielsweise der französische
    Finanz- und Wirtschaftsminister auf einer
    Konferenz mit Piketty im Januar 2015. Sein
    Name: Emmanuel Macron.
    Ob der heutige französische Präsident nun
    als Erster zum neuen Piketty greift? Er wird
    es sich jedenfalls nicht anmerken lassen.
    Denn mittlerweile liegen
    Präsident und Autor im
    bitteren Streit miteinan-
    der. Piketty wirft Macron
    inzwischen regelmäßig
    vor, ohne viel Gespür
    sozial ungerechte Ent-
    scheidungen zu treffen.
    Und das Macron-nahe
    Pariser Wochenmagazin
    L’Obs fragt zum Erschei-
    nen des neuen Buchs:
    »Predigt Piketty in der
    Wüste?« So hätte es der
    Präsident wohl gern.
    Doch zu Capital et
    Idéologie lässt sich zumin-
    dest eines sagen: Es ist für
    den Laien viel leichter
    lesbar als das Vorgänger-
    Werk. Diesmal geht es
    Piketty nicht mehr um
    den Beweis wirtschafts-
    mathematischer Formeln,
    sondern um die Möglich-
    keit des Menschen, das
    vermeintlich Unvermeid-
    liche im Kapitalismus zu steuern.
    Dafür erweiterte Piketty sein Blickfeld:
    Hatte er sich zuvor noch weitgehend auf die
    historische Entwicklung der Einkommens- und
    Besitzverhältnisse in den USA, Großbritannien
    und Frankreich konzentriert, bezieht er nun
    auch andere Länder und Kontinente, insbeson-
    dere Indien, Brasilien und die kolonialen afri-
    kanischen Sklavenhalter-Gesellschaften, ein. Er
    interpretiert dabei die Datensammlungen von
    etwa hundert Forschern aus 80 Ländern, die sich
    zu dem von ihm begründeten Datenverarbei-
    tungsprojekt WID (World Inequality Database)
    zusammengeschlossen haben. Und stellt doch
    jedes Mal fest, wie hartnäckig die Besitz-
    verhältnisse widerstehen: Etwa wenn viele
    Staaten bei der Befreiung der Sklaven deren
    Eigentümer entschädigen und nicht etwa die
    unterdrückten Sklaven.
    Trotzdem ist der neue Piketty viel optimis-
    tischer als der alte. Denn dieses Mal sieht sich
    der Autor die Geschichte der letzten 300 Jah-
    re an, um Alternativen und Auswege zu zei-
    gen. Dabei stößt er nicht zuletzt auf Deutsch-
    land. »Die Vorschläge, die ich zum partizipa-


tiven Sozialismus und sozialem Föderalismus
mache, sind nicht zuletzt von deutschen Er-
fahrungen inspiriert, insbesondere vom Er-
folg der deutschen Mitbestimmung«, ant-
wortet Piketty auf eine Mail-Anfrage der
ZEIT, wo denn für ihn der entscheidende
Bezug seines Buchs zu Deutschland liege.
Tatsächlich heißt es dort auf Seite 590: »In
einem Kontext, in dem die Bezugnahme auf
das deutsche Wirtschaftsmodell zum Ende
der 2000er- und Beginn der 2010er-Jahre all-
gegenwärtig war, und zwar aus guten Grün-
den, wurde es für die französischen Aktionäre
und Unternehmer immer schwieriger, die
Mitbestimmung abzulehnen und zu erklären,
dass die Teilnahme von Angestellten im Auf-
sichtsrat nur zu Chaos führen könnte.«
Piketty will nicht anklagen oder vergrau-
len. Er will den Kapitalismus nicht wie Karl
Marx als apokalyptische Ausbeutungs-
geschichte beschreiben, eher schon als Ge-
schichte der verpassten Möglichkeiten, ihn
stärker zu kontrollieren. Ebendeshalb sind
für ihn die Jahre 1945 bis 1950 in Deutsch-
land interessant, in denen die Mitbestim-
mung begründet wird, während die Linke in
anderen westlichen Ländern am doktrinären
Staatskapitalismus festhält.
Deshalb wundert er sich auch über die
englischen Kolonialherren, die sich in Indien
die kastenbasierten Besitzverhältnisse zu eigen
machen, statt sie neu zu ordnen. Jedes Mal
hätte die Geschichte auch ganz anders ver-
laufen können. »Diese Welt im Fluss bedeu-
tet, dass alles noch möglich ist. Dass die Kri-
sen, die wir heute überall erleben, nicht die
unvermeidliche Folge der Zerstörung des im-
pliziten Vertrags zwischen Gewinnern und
Verlierern der Globalisierung sind, dass sie
nicht Vorbote einer neuen Katastrophe sein
müssen«, schreibt Esther Duflo, Wirtschafts-
professorin am Massachusetts Institute of
Technology (MIT), für die Pariser Zeitung Le
Monde über das Buch.
Duflo steht Piketty nahe. Ihr Spezialgebiet
ist die Armutsbekämpfung. Gilbert Cette da-
gegen, Wirtschaftsprofessor an der Univer-
sität Aix-Marseille, ist in Frankreich der
Vordenker der liberalen Arbeitsmarktrefor-
men Macrons. Cette ist ein scharfer Kritiker
Pikettys: »Seine Forschung macht einen ge-
sellschaftlichen Schnitt zu einem bestimm-
ten Zeitpunkt, berechnet die Ungleichheit
und vergleicht sie anschließend mit einer
anderen Zeit. Das übersieht die soziale Mo-
bilität.«
Cette kritisiert etwa,
dass Piketty in der Perio-
de zwischen 1980 und
2018 ein großes An-
wachsen der Ungleich-
heit in den USA feststellt
und ein düsteres Bild
zeichnet – ausgerechnet
für eine Zeit, in der Bill
Gates und andere Vor-
reiter von der US-West-
küste das Wirtschaften
neu erfanden. Aber auch
er hält Pikettys Arbeit
deshalb nicht für falsch.
Er attestiert dem neuen
Buch »eine historische
Recherche von unglaub-
lichen Reichtum«, die
auf den »umfangreichs-
ten Studien zur Un-
gleichheit basiert, die es
auf der Welt gibt«.
Die Welt der Politik
hat es da mit Piketty un-
gleich schwerer. Kaum
war er Präsident, schuf Macron als eine seiner
ersten Maßnahmen die französische Ver-
mögenssteuer ab, die seither nur noch auf
Immobilien erhoben wird. Für Piketty war
das ein Schwerverbrechen. Darauf verweist
der letzte Teil von Capital et Idéologie: Der
Autor untersucht hier mit hohem Aufwand
und dem Einsatz von Big-Data-Techniken,
wie sich die sozialdemokratischen Parteien
des Westens von Vertretern kleiner Leute
zu Anwälten gehobener Wohlstandsschichten
entwickelten.
Er erklärt so, warum sie für eine Vermö-
genssteuer kaum zu haben sind. Piketty nennt
diese Parteien die »Brahmanen-Linke«, also
Angehörige der höchsten Kaste, ohne dabei
auch nur einen Namen von deren führenden
Vertretern zu nennen. Nicht mal den seines
von ihm verschmähten Präsidenten.
Das aber ist die hohe Kunst Pikettys. Er legt
es nicht aufs Verprellen an, benennt aber die
Brüche des Kapitalismus im 21. Jahrhundert.
Dafür gibt es ihn auch neben allen anderen im
Bahnhofskiosk. Nächstes Jahr auch in deutscher
Übersetzung.

Thomas Piketty wird von vielen seiner
Kollegen auch wegen aufwendiger
historischer Forschung gerühmt

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