genommen würde. Und wo keiner die Schwachen
schützt, lohnt es sich natürlich schon, auf das
Mittel der Einschüchterung zu setzen. Da wird es
zum handfesten Vorteil, wenn man in einem gro-
ßen, schweren Auto sitzt, das wie ein Raubtier
aussieht. Auch der Golf hat heute nicht mehr
seine kugelrunden Scheinwerfer, sondern blickt
böse aus Augenschlitzen, und er wiegt fast dop-
pelt so viel wie in den Siebzigerjahren.
Es stimmt natürlich, dass auch Radfahrer und
Fußgänger rücksichtslos sind und sich nicht an
die Regeln halten. Ihre Verstöße sind aber nur in
seltenen Fällen lebensgefährlich beziehungsweise
nur für sie selbst.
Vielleicht ist meine Straßenecke auch wieder
mal ein Symptom der legendären Berliner
Wurschtigkeit. Einem Polizisten, mit dem ich
nach dem Unfall sprach, habe ich gesagt: Sie
wussten doch, dass diese Kreuzung gefährlich
ist, jeder wusste es. Seine Antwort: Der Rosen-
thaler Platz ist noch viel gefährlicher. Da kann
man ihm nur zustimmen. Der Rosenthaler Platz
liegt einen Kilometer weiter, und als Fußgänger
und Radfahrer sollte man ihn meiden, wenn
man kann.
Mehrere Tage und den Druck der Öffentlich-
keit brauchte es, bis an der Unfallstelle eine Be-
helfsampel aufgestellt wurde, sodass die Fußgän-
ger sich nicht länger in Lebensgefahr begeben
müssen, wenn sie über die Straße wollen. Auch
das, sagt der Polizist, sei unüblich, normalerweise
brauche so was zwei Wochen.
Aber als ich dieser Tage mit einer Freundin in
München telefoniere, erzählt sie mir von einem
Facebook-Post der Polizei. Da stand am Tag der
Einschulung der Erstklässler diese Woche: »Wir
empfehlen, das Tempolimit vor Schulen nicht zu
ignorieren.«
»Verkehrsregeln sind also ein Serviervorschlag«,
resümiert meine Freundin.
Und ein Unfallforscher hat das Fahrverhalten
in verschiedenen deutschen Großstädten unter-
sucht, er ist zu dem Schluss gekommen, dass es
die Hamburger Autofahrer sind, die im Schnitt
am wenigsten auf Geschwindigkeitsbeschrän-
kungen geben. Über die Hälfte fährt in 30-
Stundenkilometer-Zonen deutlich zu schnell. Es
scheint kein Berliner Problem zu sein.
Was ist so schwer daran, dem Auto in der
Stadt Einhalt zu gebieten? Offenbar ist die Sorge
groß, dass die Autofahrer ihre Zeit vergeuden,
wenn zum Beispiel die Ampelphasen für Fuß-
gänger verlängert würden, damit diese nicht
über die Straße rennen müssen. Aber warum
sollte nur die Zeit der Autofahrer so wertvoll
sein?
»Es könnten plötzlich Kinder auf die Fahr-
bahn rennen und euer zügiges Vorankommen
hindern«, schreibt die Münchner Polizei weiter in
ihrem Post. Warum in Gottes Na-
men ist es nicht andersherum?
Dass die Autos nämlich die Kin-
der behindern, genauer gesagt be-
drohen. Sollte es darum gehen,
wer zuerst da war: Das waren ja
wohl eindeutig die Kinder.
Die Unfallforschung hat genau
ausgerechnet, dass der Mensch
gegen das Auto ab Tempo 36 kei-
ne Chance mehr hat. Trotzdem
gibt es 50er-Zonen dort, wo sich
auch Fußgänger bewegen. Keine
Ahnung, wie die Rechtfertigung
dafür lautet.
Die enge Verbindung des
Deutschen zu seinem Auto
Das Auto aber muss seine Privile-
gien in der Stadt gar nicht recht-
fertigen. Soweit ich weiß, ist genau
das die Definition von Macht.
Ich habe auch schon von der
angeblich so engen Verbindung
des Deutschen zu seinem Auto
gehört. In der FAZ stand diese
Woche ein Leitartikel, der den
Besuch der gegenwärtig statt-
findenden Automesse in Frank-
furt als »Zeichen für Freiheit und
gegen Bevormundung« empfahl.
Aber vielleicht gibt es auch eine
viel banalere Erklärung dafür,
dass die Autos die Städte do-
minieren: Eine übermotorisierte
Autofahrerschaft trifft auf eine
vollkommen ausgedünnte Poli-
zei.
Viele Polizisten schauen schon
gar nicht mehr hin, wenn jemand
zu schnell fährt oder beim Fahren
telefoniert, macht nur Arbeit und
kostet Zeit, die sie nicht haben,
so sagte es mir ein ranghoher Be-
amter der Berliner Polizei, den
ich nicht zitieren darf. Die Ver-
kehrsüberwachung ist praktisch
nicht möglich.
Wir schreiben Anträge an die
Verkehrslenkung, sagt der Beam-
te, das ist eine politische Behörde
des rot-rot-grünen Senats. Deren
Antwort lautet oft, solange nichts
passiert ist, müssen wir auch
nichts ändern und geben wir
kein Geld aus. Da komme man
sich auch blöd vor als Polizist.
Meine Kreuzung gilt nun seit
Freitagabend als Unfallschwer-
punkt.
Bei Redaktionsschluss am
Dienstagabend war vieles unklar
zum Hergang des Unglücks. Wa-
rum zog der Beschuldigte auf die
Gegenfahrbahn? Warum raste er
gerade auf den Bürgersteig zu?
Hatte er einen epileptischen An-
fall, wie seine Mutter behauptet,
die auf dem Beifahrersitz mit-
fuhr? Und wenn ja, wusste er von
seiner Krankheit?
Relativ sicher ist sich die Poli-
zei, dass der Fahrer auf kurze
Distanz auf 90 Stundenkilome-
ter beschleunigt hat. Die vier
Fußgänger, die er tötete, hatten
überhaupt keine Chance auszu-
weichen. Der Ampelpfosten und
die Poller hielten den 2,5-Ton-
nen nicht stand. Ein Geschoss
von einem Auto. Treibminen im Menschen-
meer. Ein unkalkulierbares Risiko für andere
darzustellen – das gehört offenbar auch zu den
Privilegien des Autos.
Gehe ich aus dem Haus und biege nicht nach
links Richtung Unfallstelle ab, sondern nach
rechts, liegt dort schon die nächste große Straße.
Vier Spuren, Tempo 50, das nicht nur nachts
permanent überschritten wird. Wer sich traut,
die Straße zu überqueren, muss mit wütendem
Gehupe und obszönen Gesten rechnen, damit
kein Zweifel aufkommt, wer hier das Sagen hat.
Aber die Stadt hat es gewagt, eine Straßenbahn-
linie einzurichten. Die steht zwar ständig im
Stau, weil sie sich die Straße mit den Autos teilen
muss – eine eigene Trasse war undenkbar. Dass
sie aber da fährt, wo eigentlich Straße sein soll-
te, scheint einer Provokation gleichzukommen.
Die Autos halten einfach nicht, wenn die Fahr-
gäste ein- und aussteigen wollen. Die Tram bim-
melt dann jedes Mal. Ich kann es von meiner
Wohnung aus hören. Das Geräusch gehört zu
meiner Wohnung wie das Tröpfeln meines Was-
serhahns in der Küche. Ein lautes, empörtes,
hilfloses Bimmeln.
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uf der Straße lag ein abgeris-
sener Außenspiegel, wenn ich
mich richtig erinnere, oder ein
Stück von einem Kotflügel.
Ansonsten floss der Verkehr
normal, chaotisch wie immer,
nichts Ungewöhnliches. Was ist
denn passiert?, fragte ich die Frau hinter der Kasse
in dem kleinen Supermarkt an der Ecke.
Ach, hat mal wieder geknallt.
Das ist ein paar Jahre her. Es war nicht lange
nach dem Unfall, den ich selbst an dieser Kreu-
zung als Beifahrerin erlebt habe. Wir kamen
vom Gartencenter, den Kofferraum voller Pflan-
zen, es sah herrlich aus. Wir fuhren die Acker-
straße entlang, dann sah mein Freund nicht,
dass von rechts einer aus der In-
validenstraße kam. Der fuhr uns
in den Kotflügel. Wären wir
nicht so langsam gewesen, wäre
er in die Beifahrertür gefahren,
also in mich. Ziemlicher Schreck,
Polizei, aber gut, Glück gehabt.
Der Unfall vom Freitagabend
ist der dritte in den acht Jahren,
die ich hier wohne.
Ich stand daneben, als es pas-
sierte, an dem Brunnen in dem
kleinen Park, der direkt an der
Kreuzung liegt. Hinter mir die
Straße. Ich hörte, wie ein großer
Motor stark beschleunigte, dann
drehte ich mich halb um und sah,
wie der Porsche durch die Luft
flog. Das riesige dunkle Ding,
plötzlich leicht wie ein Ball. Ich
brauchte einen Moment, den An-
blick in meinem Gehirn zu einem
Sinn zusammenzufügen. Auch der
Schrei, den ich dann hörte – ich
verstand ihn nicht. War es ein
Kind, ein Erwachsener, schrien
mehrere oder nur einer? Er hörte
irgendwie nicht mehr auf. Ich
habe ihn jetzt noch im Ohr.
Um mich herum Jugendliche,
das sind die Skater, die hier immer
rumfahren, eigentlich noch Kin-
der, aber als Jugendliche verklei-
det, extrem coole Typen. Sie waren
kreidebleich.
Ich wollte nicht zur Unfallstel-
le, ich hatte mein Kind im Arm,
aber ich dachte, vielleicht muss ich
helfen, aber wie? Ich denke jetzt
noch, es wäre doch meine Pflicht
gewesen, hinzugehen.
Es war so ein schöner Abend,
Freitag, noch sommerlich warm,
viele Leute auf den Gehwegen, auf
dem Pappelplatz mit der leicht un-
gepflegten Grünanlage. Draußen
vor dem Späti saß man auf Ge-
tränkekisten beim Bier, die Berli-
ner Interpretation des Aperitifs.
Am Samstag, dem Tag nach
dem Unfall, wollte ich die Woh-
nung nicht verlassen, obwohl die
Sonne geschienen hat. Ich wollte
nicht wie sonst samstags in der In-
validenstraße meine Einkäufe ma-
chen, wo ich immer irgendeinen
Nachbarn treffe, um kurz zu re-
den, die ältere Frau mit dem Rol-
lator und ohne Zähne. Die Ver-
käuferin in dem Lebensmittelladen,
die immer von Kopf bis Fuß in
Pastell gekleidet ist. Ich bin dann
doch raus und habe Blumen an
die Unfallstelle gelegt. Jetzt ist da
ein Blumenmeer.
Kühlermasken, die an
gefletschte Zähne erinnern
Ich drehe mich jedes Mal um,
wenn ein Motor aufheult. Und
natürlich denke ich: Wenn ich
noch rübergegangen wäre zum
Weinladen, wie ich es vorhatte,
und nicht abgelenkt gewesen
wäre davon, dass mein Sohn im
Brunnen planschen wollte, hätte
ich dann genau dort gestanden
mit dem Buggy?
Aber mein Gefühl der Angst
wird dem Alltag weichen. Die
Statistik sagt: Die Zahl der getöteten Fußgänger
sinkt. SUV-Verbote werden gefordert, von der
Deutschen Umwelthilfe, von einigen Grünen-
Politikern, lese ich. Aber die Datenlage zeigt,
SUVs sind nicht häufiger in Unfallgeschehen ver-
wickelt als andere Autos. Offenbar verleiten sie
nicht zu unvorsichtigem Fahren und überhöhter
Geschwindigkeit.
Sie sehen vielleicht aggressiv aus, als wären sie
wütend auf jemanden, weil ihre Kühlermasken
immer größer werden und an gefletschte Zähne
erinnern und weil die Scheinwerfer gucken wie
aus zusammengekniffenen Augen. Aber für einen
Fußgänger ist es laut Studien egal, ob er von
einem SUV oder einem Kleinwagen angefahren
wird.
Meine Angst ist total irrational, denke ich.
Nicht grübeln. Weitermachen.
Und doch.
Am Blumenmeer treffe ich am Sonntag eine
Nachbarin mit ihrem Mann und ihrem Hund. Sie
seien vergangene Woche gerade bei der Polizei ge-
wesen, hier bei Abschnitt 31 in der Brunnenstraße.
Sie hätten gesagt, hier werde immer so gerast, ob
sie nicht etwas dagegen machen könnten? Sobald
es sich in der Invalidenstraße staut, biegen viele
Autos links in die kleinere Ackerstraße ab, um
dann mit 70 durch die Wohnstraßen zu rasen.
Und ja, SUVs können fast ohne Abbremsen über
die in den Boden eingelassenen Speedbumps
hinwegrauschen.
Okay, okay, habe der Polizist geantwortet. War
meinen Nachbarn natürlich klar, dass daraus
nichts folgen würde.
Wenn man im Auto oder mit dem Fahrrad die
Invalidenstraße quert, muss man sich langsam
vortasten, um auf die andere Seite zu gelangen.
Die Sicht ist meistens durch parkende Autos ver-
sperrt. Von beiden Seiten nähern sich Fahrräder,
Fußgänger, Straßenbahnen und Autos, Letztere
mit Tempo 50, mindestens. Man muss also hek-
tisch von rechts nach links blicken, hinter einem
hupt manchmal noch jemand, der findet, man sei
zu langsam. Purer Stress und reine Glückssache,
ob man es schafft.
Warum muss das so sein? Das frage ich mich
jetzt, vor diesem Trümmerfeld, die Ampellichter
im Rosenbeet verteilt, der Mast umgeknickt wie
ein Strohhalm, die unglaubliche Wucht vor Au-
gen, die jedes einzelne Auto hat, das sich hier
durch das Gewusel zwängt. Warum ist da kein
richtiger Fahrradweg? Warum müssen die Fahr-
radfahrer zwischen Tramschienen und Autotüren
balancieren? Warum ist da keine Ampelkreuzung,
sondern nur eine mickrige Fußgängerampel? Wa-
rum ist hier überhaupt Tempo 50?
Ich sollte dazusagen, dass ich das Autofahren in
Paris gelernt habe, und zwar in einer alten Merce-
des S-Klasse (war nicht mein Auto). Ich habe eine
gewisse Toleranz, was chaotische Verkehrsverhält-
nisse betrifft. Die Deutschen glauben gern von
sich, sie hätten alles überreguliert und könnten
quasi jetzt die Hände in den Schoß legen und mit
dem Regulieren aufhören.
Ich kann für meine Kreuzung sagen: Die ist
ganz sicher nicht überreguliert. Das ist Wilder
Westen, totale Regellosigkeit. Jeder soll sehen,
wie er klarkommt. Der Stärkere gewinnt, also das
Auto. Mir fällt kein anderer Bereich der Gesell-
schaft ein, in dem ein solcher Darwinismus hin-
Und plötzlich f log
der Porsche
Am vergangenen Freitag raste in Berlin-Mitte ein Auto in eine
Fußgängergruppe. Vier Menschen starben. Ich stand daneben.
Seither frage ich mich: Warum werden der Herrschaft des Autos in der
Stadt keine Grenzen gesetzt? VON ELISABETH RAETHER
An der Kreuzung war es schon
vorher immer wieder zu Unfällen
gekommen
Wie gefährlich sind SUVs?
Ein Pro und Contra im neuen
Ressort Streit, S.
Illustration: Oriana Fenwick für DIE ZEIT (verw. Foto: Paul Zinken/dpa/pa)
- SEPTEMBER 2019 DIE ZEIT No 38 POLITIK 3