Die Kraft der Offenheit
N
ach dem Putschversuch in
der Türkei vor drei Jahren
sollte Schluss sein mit
freier Kunst und Kultur:
Ausstellungen wurden ab
gesagt, Künstler verhaftet,
Istanbuls größte Galerie
musste schließen. In jüngster Zeit allerdings –
und vor allem nach dem überraschenden Wahl
sieg des Oppositionskandidaten Ekrem Ima
moğlu, der nun der neue Oberbürgermeister in
Istanbul ist – dreht sich der Wind am Bosporus
wieder. Während die Regierung in manchen
Regionen des riesigen Landes noch immer die
leisesten Regungen kulturellen Eigensinns un
terdrückt, dürfen in Istanbul, der Vorzeigeme
tropole, die Träume der liberalen RestBour
geoisie in den Himmel wachsen.
Schon lange war der Kunstherbst nicht mehr
so aufregend wie in diesem Jahr. Das neue große
ArterKunstmuseum der IndustriellenFamilie
Koç wird eröffnet, nachdem es lange angekün
digt war und die Eröffnung ebenso lange aus
undurchsichtigen Gründen verzögert wurde.
Zugleich beginnt die nicht kommerzielle, be
tont avantgardistische IstanbulBiennale, die in
diesem Jahr von Nicolas Bourriaud kuratiert
wird, einem der weltweit interessantesten Köpfe
der Kunstszene. Und auch die schillernde
Kunstmesse Contemporary Istanbul öffnet in
derselben Woche ihre Tore. Die drei haben sich
bewusst zusammengetan, gemeinsam will man
in die Offensive gehen.
Istanbul ist das Kraftzentrum der türkischen
Kunst und will es unbedingt bleiben, doch er
staunlicherweise tut sich auch einiges in der
Provinz, etwa im anatolischen Eskişehir, wo das
private OdunpazarıKunstmuseum seine Arbeit
aufnimmt. Eine echte Pioniertat des Sammlers
und Architekten Erol Tabanca, denn von weni
gen Ausnahmen abgesehen, herrscht in der
türkischen Provinz die große Kunstleere. Die
Menschen in der Provinz mit ungewohnten
Seh weisen herauszufordern, so wie es Tabanca
nun vorhat, könnte sich also als überaus sinnvoll
erweisen. Besser jedenfalls, als die Kunstblase
Istanbul immer weiter auszudehnen.
Der japanische Architekt Kengo Kuma hat
für Tabanca ein Ensemble riesiger Holzkuben
aus übereinandergestapelten Kantbalken ent
worfen, die an die HolzmarktTradition in
Eskişehir, diesem »Venedig der Türkei« mit
seinen Kanälen und Brücken, erinnern soll.
Und so wie überall, wo eindrucksvolle
Museumsbauten entstehen, hofft man auch
hier auf den BilbaoEffekt, auf ökonomischen
Aufschwung durch Kulturtourismus.
Obwohl zugleich die Autokratie des Recep
Tayyip Erdoğan immer islamischer wird, sind
weiterhin säkulare, moderne Projekte möglich,
das zeigt der Kunstboom dieses Herbstes auf
eindringliche Weise. Und manche sehen darin
ein Indiz dafür, dass die AKP, trotz ihres martia
lisch zur Schau gestellten Selbstbewusstseins,
die kulturelle Hegemonie im Lande keineswegs
erringen konnte. Erst im März des vorigen Jah
res hatte der grimmige Präsident eine Art
Gegenprojekt gestartet, um die Kulturszene
neu auszurichten. Unter dem Titel »Yeditepe«
(sieben Hügel), dem alten Namen Istanbuls, er
öffnete er in der säkularisierten Hagia Sophia
eine riesige Biennale traditioneller Künste, die
alles bot, was sich Konservative wünschen, von
Miniaturmalerei bis zur Kalligrafie.
Doch das Echo blieb verhalten, und die
Kunstszene in Istanbul zeigte sich nur wenig be
eindruckt. Sie blickt augenblicklich recht opti
mistisch in die Zukunft, zumal bereits im nächs
ten Jahr ein weiteres Kunst
museum seine Tore öffnen
wird, das Museum der Mimar
SinanUniversität, der akademi
schen Kaderschmiede der tür
kischen Kunst. Viel zu lange
hatte die Sammlung kein ei
genes Haus, jetzt wird der ge
waltige Neubau endlich been
det. Die Sammlung des Mimar
Sinan Resim ve Heykel Müzesi,
so der offizielle Name, umfasst
mehr als 15.000 Artefakte vom
- Jahrhundert bis heute, vom
Altmeister Osman Hamdi Bey
bis zu Pablo Picasso. Über ein
Jahrzehnt war diese großartige
Kollektion der Moderne, die
wichtigste in der Türkei, ge
schlossen. Umso größer die
Freude, dass ein Neubeginn be
vorsteht.
Das Istanbuler Architekten
büro Emre Arolat hat das Haus
im Stil eines offenen Betonras
ters mit eingehängten Contai
nern konzipiert, es entsteht auf
dem Gelände von Antrepo 5,
einem historischen Warenlager
im alten Istanbuler Hafen.
Viele Jahre war das Gelände die zentrale Spiel
stätte vieler IstanbulBiennalen und mit seinen
maroden Werkstätten ein Identifikationspunkt
der Szene. Kein Wunder also, dass sich just hier
die einflussreiche Industriellenfamilie Eczacıbaşı
ihr privates Kunstmuseum Istanbul Modern er
richtet hat.
2004 vom damaligen Ministerpräsidenten
Erdoğan höchstpersönlich eingeweiht, halten es
viele Touristen für das offizielle staatliche
Kunstmuseum Istanbuls. Dabei verdankt es
seine Existenz einer privaten Laune. Die umge
baute Lagerhalle ersetzt der italienische Starar
chitekt Renzo Piano gerade durch einen Neu
bau. Auch hier also: Wachstum und Aufbruch.
Für die von privaten Kunstsponsoren
domi nierte Szene bedeutet das MimarSinan
Haus mit seinen 11.000 Quadratmetern
Ausstellungs fläche eine echte Herausforde
rung. Weil es dann endlich zu einer produkti
ven Konkurrenz zwischen privaten und öffent
lichen Häusern um die Fragen kommen dürf
te: Was ist die Moderne, und was bedeutet das
kulturelle Erbe?
Der Chefkurator des staatlichen Museums
wird Vasıf Kortun sein, der als Vater der kri
tischen türkischen Kunst der Neunzigerjahre
gilt. Er bereitete heutigen Rebellen wie Halil
Altındere oder Gülsün Karamustafa den Weg.
1992 und 2005 schaffte der Kunsthistoriker,
der auch in den USA studierte, bei der Istanbul
Biennale kurzerhand die Länderpavillons ab.
Zuletzt leitete der launische Intellektuelle das
private Kunsthaus Salt in Istanbul, eine europa
weit einzigartige Institution an
der Schnittstelle von bilden
der Kunst, Architektur, De
sign, Archivwesen und Sozial
geschichte im Stammhaus der
ersten ottomanischen Bank an
der GalataBrücke.
2017 verließ Kortun das
Kunsthaus (es gab Spekulatio
nen über politischen Druck)
und zog sich nach Ayvalık zu
rück, einem Sommerrefugium
der Istanbuler Intelligenz an der
Ägäis. Fortan zettelte er als
Chairman der New Yorker
Foundation for Arts Initiatives
eine weltweite Debatte über die
Freiheit der Kunst und ein
Museum der Zukunft an.
Nicht nur die Tatsache, dass
Kortun gleichsam aus dem Exil
in die Istanbuler Kunstszene
zurückkehrt, gilt unter türki
schen Kunstfreunden als kleine
Sensation. Sondern auch die
Tatsache, dass er nach Jahren
in privat gesponserten Häusern
erstmals an einem öffentlichen
Museum wirken wird. »Was
Istanbul bislang fehlte, ist
wirklich ein Haus, in dem das 20. Jahrhundert
in der Türkei zum Thema wird«, sagt Kortun.
Die anderen Sammlungen der Stadt schauten
nicht zurück ins 19. Jahrhundert oder konzen
trierten sich auf die Kunst nach den 1960er
Jahren. »Das neue Museum wird dieses Bild
komplettieren.«
Wie wichtig es ist, dass künftig die staat
lichen Museen eine größere Rolle spielen wer
den, betont auch die Zensurforscherin Asena
Günal, die den Projektraum Depo für Kunst
und Menschenrechte in einem alten Tabaklager
am Fuße des GalataTurms leitet. Ein Haus wie
das neue, privat betriebene Arter findet sie den
noch positiv. Und ähnlich spricht auch Beral
Madra, die 77 Jahre alte, furchtlose Doyenne
der türkischen Kunstszene, von einer großen
Chance, die sich mit den neuen Museen in
Istanbul und der Provinz verbinde: »Die Men
schen suchen nach einer offenen Tür.«
Mit Zwischenraum, hindurchzuschaun: Das neue Museum im anatolischen Eskişehir, entworfen von Kengo Kuma
Abb.(Ausschnitt): NAARO
Selbst in der türkischen Provinz wird nun ein neues Museum eröffnet, und Istanbul bläst
zur Offensive gegen das autoritäre Regime. Vorschau auf einen heißen Kunstherbst VON INGO AREND
Der
Neubeginn
Der Arter Space for
Contemporary Art wird
am 13. September
eröffnet
(w w w.arter.org.tr).
Die Istanbul-
Biennale ist vom
- September bis zum
10. November unter
dem Titel »The Seventh
Continent« zu sehen
(bienal.iksv.org/en).
Das neue
Odunpazarı
Modern Museum
in Eskişehir wurde
gerade eröffnet
(www.omm.art)
72 FEUILLETON 12. SEPTEMBER 2019 DIE ZEIT No 38
WEITERE TERMINE FINDEN SIE UNTER http://www.zeit.de/kulturanzeigen
AUSSTELLUNGEN^
MÜNSTER
MAGDEBURG
DASBAUHAUS
UNDDIE FOLGEN
1919 — 2019
MODERN
E
IKONOGRAFIE
FOTOGRAFIE
—22.9.2 019
- 2.2020
BERGISCH-GLADBACH
KUNSTist
immer eine
Behauptung.
SAMMELN
auch.
50 JahreSammlung Kraft
14.09. —24. 11.2019
Konrad-Adenauer-Platz 8
51465Bergisch Gladbach
http://www.villa-zanders.de
BRAUNSCHWEIG
http://www.3landesmuseen.de
SAXONES
Das erste JahrtausendinNiede rsachsen
22 .9.2019–2.2.2020
Niedersa chsen
EineInstitutiondes Landes
Niedersächsische
Landesausstellung2019
REGENSBURG
Sintenis
Renée
Zwischen Freihe it undModer ne
Di eBildhauerin
12|10|2019−
12|01|2020
Renée Sintenis,AusschlagendesPferdchen, 1923 ,Bronze,
Sammlung Knauf,Berlin©VGBild-Kunst, Bonn 2019
Kunstforum
Ostdeutsche
Galerie
Re gensburg
http://www.kunstforum. net
MÜNCHEN
JÜDISCHE SM USEUM
MÜNCHEN
St.-Jakobs-Platz 16
DI > SO 10>18 | http://www.juedisches-museum-muenchen.de
Ausstellung
29.05.2019>2 3.02.2020
BRAUNSCHWEIG
BRUEGHEL
EinMeiste rwerk
restauri ert
7.11.19–17.5.20
http://www.3landesmuseen.de
Niedersa chsen
EineInstitutiondes Landes
ANZEIGE