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ENTDECKEN
»Wer glaubt, verdorbenes Essen oder versaute
Strände seien Teil einer ›natürlichen‹ Kultur,^ unterstellt
dieser Kultur implizit, minderwertig zu sein«
as Meer war blau, der Himmel blauer und
der Mercedes weiß. Das Auto hielt unter
einer Palme, der Fahrer stieg aus, im Anzug.
Ziemlich cool, eine Szene wie aus einem
Musikvideo. Dann nickte er uns zu – und
schiss ungeniert in den Sand. Es war unsere
erste Woche in Ghana, und wir waren, na
ja, verdutzt. Später erfuhren wir, dass das
kein bizarrer Einzelfall war. In Ghana ka-
cken viele Menschen an den Strand. Ein
echtes Problem. Die Zeitungen berichten,
Bürgermeister und Bischof fordern ein
Ende. Die Regierung hat Schilder aufstellen
lassen: »Der Strand ist keine Toilette – Ma-
chen Sie nicht hierhin!« Alle beschweren
sich. Nur die nicht, die wegen des Strandes
gekommen sind: die Touristen. Das sei hier
halt so, sagte uns eine sonnenverbrannte
Deutsche in einem Strandhotel. Man dürfe
als Fremder nicht herummeckern. Wer
weiß? Vielleicht gehöre das An-den-Strand-
Kacken in Ghana ja dazu.
In den neun Monaten, die wir inzwischen
als Reporter durch Afrika gereist sind, haben
wir festgestellt, dass Touristen überall ähnlich
auf Missstände reagieren. Plastikberge in den
Straßen der ghanaischen Stadt Kumasi –
wissen die nicht besser. Verdorbener Fisch
am Golf von Guinea – ist Teil des Aben-
teuers. Busfahrer, die auf dem Weg zum
Kilimandscharo das Leben ihrer Passagiere
gefährden – muss man mit leben. In Berlin,
Hamburg oder Pforzheim beschwert man
sich bereits, wenn jemand seine Kippe auf
den Bahnsteig schnippt (die Umwelt! Das
Trinkwasser! Und wenn das jeder machen
würde!) oder irgendein Angeber sein dickes
Auto auf dem Fahrradweg parkt (glaubst du,
die Stadt gehört dir allein?!). Im Ausland hält
man den Mund. Zu Hause soll es sauber sein
und der Mitbürger ehrlich und freundlich.
Auf Reisen aber lassen die meisten Touristen
diese Ansprüche am Gate zurück – weil sie
entspannt und tolerant wirken wollen, dabei
sind sie vor allem eins: feige und bequem.
Es kostet Kraft und Nerven, auf Reisen
Missstände zu beklagen. Auch weil nicht
immer leicht herauszufinden ist, was un-
mögliches Benehmen und was unvertrauter
Ritus ist, was mangelnder Anstand und was
kulturelle Eigenart.
Wir zum Beispiel haben in den vergan-
genen Monaten viel Zeit mit Warten ver-
bracht – auf Freunde, Kellner und Politiker,
eineinhalb Stunden im »Schnell«-Imbiss,
einen Tag am Bahnhof, fünf Monate auf
eine Antwortmail. Erst nach einem halben
Jahr haben wir begriffen: Außer uns fühlt
sich hier niemand schlecht behandelt, wenn
man ihn warten lässt. Das Zeitgefühl ist völ-
lig anders. Ja, es gibt kulturelle Unterschiede.
Aber es gibt auch so etwas wie einen globalen
Minimalkonsens des Anstands und guten
Benehmens, auf den alle in jedem Land ein
Recht haben.
Das klingt vielleicht altbacken, nach
etwas, das unsere Urgroßmütter von unseren
Großmüttern verlangt haben, nach Kern seife
und knöchellangen Röcken. Wir würden
sagen: Anständig zu sein bedeutet, andere so
zu behandeln, wie man selbst behandelt
werden möchte. Vor allem heißt es, nieman-
den durch sein Verhalten zu demütigen und
keinem zu schaden.
Wenn man sich bei einer Busfahrt in
Nigeria zwölf Sitzplätze mit 17 Erwachse-
nen, fünf Kindern, zehn lebenden und zwei
toten Hühnern teilen muss, dann ist das Teil
der Kultur. Wenn der Fahrer aber so fährt,
als wolle er diese ganze Bagage umbringen,
dann ist das eine Unart. Und gefährlich.
So nicht!
VON SOPHIA BOGNER UND
PAUL HERTZBERG
Anderes Essen, scharfes, schleimiges, saures
Essen, ist eine Kulturfrage. Verdorbenes
Essen ist ein Grund, sich zu beschweren.
Würde man zu Hause auch machen. Aber
im Ausland nicht. Da hat man Angst, als
intolerant zu gelten. Oder schlimmer noch:
als rassistisch.
Diese Angst ist oft berechtigt. Wir haben
uns in den vergangenen Monaten über vieles
beschwert, und auch Sophia, deren Mutter
Äthiopierin ist, wurde immer wieder Rassis-
mus vorgeworfen. Aber nur von anderen
Touristen, nie von Einheimischen. Vor allem
von Deutschen. Immerhin ist Sophia ja eine
Landsfrau, da fällt einem das Meckern plötz-
lich wieder leicht.
In einem Hotel namens Oasis in Cape
Coast erzählten uns die sonnenverbrannte
Deutsche und ihre Freundin, beide mit
Muscheln im Haar, wie fan-tas-tisch sie
Ghana fänden. Das Essen, die Menschen,
den Strand. Als wir uns darüber beklagten,
was man außer Muscheln noch so am Strand
finden könne, kippte die Stimmung. Dass
wir das öffentliche Defäkieren am Bade-
strand so offensichtlich ätzend fanden, fan-
den sie gar nicht fantastisch. Sie warfen uns
»typisch westliche Arroganz« vor. Wir wür-
den die ghanaische Kultur nicht verstehen,
die sei eben »sehr naturverbunden«.
Und sie hatten recht. Wir haben die
ghanaische Kultur nicht vollständig ver-
standen. Es ist uns bis heute ein Rätsel, wa-
rum sogar an Tankstellen zu jeder Uhrzeit
ohrenbetäubend laut Hip-Hop laufen muss.
Wir begreifen nicht, warum Menschen einen
rufen wie einen Hund, nämlich indem sie
zischen und schnalzen, anstatt einfach »Hal-
lo« oder »Entschuldigung« zu sagen. Aber
wir wissen, was bestimmt nicht zur ghanai-
schen Kultur gehört: Kacke am Strand.
Das tut sie nirgendwo. Wenn beim Gassi-
gehen am Bodensee nicht der Hund, son-
dern das Herrchen sein Geschäft am Ufer
verrichtet, wittert keiner einen süddeutschen
Kulturakt. Und auch fast alle Ghanaer wis-
sen, dass der Strand keine Toilette ist und
dorthin zu kacken nicht zu ihrer Kultur ge-
hört. In Cape Coast haben wir einen Strand-
verkäufer getroffen, der mit seinen Kollegen
Geld gesammelt hatte, um am Meer Dixi-
Klos aufstellen zu lassen und zumindest
»seinen« Strandabschnitt sauber zu halten.
Typisch westlich arrogant ist es, nicht zu
sehen, dass die Einheimischen unter Miss-
ständen noch mehr leiden als die Touristen.
Wer glaubt, verdorbenes Essen oder ver-
saute Strände seien Teil einer »natürlichen«
Kultur, unterstellt dieser Kultur implizit,
minderwertig zu sein. Wir haben Goethe,
die haben Gammelfleisch.
Und wer so denkt, sieht nicht, dass Rück-
sichtnahme Teil jeder Kultur ist und mieses
Benehmen Teil von keiner. Der versteht
nicht, dass es auch eine Frage von Respekt
ist, sich zu beschweren. Denn um etwas zu
kritisieren, muss man es ernst nehmen. Man
muss sich sicher sein: Das geht noch besser.
Die meisten Touristen denken aber: Im
Ausland geht es halt nicht besser.
Besonders groß ist das Schweigen in
Afrika. Hier kommt zur allgemeinen Ver-
un sicherung, fremde Sprache, fremde Ge-
bräuche, undurchschaubare Spielregeln, das
Gefühl von Schuld. Weil wir so reich sind
und die oft so arm. Weil Europäer hier un-
glaubliche Verbrechen begangen haben.
Deswegen möchten viele Weiße in Afrika
möglichst wenig auffallen.
Aber als Weißer erregt man in Afrika
unweigerlich Aufsehen. Wir reisen seit neun
Monaten durch den Kontinent, haben
Dutzende Städte in fünf Ländern gesehen.
Wir sind beide Europäer, aber weiß ist nur
Paul. Er wurde angestarrt und angefasst, ihm
wurde hinterhergelaufen und nachgerufen.
An einem besonders langen Tag in Daressa-
lam hieß es 20-mal in drei Stunden: »Eh,
Mister White! Give me money!« Irgendwann
schrie Sophia zurück: »Eh, Mr. Idiot, spinnst
du? Schämst du dich nicht für dich selbst?«
Die Leute lachten, jemand rief: »Alles gut,
Sister, hakuna matata.« Nur Paul lachte
nicht, sondern lächelte wie versteinert weiter.
Absurd eigentlich. Niemand würde es
hinnehmen, wenn in Kreuzberg Berliner
einem Chinesen »Ey, Chinamann, gib mir
Geld« hinterherrufen würden. Es geht nicht
darum, dass jemand, der arm ist, jemanden,
den er für reicher hält, nach Geld fragt. Es
geht darum, vermeintlich Fremde systema-
tisch wie Beute zu behandeln. Das ist
wirklich anstandslos, ein echter Grund, sich
zu beschweren.
Sich zu beschweren, das klingt so klein-
lich, so nach »dem Nachbarn argwöhnisch
über den Zaun gucken«. Aber es ist wichtig,
Fairness, Augenhöhe und Rücksichtnahme
einzuklagen.
Scheiße verschandelt nicht nur den
Strand, sie sickert ins Meer und macht Men-
schen krank. Lebensmüde Fahrer sind nicht
abenteuerlich, sondern tödlich. Fremde wie
Geldautomaten zu behandeln schadet dem
Tourismus und dem kulturellen Austausch.
Alle Afrikaner, die wir kennengelernt haben,
klagen darüber. Es sollte selbstverständlich
sein, sie damit nicht allein zu lassen. Aber die
meisten von uns drücken sich davor. Aus
Unsicherheit, Angst oder Arroganz.
Und manche sogar, weil sie eine globale
Kultur des Anstands gar nicht wollen: Dritt-
weltliebhaber, für die Müll aufregend und
Korruption ein Abenteuer ist.
In Addis Abeba lernten wir zwei junge
Deutsche kennen. Marke: Cargoshorts,
Globetrotter-Platinkarte. Sie tranken Bier
und gaben an. Am Morgen hatten sie die
Polizei bestochen. Es war ihr erstes Mal
gewesen, und sie waren extrem stolz darauf,
wie sie das »gemanagt« hatten. Als Afrika-
Experten hätten sie natürlich sofort gewusst:
»Wenn dich in Äthiopien ein Polizist anhält,
zahlst du als Ausländer lieber gleich – egal,
ob du tatsächlich etwas gemacht hast.«
Die beiden fanden das »extrem auf-
regend« und insgesamt gar kein Problem.
Ist es aber. Korruption ist vieles, aber eines
sicher nicht: ein Abenteuer. Es ist wahr-
scheinlich eines der größten Probleme
dieses Kontinents. Wenn man sie als Teil
der »aufregenden« Afrika-Erfahrung ak-
zeptiert, richtet man Schaden an. Man
suggeriert dem Polizisten, dass Macht-
missbrauch in Ordnung ist.
Natürlich ist es viel verlangt, einem
bewaffneten Beamten in einem fremden
Land zu widersprechen. Das wäre der
doppelte Rittberger des Anstands. Der ist
auch uns oft nicht gelungen. Wir haben in
den letzten Monaten Hunderte Euro
Bestechungsgeld gezahlt, um weiterreisen
zu können. Aber wäre es nicht großartig,
wenn das nicht nötig gewesen wäre? Wenn
Einheimische und Touristen gemeinsam
gegen Kacke und Korruption kämpfen
würden? Dann wären wir uns weniger
fremd. Wir würden uns gemeinsam
beschweren.
Die Deutschen müssten dafür noch
nicht einmal etwas Neues lernen. Zu
Hause regen sie sich ohne Schwierigkeiten
über alles Mögliche auf. Warum nicht auf
Reisen? Es geht nicht darum, mit er-
hobenem weißen Zeigefinger den Einhei-
mischen Manieren beizubringen. Es geht
darum, dass einem die ganze Welt wichtig
genug ist, um sich darüber zu beschweren.
Meckern ist kein Ausdruck von Verach-
tung, es ist ein Akt der Anteilnahme.
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74 12. SEPTEMBER 2019 DIE ZEIT No 38
Foto:ThiloR ückeis,
Tagesspiegel
Bewerbungsschluss: 13. Oktober 2019
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den übernommen. Die Bewerbung von Menschen mit
Behinderung ist ausdrücklich erwünscht.
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Kooperation mit der Deutschen Gesetzlichen Unfallver-
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journalistischen Beitrag zum Thema Menschen mit Behin-
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