Die Zeit - 12.09.2019

(singke) #1

ENTDECKEN


Liebe Ella,

ZEIT-Leser sind etwas Besonderes. Das
sage ich nicht selbstgefällig, weil ich die
Zeitung schon seit Jahren lese. Nein, es
gehört zum einen ob der Vielfalt des In-
halts sehr viel Muße dazu. Zum anderen
benötigt man auch ein entsprechendes
Ambiente. Als Lektüre auf dem stillen
Örtchen eignet sie sich nun mal über-
haupt nicht.
ZEIT-Leser benötigen aber auch einen
gewissen Hang zum Masochismus, oder
zumindest müssen sie eine gute Portion
Leidensfähigkeit besitzen. Der Kampf
mit den großen Zeitungsblättern kann
manchmal schon ins Groteske abgleiten,
wenn man versucht, die Blätter lese-
freundlich zu verteilen oder gar zu falten.
In heutiger Zeit kann man dem zwar
digital abhelfen. Allerdings habe ich da
ein zunehmendes Problem.
Seit ich die ZEIT aus ökologischen
(Altpapier) und aus Platzgründen (mein
Tisch ist einfach nicht groß genug für die
Zeitung) auf meinem E-Reader lese, ver-
misse ich den haptischen Reiz des Um-
blätterns und die Freude am Rascheln des
Papiers. Auch die bessere Übersicht und
das rasche Überschlagen von (scheinbar)
Unwichtigem fehlen mir genauso wie die
Geduld, die Zeitung nach der Lektüre
wieder in eine einigermaßen sinnvolle,
lagerfähige Form zurückzuverwandeln.
Was soll ich tun? Mir wieder wöchent-
lich die Papiertonne mit der ZEIT voll-
stopfen und einen größeren Tisch kaufen
oder weiter E-leiden und bei zu großem
Leidensdruck in die öffentliche Biblio-
thek gehen? Vielleicht könnte die ZEIT
mir und sicher sehr vielen weiteren Ihrer
Leser entgegenkommen und das Format
etwas handlicher gestalten. Auf Ihre prag-
matische Antwort bin ich sehr gespannt.
Mit besten Grüßen
der Lesewolf

Lieber Lesewolf,

lassen Sie mich von hinten nach vorne
antworten – bietet sich ja auch irgendwie
an für einen Text, der im letzten Buch der

ZEIT erscheint. Wie Sie vielleicht wissen,
ist hier im Haus vor einiger Zeit durchaus
intensiv über ein handlicheres Format
nachgedacht worden. Wir haben da auch
was sehr Schönes entworfen. Aber diese
Umstellung wäre sehr, sehr teuer ge-
wesen – und das nur für ein bisschen
weniger Ellbogen im Gesicht Ihres Sitz-
nachbarn. Wollen Sie noch mehr Geld
für Ihre Zeitung bezahlen? Will ich noch
weniger verdienen? Na sehen Sie. Aber
das allein ist gar nicht der Punkt. Lassen
Sie mich kurz ausführen.
Ich bin gerade im Urlaub auf einer
sehr kleinen Insel im südlichen Mittel-
meer, Esel, Ziegen und 600 Einwohner.
Morgen erscheint die neue ZEIT. Vor ein
paar Jahren hätte ich den Tag damit zu-
gebracht, von einem Kiosk zum nächsten
zu ziehen, um dann kurz vor Sonnen-
untergang zu kapitulieren und meinen
Kummer ahnungslos in Ouzo zu er-
tränken. Heute? Trinke ich den Ouzo,
während ich die neue Ausgabe auf mein
Ta blet lade, was wegen der schlechten
Internetverbindung zwar eine halbe Stun-
de dauert, aber dann hab ich sie – und es
ist noch nicht mal Donnerstag! Alle Tex-
te, die mich interessieren, sind markiert.
Der Meltemi, der seit Tagen über meinen
Balkon fegt, kann mich mal – ich werde
die Zeitung ganz entspannt auf meinem
iPad lesen und dem Wind keine Fledder-
flanken bieten. Ha!
Meiner ganz persönlichen Meinung
nach hat das Lesen der ZEIT auf dem
Ta blet ziemlich viele Vorteile. Sogar der
für erstaunlich viele Leserinnen und Leser
mit Schuldgefühlen verbundene Anblick
einer völlig unberührten Ausgabe, wäh-
rend die neue schon im Briefkasten lau-
ert, entfällt.
Zu Hause allerdings – und jetzt
kommt’s – liebe ich es, am Wochenende
mit einer Tasse Kaffee in der Hand auf
meinem Sofa zu thronen, umgeben von
herausgerissenen Seiten, die Finger, bes-
tenfalls auch das Gesicht, voller Drucker-
schwärze. Ich lese die Zeitung, sitze in der
Zeitung, markiere Absätze der Zeitung,
manchmal zerknülle ich eine Seite und
werfe damit nach einem Mitbewohner.

Wissen Sie, lieber Lesewolf: Es gibt beim
Zeitunglesen kein richtig und falsch. Jede
Darbietungsform hat was für sich. Aus Ihrer
Frage klingt allerdings heraus, dass Ihr Herz
womöglich gegen jeden Pragmatismus fürs
Papier schlägt – was ich sehr sympathisch
finde. Geht mir auch so. Zwischenmensch-
lich finden wir doch auch meistens die
Leute interessanter, die ein bisschen kom-
plizierter sind als andere.
Sie brauchen keinen neuen Tisch. Su-
chen Sie sich zum Lesen ein genügend
großes Sitzmöbel, und fordern Sie Ihre
Familienangehörigen dazu auf, sich ein paar
Stunden lang von Ihnen fernzuhalten.
Werfen Sie die Zeitung nach Lektüre auf
keinen Fall ins Altpapier, sondern verwen-
den Sie sie zum Fensterputzen, zum Ab-
stellen herbstnassen Schuhwerks, falten Sie
Partyhüte daraus, lassen Sie Texte, die Ihnen
gefallen haben, als Flaschenpost in öffent-
lichen Verkehrsmitteln liegen.
Vor allem aber: Verbieten Sie sich
nicht die Freude am Papier. Ich bin par-
teiisch, klar, aber für mich ist die Lektüre
gedruckter Zeitungen, unter deren Seiten
ich beim Lesen wie unter einer Decke ver-
sinke, eine absolut beglückende Kultur-
praxis. Und wenn Sie mal im Bus sitzen:
kurz zur Seite lächeln, einmal quer, ein-
mal längs falten und loslesen. Ist gar nicht
so schwer. Dabei stets bei Ihnen, vorsorg-
lich den Arm einziehend:

Ihre Ella

Sie haben ein Problem und würden gern


darüber sprechen – aber es hat mal wieder keiner


Zeit? Dann fragen Sie ELLA!


Die gedruckte ZEIT ist unhandlich, beim


E-Reader vermisse ich das Papier. Was tun?


Schreiben Sie uns!
Sie haben Mist gebaut? Sie wären
gern anders, aber wissen nicht, wie?
Ella lässt sich was für Sie einfallen.
Ella ist ZEIT-Redakteurin mit
abgebrochenem Psychologiestudium
und vielen Stunden Tresentherapie-
Erfahrung. Schreiben Sie ihr offen
und angstfrei unter einem
Pseudonym Ihrer Wahl per Mail
an [email protected]
oder über Instagram unter @zeit_ella

Illustration: Sergio Membrillas für DIE ZEIT

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  1. SEPTEMBER 2019 DIE ZEIT No 38 81


Anlässlich des Jubiläums »30 Jahre Mauerfall« findet am 30. Oktober an zwei historischen Orten zeit-
gleich die Konferenz »ZEIT für Demokratie« statt: in der Paulskirche in Frankfurt am Main sowie in der
Frauenkirche in Dresden. Vertreter aus Wirtschaft, Gesellschaft und Medien zeigen auf, wie sie die
gesellschaftliche Entwicklung der letzten 30 Jahre erlebt haben. Im Rahmen der Initiative »Deutschland
spricht« werden zudem Menschen in zahlreichen Gesprächspaaren zusammengebracht, um über unsere
Zukunft in Deutschland und Europa zu diskutieren.

Fotos, v. l. n. r. Bild 2 © Mein Grundeinkommen; Bild 4 © Laura Stevens für DIE ZEIT • Anbieter: Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Hamburg • Convent Gesellschaft für Kongresse und Veranstaltungs-
management mbH, Senckenberganlage 10–12, 60325 Frankfurt am Main


  1. OKTOBER 2019
    FRANKFURT AM MAIN & DRESDEN


Veranstalter:

#ZEITFÜRDEMOKRATIE

Wissenspartner:

FÜR DEMOKRATIE


Fotos, v. l. n. r. Bild 2 © Michael Heck; Bild 3 © Dominik Butzmann; Bild 4 © Patrick Bienert ; Bild 5 © David Ausserhofer; Bild 7 © Gerald von Foris; Bild 9 © Meiko Herrmann, ZEIT ONLINE • Anbieter: Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Hamburg • Convent Gesellschaft für Kongresse und Veranstaltungsmanagement mbH, Senckenberganlage 10–12, 60325 Frankfurt am Main

Sprecher in Dresden und Frankfurt am Main (Auszug):

JOCHEN WEGNER
Chefredakteur, ZEIT ONLINE;
Mitglied der Chefredaktion,
Die ZEIT

MARIA EXNER
Stellv. Chefredakteurin
und Managing Editor,
ZEIT ONLINE

FLORIAN ILLIES
Kunsthistoriker und Autor
(u.a. »Generation Golf«);
geschäftsführender Verleger,
Rowohlt Verlag

CHRISTOPH AMEND
Chefredakteur, ZEITmagazin

PROF. DR. WOLFGANG
MERKEL
Direktor, Wissenschaftszentrum
Berlin für Sozialforschung

LUKAS RIETZSCHEL
Autor (»Mit der Faust
in die Welt schlagen«)

JANA HENSEL
Autorin (u.a. »Zonenkinder«)

HILTRUD WERNER
Vorstand für Integrität und Recht,
Volkswagen AG

TAREK MÜLLER
Co-Gründer und Geschäftsführer,
ABOUT YOU GmbH

DR. ROBERT VEHRKAMP
Senior Advisor, Programm
»Zukunft der Demokratie«,
Bertelsmann Stiftung

Gefördert durch:

http://www.convent.de/demokratie

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