Die Zeit - 12.09.2019

(singke) #1

ENTDECKEN


D


aniel und ich kannten uns aus
der Schule. Wir waren Mitte 20
und seit fünf Jahren ein Paar, als
er mir einen Antrag machte.
Ganz romantisch mit Rosen, Kerzen und
Ring. Er ging auf die Knie und sagte, dass
er immer mit mir zusammen sein wolle.
Natürlich sagte ich Ja.
Wir legten einen Termin für die Trauung
fest, und ich stürzte mich mit aller Energie
und sämtlichen Gedanken in die Vorberei-
tungen: Ich kaufte ein Kleid und stellte das
Menü zusammen. Ich engagierte einen Ka-
rikaturisten, eine Band und einen Fotografen,
kümmerte mich um Blumenschmuck, Fri-
seur und Schuhe. Wenige Monate vor der
Hochzeit begann Daniel ein Studium. Unter
seinen Kommilitonen war Wiebke. Die
beiden wurden unzertrennlich – beste Kum-
pel, sagte er. Sie lernten gemeinsam. Telefo-
nierten oft. Chatteten dauernd. Saßen wir
abends auf dem Sofa, piepste sein Handy:
SMS von ihr. Mir war das zu viel Nähe, ich
empfand ihre Freundschaft als Bedrohung.
Es waren noch zwei Monate bis zur Trauung,
und ich bat Daniel, den Kontakt zu reduzie-
ren. Er stimmte zu. Doch als ich eines Tages
einen Blick auf unsere Telefonrechnung warf,
wurde mir klar, dass er mich belogen hatte.
Sie telefonierten ständig – immer dann, wenn
ich nicht zu Hause war. Ich stellte ihn zur
Rede, drohte, ihn zu verlassen. Er entschul-
digte sich: »Du bist mein Leben. Ich will dich
heiraten.« Jahrelang hatten wir eine schöne
Beziehung geführt. Ich wollte diese Hochzeit
und hoffte auf ein Happy End.
Zwei Wochen vor dem Termin hatte
ich einen Auffahrunfall und musste mit
einem leichten Schädel-Hirn-Trauma das
Bett hüten. Statt sich um mich zu küm-
mern, war Daniel unterwegs mit seiner
Clique – und mit Wiebke. Als er zurück-
kam, eskalierte die Si tua tion. Endlich ge-
stand er, was ich die ganze Zeit nicht hatte
wahrhaben wollen: »Ich liebe euch beide.
Es ist noch nichts entschieden.« Für mich
jedoch war es das.
Ich stand vor den Trümmern meines
Lebens. Daniel war in den vergangenen
Jahren meine engste Bezugsperson geworden,
Freunde und Familie hatte ich vernachlässigt.
Um Abstand zwischen ihn und mich zu
bringen, begann ich ein Studium in einer
anderen Stadt und buchte eine Reise. Alleine.
Einen Monat nach der Trennung flog ich das
erste Mal in meinem Leben. Daniel war nie
gerne gereist. Zu Hause ist es doch am
schönsten, sagte er immer. Langsam begann
ich zu verstehen, dass so manches auch ohne
Daniel lebenswert sein könnte.
Seine Beziehung zu Wiebke scheiterte.
Und wir haben nie wieder mit ein an der ge-
sprochen. Was er macht, mit wem er lebt –
ich weiß es nicht. Heute habe ich einen
neuen Mann an meiner Seite, wir sind ver-
heiratet und haben drei tolle Kinder. Da-
niel wollte nie Vater werden.


Susanne, 34, wohnt in Hessen

Aufgezeichnet von Marie-Charlotte Maas

... kurz vor der


Hochzeit


sitzen gelassen


zu werden


WIE ES WIRKLICH IST

Mein Mann, der sich mit seiner dicksten
Winter-Fellmütze zu mir an den Frühstücks-
tisch setzt. Seine Form des Protests gegen die,
wie er meint, »lausige Kälte« – und meine
Vorliebe, zu fast allen Jahreszeiten draußen
zu essen.
Silke Henne, Dassel, Niedersachsen

Die SMS meiner Tochter nach drei Tagen
Klassenfahrt: »Papa, ich vermisse dein Essen!«
Hanspeter Weis, Grimma, Sachsen

Hoch oben im ewigen Winter der Ötztaler
Alpen, kurz vor dem Gipfelkreuz des Ge-
patschferner plötzlich einen Schmetterling
vorbeiflattern zu sehen.
Ulrike Brauchle,
Ellwangen, Baden-Württemberg

Mücken zerdrücken, Brombeeren pflücken,
auf der Luftmatratze kleben und in den
Tag hineinleben.
Dirk Büchsenschütz, Wuppertal

Familienbesuch. Plötzlich erklärt der Enkel:
»Wenn ich groß bin, heirate ich Oma.« Sein
Vater entgegnet: »Das geht nicht, das ist
meine Mutter.« Darauf der Enkel: »Wieso,
du hast doch auch meine Mutter geheiratet!«
Volker Meitz,
Elmenhorst, Mecklenburg-Vorpommern

Auf der Berliner Seestraße macht sich ein
Trupp Männer mit Motorsensen daran,
den verkehrsumtosten Mittelstreifen von
seinem wucherndem Grün zu befreien.
Ein appetitlicher Duft dringt durchs offe-
ne Autofenster: Offenbar wächst hier, mit-
ten im Wedding, wilde Rauke, die nun,
frisch gehäckselt, für einen Moment alle
Auspuffgase vergessen lässt.
Auf einen Salat von hier würde ich aller-
dings trotzdem eher verzichten.
Niclas Boettcher,
Kleinmachow, Brandenburg

Anfang September: Ich schwimme im
schon herbstlich kühlen Baggersee. Ver-
einzelt berühren Schwalben auf Nah-
rungssuche mit ihren weißen Bäuchen die
Wasseroberfläche. Und dann ein orange-
petrolfarbener Blitz – ein Eisvogel fliegt
knapp über der Wasseroberfläche vorbei.
Welch ein Glücksmoment!!!
Renate Oertel, Hersbruck, Bayern

Nach Abgabe der Diplomarbeit im Bett
meines alten Kinderzimmers zu liegen, den
Regentropfen auf dem Dachfenster zuzu-
hören – und endlich abzuschalten.
Marcel Greubel, Bad Kissingen, Bayern

Zu beobachten, wie die Spatzen in meinem
Garten sich verstohlen umblicken – und
dann die Rasensamen aufpicken, die ich ges-
tern gesät habe.
Dorothea Wiplinger, Wien

Zwei Tage Berlin, nur mit einem Rucksack
als Gepäck. Ich beschließe spontan, in die
Oper zu gehen, und beichte beim Kauf der
Karte, dass ich leider in Turnschuhen er-
scheinen müsse. Das macht gar nichts, ent-
gegnet die Kassiererin fröhlich, wenn Sie nur
ordentlich klatschen!
Ursula Treser-Marquardt,
Burgwedel, Niedersachsen

Zweimal hat mein Vater seinen Ehering ver-
loren. Einmal als dieser bei der Gartenarbeit
verschwand, tauchte er – Jahre später – beim
Durchsieben des Komposts wieder auf. Beim
nächsten Mal wähnten wir ihn schon auf
Dauer verloren, doch als mein Vater mit Ende
Siebzig ins Seniorenheim zog und ich seinen
Hausstand auflöste, stand der Käufer seines
Autos einige Wochen später strahlend mit
dem Ring vor meiner Haustür. Er hatte unter
einer Fußmatte im Auto gelegen. 20 Jahre
habe ich das gute Stück in meiner Nachttisch-
schublade verwahrt und es jetzt etwas umge-
arbeitet meiner Tochter als Andenken an
ihren Opa geschenkt.
Klaus Bruckner,
Obersontheim, Baden-Württemberg

Leben


Wa s mein


reicher macht


Rodrigo ist ein Grünflügelara. Weil er gern kreischt, gab sein ursprünglicher Besitzer ihn in ein Heim für Vögel in der englischen Grafschaft Kent. Dort kreischt er nun nach Herzenslust. Fotografiert von Richard Bailey

(Folge 170)


Du siehst aus, wie ich mich fühle


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1957/2018 Kartoffelernte


Mein Großvater war 1957 nach dem Abitur als Erntehelfer in Yorkshire. Das linke Foto zeigt ihn (Bildmitte) bei der Rast nach
der Kartoffelernte. Auch ich bin nach dem Abi in Yorkshire gelandet, und zwar als sogenannter WWOOFer (World-Wide Opportunities
on Organic Farms vermittelt Freiwillige, die gegen Kost und Logis auf ökologischen Höfen mitarbeiten wollen). Die Arbeit kann ganz
schön anstrengend sein. Mit mir pausieren Ole aus Berlin (links) und Leo aus Montpellier (rechts). Robert Schlücker, Berlin

ZEITSPRUNG

»Bruddeln«


In der jüngsten Diskussion um den
Wassermangel kamen mir die Worte meiner
Oma in den Sinn. Immer wenn wir als Kinder
beim Händewaschen gedankenverloren mit
dem Wasser spielten, pflegte sie zu sagen:
»Verbruddel nicht so viel Wasser.« Manchmal
sagte sie auch nur: »Bruddel nicht so.«
Die Botschaft war: Wasser ist kostbar.

Annette Herrmann,
Bad König, Hessen

MEIN WORTSCHATZ

82


Meine Kinder pflegten früher Mineralwasser
mit Kohlensäure lautmalerisch Pitzelwasser zu
nennen. Inzwischen hat meine Tochter selbst
eine Familie gegründet. Ihr Mann ist Italiener,
der mit seinen Kindern auch meist italienisch
spricht. Doch als er vor einiger Zeit mal fragte,
ob mein Enkel etwas Sprudel wolle, hörte ich
zu meiner Freude: »Vuoi un po di Pitzelwasser?«

Jupp Terhaar,
Bad Oldesloe, Schleswig-Holstein

»Pitzelwasser«


Illustration: Eva Revolver für DIE ZEIT; kl. Fotos: Privat


  1. SEPTEMBER 2019 DIE ZEIT No 38

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