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Harald Martenstein
Über sein altes Schwimmbad, damals, als Schüler
Illustration Martin Fengel
Zu hören unter http://www.zeit.de/audio
Harald Martenstein
ist Redakteur des »Tagesspiegels«
Als ich mal wieder in meiner Heimatstadt Mainz war, an einem
heißen Spätsommertag, ging ich ins Freibad. Ich bin als Kind sehr
oft am Taubertsberg gewesen, auch als Jugendlicher, aber seit Jahr
zehnten nicht mehr. Das Bad hatte sich in meinen Augen kaum
verändert, obwohl es so frisch und modern aussah, als sei es vor
fünf Jahren eröffnet worden. Die Topografie war noch dieselbe, alle
Hänge und Wiesen und alle Schwimmbecken befanden sich dort,
wo sie für mich hingehörten. Das macht viel aus. Auf der Wiese, wo
wir damals als Teenies lagen und – an guten Tagen – knutschten,
lagen noch immer knutschende Teenies. Ich fühlte mich wie Marcel
Proust, als er eine Madeleine in seinen Tee tunkte.
Nach einer Seite hin wurde das Bad immer noch von einer dich
ten, breiten Hecke begrenzt. Es waren auch immer noch Pflanzen
der gleichen Art. Beim Anblick dieser Hecke fiel mir plötzlich der
Penis von Klausi Schmarottke ein, also er heißt natürlich ganz an
ders, vermutlich jedenfalls. Er könnte natürlich einen oder eine
Schmarottke geheiratet und den Namen angenommen haben. Das
wäre ein blöder Zufall.
Wir waren in der dritten Klasse, und Klausi war einer der schlechtes
ten Schüler. Die anderen machten sich oft über ihn lustig, weil er so
langsam und unbeholfen war. Trotzdem gehörte er zur Clique. Wir
waren eine größere Gruppe. Achtjährige ohne Erwachsene, ob das
heute noch ginge? Plötzlich kam einer angerannt und sagte halblaut:
»In der Hecke, dahinten, steht Klausi Schmarottke und zeigt allen
seinen Penis.« Womöglich verwendete er auch ein anderes Wort,
mein Gedächtnis ist nicht so genau wie das von Marcel Proust.
Ins Innere der Hecke führten Trampelpfade. Wir versammelten uns
aufgeregt vor dem Zugang zum Pfad, der so eng war, dass man sich
nur einzeln durchzwängen konnte. Ein Junge nach dem anderen
quetschte sich zwischen den Ästen durch und kehrte mit rotem
Kopf zurück. »Es stimmt! Er zeigt ihn wirklich!« Die Mädchen aus
der Gruppe kicherten, sie waren noch aufgeregter als wir. Nach ein
paar Jungs wagte sich das erste Mädchen in die Hecke. Sie kehrte
rasch zurück und sagte enttäuscht: »Vor Mädchen schämt er sich.
Es sollen keine Mädchen kommen.«
Klausi hatte seine Badehose heruntergezogen. Ich erinnere mich
nicht an den Penis, ich glaube, ich habe ihn nur mit einem flüch
tigen Blick gestreift, weil ich ja auch aufgeregt war. Das hier war
garantiert verboten, aber wie stark verboten genau? Wurde es ver
botener, je länger man guckte? Aber an Klausis Gesicht erinnere ich
mich gut. Er strahlte. Er wirkte eindeutig glücklich, auch stolz. We
gen seines Mutes? Weil er, über den sie immer lachten, im Mittel
punkt stand? Andere Motive fielen mir nicht ein.
Nach einer Weile kam ein Bademeister. Siggi, der ein Streber war
und auch ganz anders hieß, sagte: »Klausi Schmarottke zeigt in der
Hecke seinen Penis.« Der Bademeister sagte so was wie: »Petze is
abber auch net besser.« Dann, lauter: »Komm da raus, Bub, die
Hecke ist kein Spielplatz.«
Klausis Position in der Hackordnung der Klasse verbesserte sich durch
diesen Vorfall. Er war uns ein bisschen unheimlich, er besaß jetzt eine
Aura. Siggi dagegen hatte sich durch sein Petzen und das Urteil des
Bademeisters unmöglich gemacht. Aufs Gymnasium durfte Klausi
natürlich nicht, Siggi schon. Ich stand nun wieder vor der Hecke,
gleiche Stelle, und fragte mich, was wohl aus Klausi geworden ist.
Ob das Petzen immer noch verpönt ist? Ob die Streber immer noch
unbeliebt sind? Ich hoffe es sehr, aber ich bin da nicht sicher.