Frankfurter Allgemeine Zeitung - 13.09.2019

(lily) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Wirtschaft FREITAG, 13. SEPTEMBER 2019·NR. 213·SEITE 17


Australien hatte 28 Jahre lang


keine Rezession mehr. Doch nun


wird es ungemütlicher.Seite 20


Frankfurts Oberbürgermeister


Feldmann sollte nicht auf der IAA


reden, eine Rede gab es doch.Seite 24


In der Krise um amerikanische


Opioidehat der Hersteller Purdue


eine Einigung erzielt.Seite 26


Was halten Sie von den Beschlüssen der
Europäischen Zentralbank?


Das ist ein halbherziges Paket. Die Märk-
te haben mehr erwartet als das, was jetzt
beschlossen worden ist. Immerhin war
auch spekuliert werden, ob die Zinsen
noch mal um 20 Basispunkte sinken könn-
ten. Auch ein Anleiherückkaufprogramm
von 40 Milliarden Euro hätte niemanden
überrascht. Jetzt sind es zehn Basispunk-
te und die Hälfte bei den Anleihen. Wenn
man an den Weg der EZB glaubt – was
ich übrigens nicht tue –, dann ist das ein
ziemlich fauler Kompromiss.


Warum hat sich die EZB Ihrer Meinung
nach dafür entschieden?


Vielleicht will er den zukünftigen Ent-
scheidungen der neuen EZB-Präsidentin
Christine Lagarde nicht zu sehr vorgrei-
fen. Das wäre dann eine Höflichkeit von
Mario Draghi, an die ich allerdings eher
nicht glaube. Wahrscheinlicher ist dage-
gen, dass die Entscheidung eine Reaktion
auf die wachsende Kritik innerhalb des
EZB-Rates sein könnte. Bundesbankpräsi-
dent Jens Weidmann hat sich mit seiner
Kritik in den vergangenen Monaten ja
durchaus etwas zurückgehalten, aber wird


jetzt wieder deutlicher. Vielleicht wollte
die EZB auch noch ein bisschen abwarten,
was die amerikanische Fed in der Zukunft
noch beschließen wird, und somit ein biss-
chen Spielraum lassen.

Was ist das wichtigste Signal, das von
dieser Entscheidung ausgeht?
Für die Sparer bedeutet die Entscheidung
der EZB, dass die Zeit der Niedrigzinspha-
se wieder verlängert wurde. Die Perspekti-
ve, für Erspartes und Vorsorge wieder ir-
gendwann mal Zinsen zu sehen, ist in
sehr weite Ferne gerückt.

Wie wird der Einfluss der Entscheidung
auf die Banken sein?
Diese Entscheidungen haben sich ja ange-
deutet, aber noch länger mit dieser Nied-
rigzinsphase umzugehen, haben viele
Häuser noch vor Monaten nicht erwar-
tet. Es gibt einen Puffer, aber es wird zu-
nehmend schwieriger, mit diesem Um-
feld umzugehen. Es war doch noch vor
Monaten damit gerechnet worden, dass
man den Weg einer Zinssteigerung ir-
gendwann wieder beschreiten könnte
und nach einer Phase der Fristentransfor-
mation irgendwann mal wieder Geld ver-

dient werden könnte. Das ist jetzt erst
mal vom Tisch. Im Gegenteil, die Reser-
ven werden aufgebraucht.
Die EZB-Politik will ja erreichen, dass
die Kreditnachfrage steigt und die Wirt-
schaft angekurbelt wird. Wird das er-
reicht?
Das Entscheidende bei solchen Maßnah-
men ist doch, wo die Spürbarkeitsschwel-
le liegt. Ab wann beeinflussen die Aktio-
nen die Entscheidungen der Unterneh-
men? Ich würde behaupten, das hat nicht
mehr besonders viel Einfluss. Kredite
sind so billig zu bekommen, dass die zu-
sätzlichen Impulse eher verpuffen. Die
Maßnahmen der EZB sind ein bisschen

mehr von dem, was wir bisher auch
schon hatten. Das hat vorher auch nicht
sonderlich gut gewirkt.

Was halten Sie davon, dass das Anleihe-
programm wiederaufgenommen wird?
Ich halte das schlichtweg für sehr proble-
matisch. Welche Anleihen sollen denn ge-
kauft werden? Irgendwann kommt die
EZB tatsächlich noch auf die verrückte
Idee, tatsächlich Aktien zu kaufen. Die
Vorstellung, dass die Aktienfinanzierung
über die EZB läuft, wäre völlig abstrus.
Da bewegen wir uns in eine Künstlich-
keit hinein, die einem nicht viel Freude
machen kann. Das ist dann auch so weit
von jeder Marktwirtschaftlichkeit ent-
fernt.

Letztlich ist das eine Aufforderung, Ak-
tien zu kaufen. Die Aktienmärkte wer-
den durch die EZB-Politik befeuert.
Die Forderung ist ja, kontinuierlich Ak-
tien zuzukaufen und den Aktienaufbau
nicht auf einen Schlag zu tätigen. Das Risi-
ko wäre viel zu hoch. Die Portfolien der
Deutschen haben aber zu wenig Aktien,
gar keine Frage.
Das Gespräch führteInken Schönauer.

Hans-Peter
Burghof lehrt
Bankwirtschaft
und Finanzdienst-
leistungen an
der Universität
Hohenheim.
Foto dpa

Keine Insel der Seligen mehr Die ungehaltene Rede Vorläufiger Opioid-Vergleich


D

ie Stille war erdrückend. Nie-
mand rief an, um eine Maschine
zu bestellen, und wenn das Telefon
doch klingelte, war es für ein Storno.
Gut zehn Jahre ist es her, dass man im
Maschinenbau solche Szenen erlebt
hat, und jetzt scheint eine Krise dieser
Art wieder zum Greifen nah, jeden-
falls in Baden-Württemberg. Um 14
Prozent sind die Auftragseingänge
hier seit Jahresanfang gesunken. Im
Juli gab es sogar 15 Prozent weniger
Aufträge, während bundesweit ein Auf-
tragsminus von 3 Prozent gemeldet
wurde.
Es läuft etwas schief im Südwesten.
Nirgendwo sonst sind die Maschinen-
bauer so abhängig von der Autoindus-
trie wie in Baden-Württemberg. Mit ih-
rer Technik gelingt es, den Verbren-
nungsmotor zu einem Wunderwerk an
Präzision zu machen. Noch verdienen
die Autohersteller gutes Geld mit die-
sen schweren Motoren in großen Au-
tos, aber so wird es nicht weitergehen.
Milliardenstrafen müssten die Auto-
hersteller an die EU zahlen, wenn die
von ihnen verkauften Autos weiterhin
so viel CO 2 ausstoßen wie bisher.
Auch in China, dem größten Auto-
markt der Welt, werden Emissionen
immer stärker zum Thema. Das Um-
steuern auf Elektromobilität wird so
quasi Pflicht für die Branche.
Das trifft nicht nur die Maschinen-
bauer, sondern als Nächstes auch die
Zulieferer. Für sie war Innovation bis-
her ein verlässlicher Wachstumstrei-
ber, aber dieses Mal ist es anders. Ein
Elektromotor ist eben kein Meister-
werk aus Tausenden Teilen, sondern
ein ziemlich einfaches Gebilde. Es gibt
weniger zu liefern für die Zulieferer.
Wenn sie überhaupt im Geschäft blei-
ben wollen, müssen sie sich neue Kom-
petenzen für neue Märkte erarbeiten.
Diese Transformation sollen sie bewäl-
tigen in einer weltwirtschaftlichen Si-
tuation, die unüberschaubarer kaum
sein könnte, voller geopolitischer Un-
wägbarkeiten, die wiederum gerade
die exportorientierte und stark globali-
sierte Fahrzeugbranche besonders
stark treffen. Wer nicht vor Jahren
schon dieses Szenario vorhergesehen
hat oder angesichts ständig übervoller
Auftragsbücher nicht recht zum Nach-
denken kam, hat jetzt ein handfestes
Problem.
Die meisten Menschen im Land spü-
ren freilich von Krise noch nichts. Die
Arbeitslosenquote ist mit 3,3 Prozent
extrem niedrig, große Entlassungsak-
tionen gab es bisher nicht, händerin-
gend suchen viele Unternehmen Fach-
kräfte. Viele Beschäftigte wiegen sich
zudem in Sicherheit, weil sie eine lang-
fristige Beschäftigungszusage haben.
Deren Nutzen hat sich in der Wirt-
schaftskrise 2009 gezeigt. Da war der
Abschwung im Südwesten wesentlich
stärker als anderswo in Deutschland,
aber der Aufschwung im Jahr danach
umso kräftiger; während die Wirt-
schaftsleistung in Deutschland nach
der Rezession um 4,1 Prozent wuchs,
schaffte Baden-Württemberg ein Plus

von 7,7 Prozent. Das war nur möglich,
weil die Unternehmen – teils mit staat-
licher Hilfe – in der Krise ihr Personal
hielten und weiter qualifizierten, dar-
in sind sich alle einig. Auch deswegen
ist seither in den Unternehmen die Be-
reitschaft zu flexiblen Vereinbarungen
größer als in früheren Jahren, was har-
te Schnitte vermeiden hilft.
Was die Rückschau verschleiert: Die
Rezepte von gestern passen heute
nicht mehr zwangsläufig, denn jetzt
geht es um eine Strukturkrise. Jetzt
reicht es nicht, eine tiefe Nachfragedel-
le zu überstehen. Allmählich zeigt
sich, dass man so manche Qualifikati-
on nicht mehr braucht und selbst Wei-

terbildung nicht hilft, weil man einen
Fräser kaum in ein futuristisches Mobi-
litätsprojekt verpflanzen kann. Diese
Erkenntnis wird für viele bitter wer-
den, und das dürfte auch politische Im-
plikationen haben.
Die Landespolitik tut daher gut dar-
an, nicht allein auf die in Baden-Würt-
temberg traditionell zu beobachtende
Kraft der Selbsterneuerung der Unter-
nehmen zu vertrauen. Der grüne Mi-
nisterpräsident Winfried Kretsch-
mann hat vor drei Jahren einen Strate-
giedialog Automobilindustrie ins Le-
ben gerufen, wissend, dass der Wohl-
stand des Landes von dieser Branche
abhängt. „Ich habe keine Lust, dass
wir das Ruhrgebiet der Zukunft wer-
den“, polterte Kretschmann kürzlich.
Nun, da er sich entschieden hat, auch
zur Landtagswahl 2021 wieder anzutre-
ten, hat er noch mehr Grund, sich für
die Wirtschaft ins Zeug zu legen. Seine
Wirtschaftsministerin Nicole Hoff-
meister-Kraut hat für diesen Montag
zu einem Krisengipfel geladen mit Ar-
beitgebern, Gewerkschaftern, Vertre-
tern verschiedener Branchen und mit
dem Chef der Arbeitsagentur. Die
CDU-Politikerin, promovierte Kauf-
frau und Spross einer Unternehmerfa-
milie, weiß ebenfalls, dass es höchste
Zeit ist, die Komfortzone zu verlassen.
Das wird nicht leicht in einem Land,
dessen Bewohner das Etikett „Muster-
ländle“ lieben, man ist sich hier der
Spitzenstellung in allen möglichen Ka-
tegorien sehr bewusst. So wird im Kon-
text mit der nötigen Transformation
gern darauf verwiesen, keine andere
Region Europas sei so forschungs-
stark. Das stimmt, bedeutet aber nicht
automatisch, dass die Zukunft gesi-
chert ist und die Autoindustrie ein
Wohlstandsmotor bleibt. Ein schallen-
der Weckruf kam im Februar ausge-
rechnet vom scheidenden Daimler-
Chef Dieter Zetsche. „Es ist kein Natur-
gesetz, dass Daimler ewig besteht“,
warnte er, zu Recht. Aussitzen ist nicht
angesagt.

D


ie diesjährige Internationale Au-
tomobil-Ausstellung (IAA), Euro-
pas bedeutendste Automesse, hat
noch gar nicht richtig begonnen, und
doch könnte die Aufmerksamkeit um
das Branchentreffen nicht größer sein


  • allerdings der negativen Art. Ausge-
    rechnet am Tag, an dem Bundeskanzle-
    rin Angela Merkel (CDU) die Messe
    feierlich eröffnet hat, tritt wenige Stun-
    den darauf Bernhard Mattes, der Präsi-
    dent des ausrichtenden Autoverbands
    VDA, zurück und sorgt damit für einen
    Paukenschlag. Das Zeichen könnte
    nicht deutlicher sein: Die IAA und die
    hiesige Autoindustrie stecken in ei-
    nem tiefgreifenden Umbruch. Die Zu-
    kunft ist für beide unsicherer denn je.
    Wie man den mannigfaltigen Proble-
    men der Branche – dem Wandel hin zu
    alternativen Antrieben oder der öffent-
    lichen Klimadebatte – begegnen soll,
    darüber herrscht unter den Herstel-
    lern große Uneinigkeit. Nicht zuletzt
    hat sich das in der breiten Debatte ge-
    zeigt, die um das Auto und die indivi-
    duelle Mobilität entbrannt ist. Man-
    cher Konzernchef ist darauf öffentlich
    eingegangen, andere hingegen schwie-
    gen oder verurteilten die Diskussio-
    nen. In der Öffentlichkeit jedenfalls
    hat die Klimadebatte nun eine unbän-
    dige Eigendynamik entwickelt, die nur


noch schwer zu kontrollieren ist. In
der Konsequenz sind die Fronten zwi-
schen Klimaschützern und Autoher-
stellern wohl trotz aller Foren im Vor-
feld der Messe verhärtet. Diese vielen
Gräben vermochte Mattes nicht zuzu-
schütten, wohl deshalb hat der Ver-
bandschef jetzt entnervt aufgegeben.
Sein Rücktritt überschattet die Ver-
suche, die zur Rettung der IAA schon
unternommen worden sind. Auf die
Forderung der Autokonzerne nach
zeitgemäßen Formaten wurde etwa
mit einer Branchenkonferenz reagiert,
an der mehr als 200 Redner teilneh-
men. Ob dies auch beim Publikum an-
kommt, werden die nächsten Tage zei-
gen. Es wird künftig aber vermutlich
noch mehr brauchen. Denn während
die Autobranche Milliarden investiert,
ist die Konjunktur keine Stütze, die glo-
balen Verkaufszahlen sinken und sor-
gen für bedrohliche Einschnitte.
Es ist wohl als Zeichen für den Ernst
der Lage zu verstehen, dass Merkel in
Frankfurt nicht auf die kritische Debat-
te ums Auto und ums Klima eingegan-
gen ist. Vielmehr stärkte sie der Indus-
trie für die großen Herausforderungen
demonstrativ den Rücken. Was der Zu-
spruch einer Kanzlerin wert ist, die
mit ihrer Politik einiges zu den Sorgen
der Branche beigetragen hat, wird sich
nächsten Freitag zeigen. Das Klimapa-
ket der großen Koalition könnte für
Autohersteller, die derzeit mit sich
selbst beschäftigt sind, zusätzliches Un-
gemach bergen.

Im Gespräch: Hans-Peter Burghof, Universität Hohenheim


Die grün-schwarze
Regierung bittet die
Wirtschaft zum
Krisengipfel.

Alarmsignale im Südwesten


Von Susanne Preuß


sibi.FRANKFURT, 12. September. Die
Europäische Zentralbank (EZB) senkt die
Zinsen und kauft wieder Anleihen. Das
hat EZB-Präsident Mario Draghi am Frei-
tag nach der vorletzten Zinssitzung seiner
Amtszeit verkündet. Der Zins für Einla-
gen der Banken bei der Notenbank sinkt
von minus 0,4 auf minus 0,5 Prozent. Von
November an sollen zudem wieder Anlei-
hen gekauft werden, und zwar zeitlich zu-
nächst unbegrenzt und in einer Höhe von
20 Milliarden Euro monatlich. Im Gegen-
zug verschafft die EZB den Banken eine
gewisse Erleichterung durch eine Staffe-
lung der Einlagenzinsen. Auch bei den
langfristigen Krediten (TLTRO) soll es
günstigere Bedingungen geben.
Die Notenbank begründete das umfang-
reiche neue Maßnahmenpaket mit einer
Revision des wirtschaftlichen Ausblicks.
Die Entwicklung der letzten Zeit habe es
notwendig gemacht, sowohl die Prognosen
für die Wirtschaftsentwicklung als auch
für die Inflation zu senken, sagte Draghi.
Die Notenbank erwartet sowohl für 2019
(1,1 Prozent) als auch für 2020 (1,2 Pro-
zent) weniger Wirtschaftswachstum für
die Eurozone als noch vor drei Monaten
prognostiziert. Die Inflationsrate wird sich
demnach mit 1,2 Prozent in diesem und 1
Prozent im nächsten Jahr eher wieder vom
Zwei-Prozent-Ziel der Notenbank entfer-
nen.
Noch während der Pressekonferenz zu
den Beschlüssen meldete sich der amerika-
nische Präsident Donald Trump zu Wort.
Trump warf der EZB per Twitter vor, der
amerikanischen Wirtschaft durch ein Drü-
cken des Euro-Wechselkurses zu schaden.
Draghi erwiderte, in der Pressekonferenz


darauf angesprochen, kurz und knapp, die
EZB orientiere sich am Ziel der Preisstabi-
lität – und betreibe keine Wechselkurspoli-
tik. Ein ungewöhnlicher Schlagabtausch.
Draghi hob hervor, es habe eine klare
Mehrheit für die Entscheidungen im EZB-
Rat gegeben. Die Lage sei so eindeutig ge-
wesen, dass man nicht habe abstimmen
müssen. In den vergangenen Wochen hat-
te es erhebliche Kritik an neuen Anleihe-
käufen auch aus Kreisen des EZB-Rates ge-
geben. Ein halbes Dutzend Mitglieder hat-
te sich öffentlich dagegen ausgesprochen,
darunter nicht nur Bundesbankpräsident
Jens Weidmann, sondern etwa auch der
französische Notenbankchef.
Das Paket der Maßnahmen ist so ähn-
lich ausgefallen wie von vielen erwartet.
Unklar war aber beispielsweise noch gewe-
sen, ob es überhaupt eine Mehrheit für An-
leihekäufe geben werde. Der Umfang der

Käufe ist hingegen eher kleiner ausgefal-
len, als manche Ökonomen zuvor vermu-
tet hatten. Es hatte auch Spekulationen ge-
geben, die Zinsen könnten noch stärker ins
Negative sinken, etwa auf minus 0,6 Pro-
zent. Das kommt jetzt nicht.
Viel war zuvor diskutiert worden, ob die
Notenbank durch kleinere geldpolitische
Schritte den Ball zurück ins Feld der Fiskal-
politik spielen könnte – oder ob umge-
kehrt der Großeinsatz der Notenbank auch
der Politik die Dringlichkeit von Investitio-
nen zur Stützung der Konjunktur vor Au-
gen führen könnte. Draghi sagte dazu: „Es
ist höchste Zeit, dass die Fiskalpolitik Ver-
antwortung übernimmt.“ Er verwies vor al-
lem auf Staaten, die noch Spielraum im
Haushalt hätten – wie Deutschland.
Die Börsen reagierten heftig auf die Be-
schlüsse. Der Euro fiel unter die Marke
von 1,10 Dollar. Der europäische Banken-

index schnellte zeitweise um 1,9 Prozent
nach oben. In Frankfurt stiegen die Aktien-
kurse der Deutschen Bank und der Com-
merzbank um bis zu 3,8 Prozent.
Banken und Ökonomen reagierten zum
Teil kritisch. „EZB-Präsident Mario Dra-
ghi hat heute das umfangreiche Locke-
rungspaket bekommen, das er sich bereits
für die Juli-Sitzung gewünscht hatte“, sagt
Jörg Krämer, der Chefvolkswirt der Com-
merzbank. „Der Widerstand gegen eine
Wiederaufnahme der Anleihekäufe war un-
gewöhnlich hoch, vermutlich war die Mehr-
heit im EZB-Rat nicht allzu groß.“
Sowohl beim Einlagensatz als auch bei
den neuen Anleihekäufen sei die EZB am
unteren Rand der Erwartungen geblieben,
meinte Holger Schmieding, der Chefvolks-
wirt des Bankhauses Berenberg. Gleichzei-
tig komme sie den Banken entgegen mit
dem neuen Freibetrag für Bankeinlagen
bei der EZB und den noch günstigeren Be-
dingungen für langfristige Liquidität. Wie
der Freibetrag im Einzelnen wirke, werde
sich erst in der Praxis zeigen. „Aber er ist
offenbar so berechnet, dass Banken trotz
des noch negativeren Einlagesatzes ver-
mutlich insgesamt weniger belastet wer-
den, als es bisher der Fall war“, meint
Schmieding. Laut EZB soll die Entlastung
der Banken rund 2,2 Milliarden Euro im
Jahr betragen, der größte Posten davon ent-
falle mit 0,5 Milliarden Euro auf das deut-
sche Bankensystem. Die wesentliche Nach-
richt des Tages sei aber, dass die EZB eines
noch klarer formuliert hat als bisher,
meint Schmieding: Sie wolle ihre ausge-
sprochen expansive Geldpolitik beibehal-
ten, bis der Inflationsdruck spürbar zuge-
nommen habe und die Kernrate der Inflati-
on bei knapp unter 2 Prozent liege.

Der Paukenschlag


Von Ilka Kopplin


„Ein ziemlich fauler Kompromiss“


EZB öffnet


Geldschleusen


EZB-Präsident Mario Draghi hat sich offenbar


durchgesetzt: Die Notenbank senkt die Zinsen


weiter ins Negative und kauft wieder Anleihen.


1) Geplante Käufe, Abweichungen sind möglich. Quellen: EZB; Bloomberg / EPA / F.A.Z.-Grafik Brocker

Von März 2015 an bis Dezember 2018 Sept. 2019

Start des Anleihe-
kaufprogramms
im März 2015

Jan. 2008

in Milliarden Euro

EZB-Präsident Mario Draghi

Bilanzsumme der EZB


2156

4682

Jan. 2008 Sept. 2019

in Prozent

Leitzins
Einlagezins

Leitzins und Einlagezins der EZB
Volumen der aggregierten Käufe, in Mrd. Euro1)

Stufen der
Ausweitung

EZB-Anleihekaufprogramm


Einlagezins wird um
0,1 Prozentpunkte auf


  • 0,5 Prozent gesenkt.


Neue Anleihekäufe:
von Nov. 2019 an
1140 monatlich 20 Mrd. €

1500

1740

2280

25502595

Jan. 2008 Sept. 2019

10 Jahre Laufzeit, in Prozent

Rendite der Bundesanleihe


0

1000

2000

3000

4000

5000





0

1

2

3

4





0

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