GEO - 09.2019

(Nancy Kaufman) #1
I

M scHATTEN eines schlaksigen,
großen Mannes gehe ich auf eine
Senke zu, sie gehört zu einem
Betrieb gut 25 Kilometer nord­
westlich von Brodowin, Gut Temmen.
Frank Gottwald ist eine Art Schlichter
zwischen Bauer und Natur. Von Haus
aus Biologe, kennt er die Arten und ihre
Ansprüche. Das Braunkehlchen etwa
brütet spät, sitzt bevorzugt auf dürren
Stängeln überjähriger Vegetation an.
Gottwald hat deshalb die Gutsbetreiber
gebeten, die Senke bei der Mahd auszu­
sparen. "Schau", flüstert er und reicht
mir sein Fernglas.
Das Projekt, für das Gottwald arbei­
tet, heißt "Landwirtschaft für Arten­
vielfalt". Im Nordosten Deutschlands
beteiligen sich 60, bundesweit fast 100
ökologisch bewirtschaftete Betriebe an
der Initiative. Die kleinsten haben we­
niger als 50, die größten Tausende Hek­
tar Land. Jeder Betrieb sei anders, sagt
Gottwald, gemeinsam mit den Bauern
erarbeitet er Maßnahmen, um wilden
Arten auf ihren Flächen Zeit und Raum
für ihre Entwicklung zu geben.


"Da geht noch was." "Das kann man
sich schöner vorstellen." Sätze, die ich
häre, als ich Gottwald begleite. Hier
könnte ein Feldsaum breiter sein, um
den wild lebenden Tier- und Pflanzen­
arten mehr Raum zu geben. Hier fehlt
eine Hecke als Rückzugsort für Insek­
ten. Dort ein Grünstreifen, der Amphi­
bien das Wandern zwischen Sommer­
und Winterquartier erleichtert.
Auch Ludolfvon Maltzan spart beim
Mähen von Seefelds Berg zwei Hektar
aus, damit das dort wachsende seltene
Sommer-Adonisröschen seine Samen
bilden kann. Er legt die Zeitpunkte der
Mahd so, dass Feldlerchen ihre Brut
aufziehen können. Frank Gottwald und
Landwirte wie Ludolfvon Maltzan, der
sagt: "Ich habe gelernt, dass meine Ver­
antwortung als Bauer nicht am Feld­
rand aufhört", dazu ein Verein im Dorf,
der die hiesigen Naturschutzflächen
pflegt: Gemeinsam haben sie bewirkt,
was man das Wunder von Brodowin
nennen könnte. Gegen den bundeswei­
ten Trend sinken die Bestandszahlen
zahlreicher Arten hier nicht, sie steigen.

Maria Büning
ermöglicht dem
Bentheimer Schwein
das Überleben
und ihren gefleckten
Prachtexemplaren
ein schönes Leben,
manchmal mit
Dusche. Die einst
beliebte Rasse mit
dem fettreichen
Fleisch war in den
1950ern plötzlich
nicht mehr gefragt

Besonders deutlich ist der Unterschied
bei Feldvögeln, etwa den Feldlerchen.
Anderswo im freien Fall, sind die Be­
stände in und um Brodowin im Aufwind.
Insgesamt 50 Prozent-21 000 Hek­
tar - des Biosphärenreservats werden
inzwischen pestizidfrei bewirtschaftet.
Die größte zusammenhängende Bio­
Anbaufläche Deutschlands. Die bran­
denburgischen Biobauern beliefern vor
allem den Berliner Markt. Viele Haupt­
städter, die sich für die Herkunft ihres
Essens interessieren, kommen auch
nach Brodowin. Zu Hotbesichtigungen.
Auf Kurzurlaub. Für ein paar Tage Bro­
dowin-Feeling.
Artenvielfalt ist Lebensqualität Beim
Baden in einem der nahen Seen beob­
achte ich Trauerseeschwalben, wie sie
Libellen fangen. Erstmalshöreich hier
den Ruf des Pirols. Feldlerchen, andern­
orts Raritäten, erspäht man, sobald man
nach ihnen Ausschau hält. Schlüssel­
blumen! Seit Kindheitszeiten nicht ge­
sehen. In lauen Nächten dringen die
dunklen Laute der Rotbauchunken bis
ins Dorf. Ist Brodowin bald überall?

B

10 BOOMT", höreich im Ra­
dio. "Bio gewinnt", titelt der
"Stern". Biobauern, so lese ich,
bewirtschaften mittlerweile
1,5 Millionen Hektar in Deutschland.
Das klingt, zugegeben, nach einer Men­
ge. Entspricht aber nur neun Prozent
der Gesamtfläche-immer noch weit
entfernt von der Zielvorgabe der Regie­
rungskoalition: 20 Prozent Ökoflächen
bis zum Jahr 2030.
Für das Bundesland, in dem ich zu
Hause bin, müsste die Überschrift so­
gar lauten: Bio dümpelt vor sich hin. In
Niedersachsen werden gerade vier Pro­
zent der landwirtschaftlichen Fläche
ökologisch bewirtschaftet. Umgekehrt
bedeutet das: Auf 96 Prozent der hiesi­
gen Flur betreiben Bauern konventio­
nellen Landbau, deutschlandweit sind
es rund 91 Prozent.
Während die Bauern in Brodowin
seit fast drei Jahrzehnten keine Pesti­
zide verspritzen, verharrte die konven­
tionelle Landwirtschaft nicht auf dem
Stand von 1990. Wer sich über ein kon­
ventionell bewirtschaftetes Kornfeld

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