GEO - 09.2019

(Nancy Kaufman) #1

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D l E INSEL l S T KLEIN. So klein, dass
die Geräusche des Meeres überall ins
Gehör dringen. 24 Stunden am Tag ein
einziges Plätschern, Schwappen, Rau­
schen, selbst im Innersten der Insel
nichts als Meer im Ohr.
So sieht es Maya.
Die Insel ist groß. So groß, dass sie
Japan in puncto Bevölkerungsdichte
schlägt, selbst Manhattan und Hong­
kong. Sie ist so bevölkert -bis zu 1200
Menschen auf nur wenig mehr als ei­
nem Hektar-, dass sie den Rekord hält
als die am dichtesten besiedelte Insel
der Welt.
So sieht es ihr Bruder Adrian.
Nein, die Insel ist erdrückend klein,
findet Maya. Sie ist so klein, dass Base­
ballspiele im Wasser stattfinden müs­
sen, mit Bojen als Basen, weil nirgend­
wo Platz ist für ein Sportfeld.
Die Insel ist groß, bedeutend. War­
um sonst kommen Menschen aus aller
Welt hierher, fragt Adrian, sogar die
große Bank Bancolombia für den Dreh
eines Werbespots? Sie ist eine Attrak­
tion in der Karibik, ein Spektakel afro­
kolumbianischer Lebensfreude.

F


ÜR MEINE TRÄUME istdie
Insel zu klein", sagt Maya,
20, die längst ausgewandert
ist zum Studieren und es
nur noch in den Ferien hier
aushält. Sie will Architektin werden.
"Für meine Träume ist die Insel groß
genug", sagt Adrian, 21. Er will hier
Bürgermeister werden. So gehen die
Geschwister de Hoyos in eine neue, eine
besondere Woche. Große Ereignisse ste­
hen an. Für Adrian die bislangwichtigs­
te Mission zur Rettung der Tortugas,
der Meeresschildkröten. Für Maya der
Besuch Hunderter neugieriger Touris­
ten, die sie in Kleingruppen über diese
einzigartige Insel führt.

Sechs Uhr morgens im Oktober, Re­
genzeit, 25 Grad, sie nennen das Win­
ter. Adrian steigt behäbig aus dem Bett
in der frisch errichteten Backsteinhütte
im Viertel Villa Rosita. Sie ist der Stolz

Maya genervt. "Man muss eben kreativ
sein", erwidert Adrian grinsend.
Der Morgen kommt plötzlich auf Is­
lote, Teil des San-Bernardo-Archipels,
vier Stunden mit dem Fischerboot von
der Familie, zwei Zimmer, 18 Quadrat- der Kolonialstadt Cartagena an der ko­
meter, gebaut aus Stein, auch aus Treib- lumbianischen Karibikküste entfernt.
holz, Korallen und was das Meer sonst Nach einer kurzen Dämmerung ist der
noch so hergibt. Tag schon da, abrupt in seiner Heilig-
Neben ihm im Bett schlafen sein äl- keit, erbarmungslos in seiner tropischen
terer Bruder Albeiro und darunter in Hitze auf diesem künstlichen Eiland
einer Kunststoffschale fünf Schildkrö- fast ohne Bäume.
tenbabys. Maya teilt das Bett mit ihrer Santa Cruz del Islote ist die mit Ab-
Mutter Maria und einer Cousine. stand kleinste der zehn Inseln des Ar-
Platz ist knapp auf Santa Cruz del Is- chipels, aber das unumstrittene Herz.
lote, liebevoll Islote genannt. Die 1200 Vor 149 Jahren wurde sie künstlich auf
Menschen wohnen in etwa 100 Hütten einem Korallenriff errichtet, um den
und Häusern auf der Größe eines Fuß- Mücken und sonstigen Plagen der an­
ballfeldes. Ein eigenes Zimmer gibt es deren zu entkommen. Sie hat die meis­
für kaum jemanden, nicht mal für Ehe- ten Einwohner und die einzige Schule,
paare. Jedes Haus berührt ein anderes. sie stellt die Arbeiter und die Fischer,
Der öffentliche und der private Raum hier finden die Rumba-Feste statt, die
verschmelzen miteinander. Die Haus- Hahnenkämpfe, das pralle Leben.
tür ist ein Teil der Gasse und die Gasse Islote ist die Steinwüste in der üppig
gleichzeitig der Bolzplatz. bewachsenen Karibik, die größtmögli-
"Für Jugendliche gibt es keine Win- ehe Urbanität inmitten des Meeres -
kel, um mal in Ruhe zu knutschen", sagt und besonders bedroht vom Anstieg des

Adritm de Hoyos spielt mit einem Ammenhai in einem Wasser­
becken der Insel. Darin können Besucher mit Rochen, kleinen
Fischen und harmlosen Haien schwimmen. Adrian ist Anführer
einer Umweltbrigade und versteht sich als Retter des Meeres

GEO 09 2019
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