GEO - 09.2019

(Nancy Kaufman) #1

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1 Es r s T derbes­
te Flughafen des
Universums. Es
ist eine vollauto-
matische Welt, in
der Roboter Mahlzeiten verpacken und
Gepäck transportieren, selbstfahrende
Autos Dokumente überbringen und
Computersysteme den Passagier eigen­
mächtigvom Taxi zum Gate geleiten.
Eine Welt der Schätze von Prada und
Yves Saint-Laurent, der Genüsse aus
Indien, Japan, Paris. Eine Entertain­
ment-Welt mit Kinos, Zwölf-Meter-Ru t­
sche und Pool auf dem Dach. Eine grüne
Welt, mit Schmetterlingspark, Kakteen­
garten und dem höchsten Indoor-Was­
serfall der Erde. Im Ranking der Luft­
fahrt-Ratingfirma Skytrax steht er seit
Jahren regelmäßig auf Platz eins.
Doch Changi, Singapurs internationa­
ler Flughafen, ist auch eine strenge Welt.

Eine Welt der vorgeschriebenen Wege,
der Personenleitsysteme, der sanften
Alternativlosigkeit, die die Passagiere
durch Security und Duty-free-Bereich
führt. Eine Welt der Kontrolle aus mehr
als zweitausend Kameras, demnächst
auch mit Gesichtserkennung, um säu­
mige Fluggäste aufzustöbern. Eine be­
waffnete Welt, bemannt mit Armeen
von Sicherheitskräften, die auch nicht
zögern, arglos Schlafende zu wecken
und sie mit vorgehaltener Waffe nach
dem Ausweis zu fragen.
Doch zugleich ist Changi ein Tor in
den Himmel, ins Unbegrenzte -in die
Zukunft.
In anderen Städten ist es möglich,
den Flughafen zu verlassen. In Singa­
pur scheint es, alshörteer einfach nicht
auf. Es ist, als hätte er seine Grenzen
gesprengt, wäre übergequollen wie der
süße Hirsebrei im Märchen, hätte die
ganze Insel überwuchert mit seiner Per­
fektion, seiner Ordnung, seinem Kom­
fort -bis hin zu deren grünem Kern,
dem Dschungelreservat von Bukit Ti­
mah, mit seinen betonierten Wegen,
mit Blitzableitern an Bäumen und mit
Affen, deren Fütterung 44 000 Euro
Strafe kosten kann. Bis zu den Strän­
den der vorgelagerten Insel Sentosa,
die man auf Laufbändern aus Gummi

VERBOTENE
STOFFE
Singapurs
Straßen sehen
aus wie geleckt.
Kaugummi
etwa war lange
verboten, heute
bekommt man
es nur zu thera­
peutischen
Zwecken in der
Apotheke. Die
Stadt ist für ihre
strengen Regeln
berüchtigt: Wer
Müll achtlos
wegwirft, zahlt
hohe Strafen

erreicht, ganz, wie man sie vom Changi
Airport gewohnt ist.
So ist Singapur selbst zum Flughafen
geworden. Ein klimatisiertes Reich des
Konsums und der Überwachung, der
Verführung und des sanften Zwangs,
des inszenierten Vergnügens und der
gelenkten Schritte. Und zugleich ein
Ort des Aufbruchs, des ewigen Transits,
der Globalisierung- kein Wunder, dass
gerade die Nomaden des modernen Ka­
pitalismus sich hier be­
sonders wohlfühlen: Bei
einer Umfrage der Lon­
doner HSBC-Bank wähl­
ten mehr als 27000 Ex­
pats aus 159 Ländern den
Stadtstaat Singapur zum
angenehmsten Wohnort
der Erde.

BER WOMÖGLICH istdie­
ses Singapur auch ein La­
bor für den Rest der Welt.
Womöglich ist Singapur:
unsere Zukunft. Die Insel Singapur. Ein
winziger Punkt unter dem Ausrufezei­
chen der malaysisch-thailändschen
Halbinsel, dem südöstlichen Zipfel des
asiatischen Kontinents.
Ein Fleck von der Fläche Hamburgs,
auf dem sich jedoch dreimal so viele
Einwohner drängen-zusammengewür­
felt wie Fluggäste, zu 74 Prozent chine­
sischer, zu 13 Prozent malaiischer und
zu neun Prozent indischer Herkunft.
Und so wie in einem Flughafen gibt es
auch hier, gut 140 Kilometer nördlich
des Äquators, keine richtigen Jahres­
zeiten: Jeden Tag wird es um die 30
Grad heiß, und die Luftfeuchtigkeit fällt
selten unter 70 Prozent.
Und wie in einem Flughafen ist das
Gestern gezähmt. Mühsam sucht man so
etwas wie Patina, Spuren von Drama.
Das mag dar an liegen, dass der Staat so
jung ist: erst gut fünfzig Jahre alt, jün­
ger als ein großer Teil seiner Bewohner.
Und weil bereits seit der 1959 errunge­
nen weitgehenden Selbstverwaltung eine
einzige Partei das Land so gut wie ohne
Opposition regiert, die People's Action
Party des Staatsgründers Lee Kuan Yew,
fand auch anschließend wenigvon dem
statt, was man Geschichte nennt.

GEO 09 2019
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