Die Welt Kompakt - 11.09.2019

(Darren Dugan) #1

POLITIK DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MITTWOCH,11. SEPTEMBER 2019 SEITE 5


S


awsan Chebli (SPD)
ist zurückhaltend mit
Interviews. Die An-
feindungen, denen die
Berliner Staatssekretärin bei-
nahe täglich ausgesetzt ist, ha-
ben sie vorsichtig werden las-
sen. Für viele ist die Tochter pa-
lästinensischer Einwanderer ei-
ne Reizfigur. Im Interview sagt
die 41-Jährige, warum das so ist.

VON SABINE MENKENS

WELT: Frau Chebli, Sie sind
Staatssekretärin für Bürger-
schaftliches Engagement und
Internationales. Wie definie-
ren Sie Ihre Aufgabe?
SAWSAN CHEBLI: Meine Auf-
gabe ist es, die Zivilgesellschaft
darin zu bestärken, sich zu en-
gagieren. Eine aktive, wache Zi-
vilgesellschaft ist der beste
Schutz für unsere Demokratie.
In dem Moment, wo Menschen
in einer Zuschauerrolle verhar-
ren, wird es gefährlich. Das wis-
sen wir aus der Geschichte.
Meine Aufgabe ist es, Struktu-
ren zu schaffen, die das Engage-
ment fördern – und dafür zu
sorgen, dass Engagement Aner-
kennung erfährt. Hier haben
wir einiges auf die Beine ge-
stellt in den letzten zwei Jah-
ren. Außerdem gehört es zu
meinen Aufgaben, unsere Städ-
tepartnerschaften mit Leben zu
füllen. Städte sind Anker für
Demokratie und Sehnsuchtsor-
te für Menschen, die nach Frei-
heit streben. Dabei gehört die
Zuwanderung zur DNA von Me-
tropolen.

Wenn man Ihre Tweets liest,
könnte man zu dem Eindruck
gelangen, dass Sie eher
Staatssekretärin für Polemik
und Polarisierung sind. Sie er-
zeugen mit vielen Ihrer Mei-
nungsäußerungen extreme
Reaktionen. Ist das Absicht?
Verknappung bringt zuweilen
Zuspitzung mit sich, das ist das
Prinzip von Twitter. Ich bin in
die Politik gegangen, um die
Gesellschaft aktiv mitzugestal-
ten. Und ich kämpfe für ein
weltoffenes, vielfältiges und
freies Deutschland, ein
Deutschland ohne Rassisten,
Antisemiten und Muslimhasser.
Das stört alle, die ein homoge-
nes Deutschland wollen. Für sie
verkörpere ich alles, was es aus
ihrer Sicht nicht geben soll: ei-
ne Muslima, die für sich bean-
sprucht, genauso Deutsche zu
sein wie sie. Eine Muslima, die
ein politisches Amt bekleidet
und in diesem Land Karriere
macht. Im Übrigen nutze ich
Twitter privat.

Wie gehen Sie mit den Angrif-
fen um? Denken Sie manch-
mal daran, die Politik aufzu-
geben?
Nein. Rückzug ist keine Option.
Als Demokraten müssen wir
unsere Stimme erheben und
Flagge zeigen gegen diejenigen,
die versuchen, unsere Demo-
kratie zu zerstören.

Sie sind kürzlich von der F.-
C.-Flick-Stiftung gegen Frem-
denfeindlichkeit mit dem
Steh-auf-Preis für Ihren
Kampf gegen Judenhass ge-
ehrt worden. Was bedeutet
Ihnen die Auszeichnung?
Der Preis bedeutet mir sehr
viel. Er ist Ansporn und Ermu-
tigung, nicht nachzulassen,
auch wenn es nicht immer
leicht ist. Und ich hoffe, dass
sich noch viel mehr Menschen,
Muslime wie Nichtmuslime,
dem Kampf gegen Antisemitis-
mus anschließen.

Sie haben dieses Jahr am Al-
Kuds-Tag demonstrativ eine
proisraelische Gegendemons-
tration besucht – und an-
schließend zugegeben, dass es
nicht leicht gewesen sei. Die
Kritik kam von allen Seiten.
Ich wollte mit meiner Präsenz
zum Ausdruck bringen, dass
Antisemitismusin Deutschland
keinen Platz hat, dass das Exis-
tenzrecht Israels unantastbar
ist. Die einen werfen mir vor,
als Tochter palästinensischer
Eltern nicht glaubwürdig gegen
Antisemitismus auftreten zu
können. Und die anderen mei-
nen, ich gäbe meine palästinen-
sische Identität auf.

Mit der Zuwanderung aus der
arabischen Welt hat auch der
importierte Antisemitismus
zugenommen.
Ich bin für Klartext. Dazu ge-
hört es anzuerkennen, dass vie-
le Menschen auch aus Ländern
zu uns gekommen sind, in de-
nen Israel nicht anerkannt und
Judenhass Staatsdoktrin ist. Ich
war selbst mit einer Flücht-
lingsklasse in Sachsenhausen
und weiß, wie wichtig es ist, ih-

nen die deutsche Geschichte
näherzubringen. Ich wehre
mich aber gegen die Versuche,
vom eigenen Antisemitismus
abzulenken. In Post-Holocaust-
Deutschland wollen sich einige
offenbar so entlasten. Ich
kämpfe dafür, dass alle, auch
Muslime, verstehen: Der An-
griff auf Juden ist ein Angriff
auf uns alle.

Inwiefern?
Fritz Bauer, der große Staats-
anwalt und Nazi-Jäger, hat in
Frankfurt am Landgericht die
Worte aus unserer Verfassung
„Die Würde des Menschen ist
unantastbar“ anbringen lassen.
Da steht nicht „Deutsche“ oder
„Christen“ oder irgendetwas
anderes, da steht „Mensch“.
Wer das nicht akzeptiert, der
greift uns alle an.

Sehen Sie viel Islamfeindlich-
keit in Berlin?
Muslime gehören nach Sinti
und Roma zu den am meisten
abgelehnten Minderheiten in
Deutschland. Moscheen wer-
den angegriffen und Menschen,
die als Muslime erkennbar sind,
beleidigt und attackiert.

Spüren Sie das im persönli-
chen Umfeld?
Ich selbst erlebe Anfeindungen,
wie ich sie zuvor nie erlebt habe.
Meine Schwestern, die ein Kopf-
tuch tragen, werden angegriffen,
Kopftücher werden vom Kopf
gerissen, Kopftuchträgerinnen
angespuckt. Es gibt Statistiken,
die eine Diskriminierung von
Muslimen auf dem Arbeits- und
WWWohnungsmarkt offenbaren.ohnungsmarkt offenbaren.
Fakt ist: Die AfDgewinnt nicht
trotz, sondern wegen ihrer anti-
muslimischen Agenda.

Wie wichtig ist Ihnen Ihr
Glaube?
Ich bin praktizierende Muslima.

Eine, die sich entschieden hat,
kein Kopftuch zu tragen.
Ich möchte, dass jede Frau frei
entscheiden kann, ob sie das
Kopftuch trägt oder nicht.

Das Miteinander der Kulturen
hat in Berlin lange Tradition.
Wie kann man eine Einwan-
derungsgesellschaft auf ge-
meinsame Ziele und Werte
verpflichten? Und welche Zie-
le und Werte können das sein?
Unser Grundgesetz und die
ihm zugrunde liegenden uni-
versellen Werte bieten eine her-
vorragende Basis für die Ver-
wirklichung unterschiedlichs-
ter Lebensentwürfe und ste-
cken zugleich den Rahmen hier-
für ab. Ich wünschte mir, dass
wir alle wieder mehr Respekt
für die Pluralität von Lebens-
entwürfen hätten, ohne einan-
der abzuwerten. Das macht ei-
ne demokratische Kultur aus.

Was gehört für Sie zu einer
gelungenen Integration? Und
wo beginnt für Sie die Assimi-
lation?
Der Begriff Integration wird
heute zum Teil nur als Bring-
schuld der Migranten verstan-
den, die diese durch Anpassung
und Nützlichkeit einzulösen
haben. Dabei gibt es ja auch
Menschen ohne Migrationshin-
tergrund, die sich vom Staat
und der Gesellschaft abwen-
den. Mir geht es deshalb viel-
mehr um Teilhabe in allen Be-
reichen der Gesellschaft. Für
Neuankömmlinge ist die Basis
hierfür, die Sprache zu erler-
nen und etwas über die Ge-

schichte, Kultur und Traditio-
nen dieses Landes zu erfahren.
Deshalb ist es gut, dass es heu-
te Integrationskurse und
Deutschkurse für die Geflüch-
teten gibt, die es damals bei der
Ankunft meiner Eltern nicht
gab. Schließlich funktioniert ei-
ne Gesellschaft nur, wenn bei-
de Seiten bereit sind, aufeinan-
der zuzugehen.

Bildungsforscher beklagen,
dass gute Bildung nach wie
vor zu sehr vom Elternhaus
abhängig sei. Wie ist Ihnen
der Bildungsaufstieg gelun-
gen?
Meine Eltern konnten zwar we-
der lesen noch schreiben, den-
noch haben sie mir immer ver-
mittelt, dass Bildung der einzi-
ge Schlüssel ist, um weiterzu-
kommen. Als ich in die Grund-
schule kam, konnte ich kaum
Deutsch. Aber die Lehrer waren
unglaublich zugewandt und
verständnisvoll. Sie haben mich
aufgefangen und gefördert. Sie
haben erkannt: Das Mädchen
hat Potenzial.

Und wenn man diesen Rück-
halt nicht hat?
Lehrer können nicht die Eltern
ersetzen. An Berliner Schulen
gibt es zusätzlich Mediatoren
und Mentoren und auch Nach-
hilfeunterricht, um Kindern
mit Lernschwierigkeiten zu
helfen, den Anschluss zu fin-
den. Wir wollen nicht, dass
auch nur ein einziges Kind ohne
Abschluss die Schule verlässt.
Auch die Zivilgesellschaft ist
gefragt. Ich bin Schirmherrin
des Projekts „Seniorpartner in
School“. Das sind Senioren, die
Kinder mit Schwierigkeiten an
die Hand nehmen und beglei-
ten. Kein Kind kommt dumm
auf die Welt.

Viele Menschen haben Angst
vor der Mammutaufgabe, die
vielen Flüchtlinge in den
Schulen und in der Stadt zu
integrieren.
Das ist ja auch kein Kinderspiel
und erfordert Anstrengung.
Gleichzeitig erleben wir, wohin
der Missbrauch des Themas Mi-
gration durch die AfD führt. Je-
den Tag werden im Schnitt in
Deutschland zwei Flüchtlinge
angegriffen. Darüber berichtet
kaum jemand. Auch nicht darü-
ber, dass es inzwischen viele
Flüchtlinge gibt, die etwas zu-
rückgeben, sich engagieren.
Deshalb haben wir den Preis
„Farben bekennen“ ins Leben
gerufen. Damit wollen wir weg
vom Image des Geflüchteten
als Opfer oder Bittsteller hin zu
dem Bild, dass diese Menschen
dem Land auch etwas zurück-
geben. In diesem Jahr zeichnen
wir Geflüchtete aus, die ein Un-
ternehmen gegründet haben.
Damit wollen wir zeigen: Made
in Germany hat viele Gesichter.
Meine Hoffnung ist, dass der
Preis dabei hilft, den Angstma-
chern Mut und Zuversicht ent-
gegenzusetzen.

THOMAS KOY

„Kopftücher vom


Kopf gerissen,


Trägerinnen


angespuckt“


Die Berliner Staatssekretärin


Sawsan Chebli wird oft für ihre


Aussagen angefeindet. Ihre Kritiker


charakterisiert sie als Menschen, die


ein homogenes Deutschland wollten

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