DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MITTWOCH,11.SEPTEMBER2019 POLITIK 9
Pressekonferenz betonte, dass
ein ungeregelter Brexit alles an-
dere sei als „ein klarer Schnitt,
vielmehr beginnt dann eine neue
Phase“ mit Verhandlungen in
unzähligen Bereichen. Die zäh
würden, so steht zu erwarten,
wenn sie auf Basis eines bitteren
„No Deal“ stattfinden.
Zuletzt hatte Johnson einen
neuen Köder ausgeworfen, der in
Wahrheit ein alter ist. Er sprach
davon, dass Nordirland im Be-
reich der Lebensmittelversor-
gung im EU-Rechtsrahmen blei-
ben könnte. So könnte die Gren-
ze offen gehalten und der um-
strittene „Backstop“ umgangen
werden. Der „Backstop“ ist eine
Rückfalloption, durch die Groß-
britannien in der Zollunion und
im EU-Binnenmarkt bleibt, wenn
am Ende der zweijährigen Über-
gangszeit keine technologischen
Lösungen für die Grenze gefun-
den sind. An dieser Vertragsklau-
sel aber ist der von Theresa May
vereinbarte Deal drei Mal im Un-
terhaus gescheitert.
Auch Johnsons neuer Vor-
schlag birgt mindestens zwei
D
ie nächtlichen Tumulte
am frühen Dienstagmor-
gen im Unterhaus konn-
ten nichts mehr ändern: Das Par-
lament ist jetzt in der Zwangs-
pause. Premier Boris Johnson
hat damit die Herzkammer der
britischen Demokratie stillge-
stellt. Er muss keine Blockaden
mehr fürchten oder öffentlich
Rechenschaft für seine Brexit-
Politik ablegen.
VON STEFANIE BOLZEN
AUS LONDON
Trotzdem hilft diese radikale
Maßnahme dem Konservativen
nicht wirklich weiter. Seine idea-
le Lösung wäre es gewesen, noch
vor dem Ausstiegsdatum 31. Ok-
tober eine Neuwahl zu gewinnen
und diese als Mandat der Nation
für einen No-Deal-Brexit zu be-
anspruchen. Beides hat das Par-
lament nun blockiert. Wie könn-
te es weitergehen?
- Johnson bricht das Gesetz
Seine Minister haben in den ver-
gangenen Tagen auf allen Kanä-
len versichert, dass der Premier
dem gesetzlich verankerten Par-
lamentsauftrag folgen werde: die
Europäische Union um eine Ver-
längerung der Brexit-Frist bis
zum 31. Januar zu bitten. Das
aber passt nicht zusammen mit
Johnsons Schwur in der vergan-
genen Woche, er werde „lieber
tot im Graben liegen“, als genau
das zu tun. In Tory-nahen Me-
dien wird spekuliert, dass er dem
EU-Gipfel Mitte Oktober den
Brief des Parlaments zwar über-
gibt. Diesen aber mit einem wei-
teren Schreiben begleitet, der
die Ablehnung dieses Schritts
durch seine Regierung klarstellt.
Die Europäer wären dann im
Dilemma. Sie haben immer ge-
sagt, dass sie den Briten eine Ver-
längerung geben, wenn London
dafür einen guten Grund hat, et-
wa eine Neuwahl oder ein zweites
Referendum. Johnson könnte
sich dem aber verweigern und
einfach die 13 Tage zwischen EU-
Gipfel und Brexit-Frist tatenlos
aussitzen. Dann fielen die Briten
auf Basis des international bin-
denden Artikel-50-Verfahrens
des EU-Vertrags am 31. Oktober
aus der EU. Johnsons Gegner im
Parlament haben allerdings
schon Juristen beauftragt, recht-
liche Gegenmaßnahmen für die-
sen Fall auszuarbeiten. Möglich
wäre, dass die Regierung gestürzt
wird und dann ein Interimspre-
mier die Verlängerung erbittet
oder sogar das Brexit-Gesuch
vom März 2017 zurücknimmt.
Rechtlich ist dies durch ein Urteil
des Europäischen Gerichtshofs
vom Dezember 2018 möglich. - Johnson macht noch einen
Deal Am Montag besuchte John-
son seinen irischen Amtskolle-
gen Leo Varadkar in Dublin. Ent-
gegen seiner vorherigen „No
Deal, auf Leben und Tod“-Linie
schien Johnson plötzlich sehr an
einem Abkommen interessiert.
Zumal Varadkar einen verbalen
Seitenhieb landete, als er sehr
deutlich bei einer gemeinsamen
Probleme. Zwar machen Produk-
te für die Lebensmittelversor-
gung rund 80 Prozent des grenz-
überschreitenden Handels aus.
Aber was passiert mit dem letz-
ten Fünftel der Waren? Laut EU-
Kommission hat London keine
belastbaren Analysen vorgelegt,
wie Technologie deren Kontrol-
len ohne die Notwendigkeit phy-
sischer Infrastruktur möglich
macht. Zum anderen hatte Brüs-
sels Chefunterhändler Michel
Barnier schon vor Monaten eine
solche Sonderwirtschaftszone
für Nordirland vorgeschlagen.
Das aber war von May katego-
risch zurückgewiesen worden.
„Kein britischer Premierminis-
ter könnte dem jemals zustim-
men“, schwor sie.
Der Grund: Die nordirischen
Unionisten sehen eine Grenze in
der Irischen See zwischen Groß-
britannien und der Insel Irland
entstehen und damit die territo-
riale Integrität gefährdet. Die
nordirische DUP, bis vergangene
Woche Mehrheitsbeschaffer der
Konservativen, hatte Barniers
Idee als „Abkoppelung vom Mut-
terland“ strikt abgelehnt. DUP-
Chefin Arlene Foster schlug am
Dienstag bereits in London auf,
um Johnson ihren Unmut per-
sönlich zu demonstrieren.
- Verlängerung und Neuwahl
Der Premier könnte gegen sein
ausdrückliches Versprechen
doch in Brüssel um eine Frist bis
Ende Januar bitten. Diese wird
er bekommen, wenn er als
Grund eine Neuwahl angibt.
Dass er die Nation nicht wie be-
schworen am 31. Oktober aus der
EU geführt hat, könnte ihn zwar
viele Stimmen der Brexit-Fans
kosten. Aber wenn Johnson ei-
nen Wahlkampf führt mit dem
eisernen Versprechen des „No
Deal“ am 31. Januar, könnte er
genug Stimmen für eine Mehr-
heit im Parlament bekommen.
Bei der für November erwarte-
ten Neuwahl würden für seine
Tories nur echte Brexit-Anhän-
ger antreten. Mithin hätte John-
son im Unterhaus die Blockade
des ungeordneten EU-Ausstiegs
ausgeräumt.
JJJohnson setzt weiter auf Konfrontation mit Parlament und EUohnson setzt weiter auf Konfrontation mit Parlament und EU
DPA
/NIALL CARSON
ten des Quai d’Orsay, die sich an-
gesprochen fühlen mussten,
trauten ihren Ohren kaum.
Vorangetrieben haben diese
Neuausrichtung der französi-
schen Russlandpolitik zwei ehe-
malige Minister, denen der Präsi-
dent sein Ohr gelegentlich leiht.
Der Sozialist Hubert Védrine, der
Außenminister in einer Kohabi-
tationsregierung unter dem kon-
servativen Präsidenten Jacques
Chirac war, und der ehemalige
Verteidigungs- und Innenminis-
ter Jean-Pierre Chevènement.
Laut Védrine geht es darum, eine
„realistischere Beziehung zu
Russland aufzubauen“, um zu
verhindern, dass das Land „Chi-
na in die Arme gestoßen wird.“
Dahinter stecke „pragmatisches
Kalkül“ und „keine Ideologie“, so
Védrine. Man müsse dieses Pro-
jekt so weit wie möglich voran-
treiben, damit der nächste ameri-
kanische Präsident – sei das nun
Trump oder ein Demokrat – die
europäische Position nicht mehr
ignorieren könne, findet der ehe-
malige Außenminister.
Chevènement, der auf der po-
litischen Landkarte Frankreich
als Links-Gaullist gilt, also als
Linker, der von der Widererlan-
gung vergangener nationaler
Größe träumt, sieht das ähnlich:
Frankreich dürfe einen Bedeu-
tungsverlust seiner eigenen Au-
ßenpolitik nicht gestatten und
Russland gegenüber zu einer
„Geisel der amerikanischen Di-
plomatie“ werden oder jener
Länder, die sich vor Russland
„schrecklich fürchten“.
Macron scheint offensichtlich
auch die Gunst der Stunde nut-
zen zu wollen, in der ihm der
schleichende Machtverlust Ange-
la Merkels erlaubt, zur bestim-
menden Kraft in der europäi-
schen Außenpolitik zu werden.
Die Wiederannäherung Frank-
reichs an Russland ist dabei ein
entscheidender Schritt. Jetzt sei
die Zeit, die Initiative zu ergrei-
fen und „echte Gesten wie am
Ende des Kalten Krieges“ zu ma-
chen, sagte beinahe euphorisch
der ehemalige Diplomat Pierre
Vimont der Zeitung „Le Monde“.
Vimont forscht heute am Carne-
gie-Institut und gilt als Mann,
dessen Wort im Élysée Gewicht
gie-Institut und gilt als Mann,
dessen Wort im Élysée Gewicht
gie-Institut und gilt als Mann,
hat. Vimont weiß allerdings auch,
dass „viele unserer Partner sehr
zurückhaltend sind“, wenn es um
die Vorschläge des französischen
Präsidenten zu Russland geht.
Am zögerlichsten seien nicht die,
die am weitesten im Osten säßen.
Ende September soll in Paris ein
Gipfel im sogenannten Norman-
die-Format stattfinden, also ein
Treffen, an dem neben dem Gast-
geber Russland die Ukraine und
Deutschland teilnehmen, um
auszuloten, ob das Minsker Ab-
kommen wiederbelebt werden
kann. Spätestens da wird sich
weisen, wie vereinbar Macrons
neue Russlandstrategie mit der
unromantischen Haltung der
Bundeskanzlerin gegenüber
Moskau ist.
AFP
/GERARD JULIEN
Alle Wege
von Boris
Johnson
führen
Richtung
Chaos
Großbritanniens
Premier hat das
Unterhaus
stillgelegt. Jetzt
muss er keine
Blockaden mehr
fürchten. Seine
Handlungsoptionen
sind trotzdem
sehr begrenzt