Frankfurter Allgemeine Zeitung - 06.09.2019

(Nandana) #1

SEITE 12·FREITAG, 6. SEPTEMBER 2019·NR. 207 Neue Sachbücher FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Die globale Erwärmung schärft den Blick
aufdie Zeit. Zum einen erscheint die Zu-
kunft heute nicht mehr als vielverspre-
chender Horizont, zum anderen holt uns
die Vergangenheit immer häufiger ein. So
haben die schmelzenden Eismassen
Grönlands im Sommer 2016 einen versun-
kenen, mit Giftmüll vollgestopften Mili-
tärstützpunkt der Vereinigten Staaten aus
dem Kalten Krieg wieder freigegeben.
Zur selben Zeit tauten auf der Jamal-Halb-
insel 11 600 Quadratkilometer Perma-
frost und förderten Kadaver von Rentie-
ren zutage, welche vor siebzig Jahren an
Milzbrand verendet waren. Die Sporen
des Bakteriums „Bacillus anthracis“ hat-
ten im gefrorenen Boden überlebt, bevor
sie sich mit dem Wind verbreiteten und
mehrere Menschen infizierten. Ein Junge
starb. Epidemiologen betrachten arkti-
sche Friedhöfe als Reservoir zahlreicher,
zum Teil noch unbekannter Keime. In der
Tiefe, so ihr Appell, lauern Gefahren, auf
die wir uns vorbereiten sollten.
Robert Macfarlane, einer der promi-
nentesten zeitgenössischen Vertreter des
„Nature Writings“ und Literaturdozent
an der Universität von Cambridge, berich-
tet in seinem neuen Buch immer wieder
von Dingen, die in verborgenen Schich-
ten schlummern, um schließlich mit aller
Macht aufzutauchen. Dabei widmet er
sich unterirdischen Welten in Großbritan-
nien und Frankreich, Italien und Slowe-
nien, Skandinavien und Grönland. Höh-
len und Grotten seien stets dazu genutzt
worden, um Schädliches zu entsorgen,
Kostbares zu schützen und Wertvolles
hervorzubringen. Man assoziiere sie mit
Dreck und einer der schlimmsten Ängste
überhaupt: Klaustrophobie. Allein die
Schilderung von Menschen, die unter der
Erde eingeschlossen sind, kann Beklem-
mung auslösen – was Macfarlane drama-
turgisch einzusetzen weiß. Zum Beispiel
zitiert er jenen Passus aus Alan Garners
Roman „Der Zauberstein von Brisinga-
men“, in dem zwei Kinder in einen engen

Stollen krabbeln und wie lebendig begra-
ben wirken.
Kaum besser ergeht es ihm selbst,
wenn er in einem mehrtägigen Gewalt-
marsch die weitläufigen, eigentlich ge-
sperrten Teile der Pariser Katakomben er-
kundet. Schon Walter Benjamin war be-
eindruckt von dieser Stadt unter der
Stadt, von ihrem „blitzdurchzuckten, pfiff-
durchgellten Dunkel“. Manche Abschnit-
te erweisen sich als bequem passierbar,
andere verlangen den „kataphilen“ Besu-
chern einiges ab: „Ich gehe mit vorgeneig-
tem Hals, dann mit gekrümmten Schul-
tern, dann muss ich in der Hüfte einkni-
cken und zuletzt auf die Knie runterge-
hen und kann nur noch kriechen.“
„Im Unterland“, so der Titel der Mono-
graphie, lässt sich keinem bestimmten
Genre zuordnen. Der Autor ist selbstbe-
wusst genug, eine Vielzahl von Darstel-
lungsformen miteinander zu kombinie-

ren: Reportage, Abenteuerbericht, Essay
und Naturbetrachtung. Neben erklären-
den Passagen und Analysen finden sich
solche Sätze: „Durchs Flussbett, durch
Ginster und Farnkraut, aus dem die Wa-
cholderdrosseln schnarrend-knarrend
nach Westen lodern. Schwalben im Tief-
flug über den Auen, die luftige Wärme
des Nordostwinds.“ Lyrische Versenkun-
gen ist man von Macfarlane gewohnt, der
sich hier abermals als Sprachakrobat ent-
puppt und auch die mit dem Unterland
verbundene Metaphorik kommentiert:
„Etwas ‚Erhebendes‘ ist angenehmer, als
‚niedergeschlagen‘ oder ‚am Boden‘ zu
sein.“ Auf der anderen Seite verweise das
englische Verb für „verstehen“ – „to un-
derstand“ – noch auf die alte Bedeutung:
„unter etwas gehen, um es in seiner Gän-
ze zu erfassen“.
Eine Gemeinsamkeit aller Unterwel-
ten ist Macfarlane zufolge jene Einheit,

mit der man ihre Dauer berechnet – die
geologische Zeit. Sie stecke in Steinen,
Stalaktiten und Ablagerungen auf dem
Meeresgrund. Die erste bekannte Höhlen-
malerei in Europa soll rund 65 000 Jahre
alt sein; Forscher analysieren Eiskerne,
die seit 130 000 Jahren gefroren sind; wir
lernen einen Physiker kennen, der nach
Dunkler Materie sucht – in einer unterirdi-
schen Kammer aus Steinsalz, das zurück-
geblieben ist, nachdem ein Binnenmeer
vor 250 Millionen Jahren verdunstete.
Der Autor versucht nicht, die Ausschnitt-
haftigkeit seines Themas mit Argumenta-
tionsketten und intellektuellen Volten zu
verschleiern. Lieber spannt er ein erzähle-
risches Netz von der Vergangenheit in die
Zukunft, um uns mit sanfter Härte zu sa-
gen, wie es mit der Menschheit ausgehen
wird: „Was von uns überlebt, sind Plastik,
Schweineknochen und Blei-207, das stabi-
le Bleiisotop am Ende der Zerfallsreihe
des radioaktiven Uran-235.“
Macfarlane hat schon Gipfel erklom-
men („Berge im Kopf“, 2003), unver-
fälschte Winkel Großbritanniens ausge-
kundschaftet („Karte der Wildnis“, 2007)
und historische Routen inspiziert („Alte
Wege“, 2012). Mit seinen Überlegungen
zum Unterland kommt er dem Menschen
näher als je zuvor. Deswegen sinniert er
lange über den geläufigen Vorschlag, die
Epoche, in der wir leben, Anthropozän
zu nennen. Das berührt den Kern des
Buchs, führt doch jede Reise in die Tiefe
bei Macfarlane zur gleichen Frage: Sind
wir unseren Nachfahren verantwortungs-
bewusste Vorfahren? KAI SPANKE

Seit dem Putschversuch vom Juli 2016
hat sich die Türkei zu einem der journa-
listenfeindlichsten Länder der Welt ent-
wickelt. Dutzende Pressevertreter wur-
den verurteilt oder angeklagt, meist we-
gen angeblicher Terrorpropaganda oder
-unterstützung. Oft warteten sie monate-
lang im Gefängnis auf eine Anklage-
schrift. Wie drastisch selbst solche Jour-
nalisten aus ihrem Leben gerissen wer-
den können, die vermeintlich harmlose
Arbeit verrichteten, veranschaulicht der
Haftbericht Meşale Tolus. Die kurdisch-
stämmige Ulmerin war neben Deniz Yü-
cel das wohl bekannteste Gesicht der Kri-
se im deutsch-türkischen Verhältnis in
den Jahren 2017 und 2018. Festgenom-
men von einer Spezialeinheit im Morgen-
grauen eines Apriltags in Istanbul, wur-
de die Mitarbeiterin der sozialistischen
Nachrichtenagentur ETHA der Mitglied-
schaft in einer Terrorgruppe beschul-
digt. Dass es sich dabei um ein „Schau-
spiel“ handelte, wurde Tolu rasch klar:
„Ich war zwar Hauptdarstellerin, hatte
aber keinerlei Einfluss auf das Gesche-
hen“, schreibt sie über die absurden An-
hörungen, deren Ergebnis schon zuvor
feststand.
Fast acht Monate ist sie in Untersu-
chungshaft, und was Tolus Fall außerge-
wöhnlich machte: Einen Teil dieser Zeit
verbringt ihr knapp drei Jahre alter Sohn
Serkan bei ihr – denn ihr Mann, Serkans
Vater, war ebenfalls verhaftet worden.
Das starke Band zwischen Mutter und
Kind bildet gewissermaßen den Kitt des
Buches, ausführlich schildert die damals
32-Jährige ihre Beweggründe, Serkan
ins Frauengefängnis zu holen. Dem Jun-
gen den grauen Alltag dort erträglich zu
machen, helfen ihre Mitgefangenen:
Frauen, von denen manche seit vielen
Jahren im Gefängnis sitzen und die nun
Spielzeug aus Plastikflaschen basteln
und sich Kinderspiele ausdenken. Diese
solidarische Gemeinschaft, die Tolu

emotionalen Rückhalt gibt – zumal,
nachdem sie Serkan doch wieder fortge-
geben hat –, wird anrührend beschrie-
ben. An anderen Stellen gleitet die Auto-
rin dagegen in eine Art Leidenskitsch
ab, der auch sprachlich nicht überzeugt
(„Meine Seele begann zu bluten“). Und
manche Personen wirken arg schema-
tisch gezeichnet – so sind die Zellenge-
nossinnen stets warmherzig und hilfsbe-
reit, Polizisten dagegen unterschiedslos
hämisch und böswillig. Nur die Wärterin-
nen im Frauengefängnis nehmen offen-
bar eine Zwischenstellung zwischen die-
sen Polen ein: Tolu schreibt ihnen einige
durchaus sympathische Züge zu, belässt
es aber leider bei wenigen Bemerkun-
gen. Auch das Verhältnis Serkans zu den
anderen Kindern, die es in dem Gefäng-
nis gibt, bleibt ausgespart. Dafür beein-
drucken die Passagen, in denen Tolu
ihre emotionale Zerrissenheit auslotet –
die Ungewissheit, das Ausgeliefertsein,
die verzweifelten Bemühungen, sich von
dem übermächtigen Staatsapparat nicht
brechen zu lassen. All das lässt ansatz-
weise erahnen, wie es den vielen ande-
ren Gefangenen in Erdogans Reich erge-
hen muss. Einer von ihnen, ihrer ehema-
ligen Mitgefangenen Hatice Duman,
überlässt Meşale Tolu das Schlusswort.
Die sanfte Unerschütterlichkeit dieser
seit fünfzehn Jahren inhaftierten Journa-
listin bewegt, wenn sie schreibt, dass
man auch hinter Gittern die Macht über
sich selbst nicht völlig verliert: Denn „die
Gedanken und Worte werden immer ihre
Wege in die Zukunft finden“. cmei.

D


er Soziologe Armin Nassehi
ist ein Autor, der komplexe
Zusammenhänge auf an-
spruchsvolle Weise verständ-
lich machen kann. Und er ver-
steht es, mit allzu simplen Annahmen und
naiven Vorstellungen von Gesellschaft
aufzuräumen. Auch sein neues Buch führt
das vor Augen: Nein, die Digitalisierung
ist keine Kolonialmacht, die auf die Ge-
sellschaft zugreift, welche sich angeblich
heftig dagegen wehrt, nämlich gegen Ar-
beitsplatzverluste oder repetitive Tätigkei-
ten, gegen Überwachungs- und Kontroll-
techniken und gegen die vorgeblichen Au-
tonomieverluste eines quantifizierten
Selbst. Denn während die Kritik kritisiert,
laufen die Algorithmen weiter, weil sie so
nützlich sind und funktionieren. Nein, die
Digitalisierung ist nichts, was der Gesell-
schaft von außen oktroyiert wird, sie ist
vielmehr der Gesellschaft abgelauscht
und liegt in deren eigener Struktur begrün-
det. Durch Digitalisierung macht sich die
Gesellschaft ihre eigene Komplexität
zwecks Erkenntnis und Problemlösung in
den Bereichen Wissenschaft, Wirtschaft,
Verwaltung, aber auch in Liebes- und
Freundschaftsangelegenheiten verfügbar.
Nein, das Kennzeichen des digitalen Zeit-
alters ist nicht etwa die Verflüssigung und
Auflösung von Strukturen, denn die Digi-
taltechnik basiert im Gegenteil gerade auf
der Gleichförmigkeit gesellschaftlicher
Zusammenhänge, ohne die keine statisti-
sche, mathematische und damit digitale
Aufbereitung möglich wäre.
Mit diesem Zugang positioniert sich
der in München lehrende Soziologe – und
auch das ist keine Überraschung – in der
Theorietradition der funktionalen Gesell-
schaftsanalyse von Talcott Parsons und
Niklas Luhmann, die er mit neueren An-
sätzen der Techniksoziologie verknüpft.
Charakteristisch für seinen Ansatz ist die
grundlegende Frage, für welche gesell-
schaftlichen Bezugsprobleme Digitalisie-
rung eigentlich eine Lösung darstellt.
Ähnlich wie durch die beiden großen Er-
findungen des Buchdrucks und der
Dampfmaschine erleben Gesellschaften
durch Digitalisierung eine alle Lebensbe-
reiche durchdringende Veränderung, die
in ihrer Funktionalität zu verstehen aller-
dings voraussetzt, dass man Digitalisie-
rung nicht einfach als gegeben setzt, son-
dern vielmehr ihre gesellschaftlichen Vor-
aussetzungen und mithin die gesellschaft-
lichen Bedingungen ihres Erfolgs erkun-
det. Das gelingt am besten dadurch, dass
man die Funktion des Digitalen in sol-
chen Beispielen untersucht, die das Digi-
tale in statu nascendi beinhalten, das
heißt in Praktiken, die bereits vor der Ein-
führung von Computertechnologien be-
standen haben, etwa die Entstehung staat-
licher Sozialplanung oder die Anfänge
der Verbetrieblichung des Kapitalismus
und der medizinischen Vermessung des
Menschen im neunzehnten Jahrhundert.
Gemeinsam ist diesen Anwendungen der
Rekurs auf gesellschaftliche Regelmäßig-
keiten, deren Komplexität mit dem blo-
ßen Auge nicht erfasst werden kann und
die deshalb einer statistisch-mathemati-
schen Aufbereitung bedürfen.
Digitalität deckt latente gesellschaftli-
che Muster auf. Digitale Algorithmen
funktionieren auf der Basis verborgener
sozialer Regelmäßigkeiten, und sie finden
in der Gesellschaft so große Verbreitung,
weil sie effektive Lösungen beziehungs-
weise Problemlösungs-Tools für kommer-
zielle, ästhetische, medizinische, politi-
sche oder auch amouröse Probleme anbie-

ten. Mit anderen Worten: In dem Maße,
wie digitale Algorithmen gesellschaftli-
che Regelmäßigkeiten und Muster aufde-
cken, die hinter dem Rücken der Akteure
wirken, sind sie in der Lage, intelligente
Steuerungs- und Handlungsprozeduren
hervorzubringen, die in allen gesellschaft-
lichen Funktionssystemen – auf Märkten,
Börsen, in Krankenhäusern, Universitä-
ten, bei Wahlkämpfen, Werbekampagnen,
Militäreinsätzen wie auch in Freund-
schafts- und Liebesbeziehungen – zum
Einsatz kommen und Handlungen durch
Technisierung (und mithin unabhängig
von gesellschaftlicher Zustimmung oder
Kritik) rationalisieren und optimieren
können. Das Digitale steht somit im Pakt
mit der Komplexität, das heißt den verbor-
genen Strukturen der Gesellschaft, und
greift auf subtile Weise in diese ein, weil
es insbesondere dort zum Einsatz kommt,
wo Komplexität besonders groß ist und
herkömmliche Formen der Ordnungsbil-
dung – wie etwa Normen und Sanktionen,
Konventionen und Etikette oder Herr-
schaft und Macht – zu grobschlächtig
sind.

Die Aufdeckung latenter sozialer Struk-
turen ist nach Nassehi auch das, was an
der Digitalisierung als irritierend und ver-
störend erlebt wird: Die Computertechno-
logien führen ihren Benutzern gleichsam
eine „dritte Entdeckung“ der Gesell-
schaft, eine neue Sprache der Reflexion
und Konzeption von Gesellschaft vor Au-
gen: Gesellschaft erscheint in der Brille
der Digitalisierung nicht mehr – wie etwa
bei Habermas – als emanzipatorisches
Projekt der Moderne, sondern als eine
vollständig berechenbare Dynamik, als
eine gespenstische Maschinerie im Hinter-
grund, die für ihre Mitglieder, also für die
„User“, hinter einer Benutzeroberfläche
verborgen bleibt und nicht so leicht zu än-
dern ist. Weshalb Gesellschaftskritik und
politische Intervention unter dem Vorzei-
chen der Erfahrung der grundlegenden
Digitalität von Gesellschaft immer nur
von begrenzter Reichweite sein kann.
Trotz der Brillanz von Nassehis Ausfüh-
rungen: Sehr leserfreundlich ist das Buch
über weite Strecken nicht geraten, hätte
man sich an manchen Stellen zur Illustra-
tion der doch sehr abstrakten Thesen

mehr Anschaulichkeit, mehr Beispiele ge-
wünscht. Ein weiterer Nachteil der sys-
temtheoretischen Herangehensweise Nas-
sehis besteht darin, dass der Eindruck ei-
nes allzu mechanistischen Gesellschafts-
bildes heraufbeschworen wird, einer Ge-
sellschaft, bei der Akteure, Maschinen
und Algorithmen gleichsam selbstläufig
soziale Strukturen hervorbringen. Hinwei-
se auf die Frage, wie Digitalität in die So-
zialstruktur und in die Verteilung von
Macht und Ressourcen eingreift, finden
sich praktisch nicht.
Schließlich bleibt auch der funktionalisti-
sche Ansatz in wichtigen Aspekten unterbe-
lichtet, was sich vor allem im Fehlen einer
Synthese, wie es doch eigentlich der Unter-
titel des Buches, „Theorie der digitalen Ge-
sellschaft“, suggeriert, bemerkbar macht.
Was fehlt, ist ein Panorama der durchs Digi-
tale veränderten Gegenwartsgesellschaft:
Wie etwa verändert sich das Politische
durch die Digitalisierung von Wahlkämp-
fen, wie verändert sich der Begriff von Ge-
sundheit/Krankheit durch die Digitalisie-
rung von medizinischer Diagnostik und
Therapie, wie verändern sich Öffentlichkei-

ten und die Funktion von Massenmedien
durch die Ausbreitung des Internets?
Ziel einer solchen Gegenwartsdiagnose
könnte sein, die funktionale Differenzie-
rung der Moderne durch die Brille des Di-
gitalen neu zu erzählen: Könnte es näm-
lich sein, dass Digitalisierung nicht nur
konventionelle Ordnungsstrukturen
durch digitale Kontrollstrukturen ersetzt,
sondern auch die von Niklas Luhmann für
die moderne Gesellschaft noch maßgeb-
lich gehaltenen „Kommunikationskodes“
allmählich überflüssig macht? Ein Bei-
spiel: Hatte Luhmann die Semantik der ro-
mantischen Liebe für eine zentrale Institu-
tion der Paarbildung unter Bedingungen
der Freisetzung von Familien aus ständi-
schen Bindungen und der Vervielfältigung
potentieller Partner erklärt, ist die roman-
tische Liebe als Grund der Paarbildung
durch die Verbreitung von Online-Dating-
plattformen vielleicht bald schon obsolet.
Wie einschlägige Studien zeigen, sind Da-
tingplattformen – eben durch die Aufde-
ckung latenter Strukturen der Partner-
wahl – sehr effizient in der Identifikation
passender Partner, auch sind die sich digi-

tal gefunden habenden Paare laut Selbst-
auskunft glücklicher als Paare, die sich
analog kennengelernt haben; romantisch
ist die Suche mit Datingplattformen aller-
dings nicht. Und vielleicht ist es nicht zu-
fällig ein Zeichen der Zeit, dass romanti-
sche Liebe in der Partnerschaft auch sonst
ein wenig aus der Mode gekommen zu
sein scheint.
Statt solchen Phänomenen nachzuge-
hen, gleitet der Autor immer wieder ins
Philosophische ab, indem er in großange-
legten Exkursen und mit großer Begeiste-
rung die Grundlagen von Zeichen-, Sys-
tem-, Bewusstseins- und Medientheorie
unter Aufbietung vieler Beispiele wie in ei-
nem Lehrbuch erläutert. Das ist nicht un-
interessant, man erfährt viele Details, die
sicherlich eine wichtige Propädeutik für
das Verständnis der Zeichenimmanenz
und die Dynamik des Digitalen darstellen,
aber von einer Gesellschaftsanalyse weit
entfernt sind.
Zu den Highlights des Buches gehören
zweifellos die stärker materialgesättigten
Ausführungen in den Abschnitten über
das Internet als Massenmedium und das
Störungs- und Veränderungspotential des
Digitalen für die bisherige Gesellschafts-
ordnung: Im Ökonomischen stört Big
Data bisherige Geschäftsmodelle und
schafft neue Vertriebswege, während der
Vertrieb über Ladengeschäfte schwieriger
wird; innerhalb unterschiedlicher Berei-
che wird Privatheit wie auch das Kon-
strukt des selbstbestimmten Subjekts zur
Illusion; die ausgreifende Datentechnik
macht das Automobil möglicherweise zu
einem Sensorpunkt im elektronisch ge-
steuerten Verkehrsstrom und so fort. Be-
sonders relevant erscheint in diesem Zu-
sammenhang die Einsicht, dass die Digital-
technik Entscheidungen trifft, die im bis-
herigen Institutionenarrangement noch
menschlichen oder korporativen Akteu-
ren zugerechnet worden sind, womit digi-
tale Algorithmen Akteursstatus erlangen.
Diese an sich nicht neuen Erkenntnisse
gewinnen dadurch an theoretischer Bri-
sanz, dass Nassehi sie – analog zur Einfüh-
rung des Buchdrucks – als Struktur der
Verdoppelung begreift, welche die funktio-
nal differenzierte Gesellschaft von innen
verändert, ohne ihre Funktionen im Ein-
zelnen auszuhebeln. Ähnlich wie Schrift-
lichkeit sich wie ein Netz über die gesell-
schaftlichen Praktiken legt und damit ge-
wissermaßen eine zweite Realität erzeugt,
die in die erste eingreift und selbst zum
Teil der Gesellschaft geworden ist, so ist
auch Digitalisierung als eine Verdoppe-
lung der Welt zu begreifen, welche einen
inneren Verweisungs- und Operationsho-
rizont erzeugt, der in die Welt eingreift.
Aber welche Veränderungen hier konkret
stattgefunden haben und welche Auswir-
kungen Digitalisierung auf gesellschaftli-
che Denkweisen, soziale Praktiken und
Strukturen im Einzelnen hat, wird, wenn
überhaupt, nur ausschnittweise behan-
delt. Dennoch ist das Buch von Nassehi
insgesamt eine sehr anregende und loh-
nende Lektüre, die nicht mit den sonst üb-
lichen Katastrophenszenarien aufwartet,
sondern zum differenzierten Weiterden-
ken einlädt. CORNELIA KOPPETSCH

Robert Macfarlane:
„Im Unterland“. Eine
Entdeckungsreise in die
Welt unter der Erde.
Aus dem Englischen von
Andreas Jandl und Frank
Sievers. Penguin Verlag,
München 2019.
560 S., Abb., geb., 24,– €.

Meşale Tolu: „Mein Sohn
bleibt bei mir!“ Als
politische Geisel in
türkischer Haft – und
warum es noch nicht
zu Ende ist.

Rowohlt Verlag, Hamburg



  1. 189 S., br., 12,99 €.


Armin Nassehi: „Muster“.
Theorie der digitalen
Gesellschaft.

Verlag C. H. Beck, München



  1. 352 S., geb., 26,– €.


Die Verdoppelung der Welt


Im Licht des Internets: Sollten hier gerade Dating-Apps konsultiert werden, wäre das eine durchaus vernünftige Strategie zur privaten Komplexitätsreduktion. Foto Plainpicture


Tief unten in der Kammer aus Steinsalz wird geforscht


Gefahren drohen und Einsichten locken: Robert Macfarlane erkundet unterirdische Welten


Unter Erdogans Fuchtel


Die Journalistin Meşale Tolu über ihre Haft in der Türkei


Verbotener Ort, der Besucher anzieht: Wanderer im Untergrund von Paris Foto Laif


Wo die Verhältnisse zu unübersichtlich sind, da entdecken die


Maschinen hinter unserem Rücken Muster und effektive Lösungen: Armin Nassehi


entwirft eine Theorie der digitalen Gesellschaft.

Free download pdf