Frankfurter Allgemeine Zeitung - 06.09.2019

(Nandana) #1

SEITE 2·FREITAG, 6. SEPTEMBER 2019·NR. 207 F P M Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


WIEN, 5. September


I


n den vergangenen Wochen sind so
viele Menschen irregulär in Griechen-
land angekommen wie seit dem bishe-
rigen Höhepunkt der Migrationskrise
nicht mehr. Zwar liegt die Zahl immer
noch deutlich unter den Werten, die zwi-
schen Mitte 2015 und März 2016 erreicht
wurden. Damals bildeten die in Sichtwei-
te der türkischen Küste gelegenen grie-
chischen Inseln in der Ägäis für mehr als
eine Million Menschen den Ausgangs-
punkt der „Balkan-Route“, die sie nach
Österreich, Deutschland, Schweden und
in andere nordwesteuropäische Staaten
führte.
Im vergangenen Monat wurden 8000
Migranten auf den Inseln registriert. Im
Oktober 2015 waren es noch mehr als
200 000 gewesen. Doch die Zahlen stei-
gen seit Wochen kontinuierlich. Die im
August von den Vereinten Nationen ge-
meldeten Ankünfte sind die höchsten
seit März 2016. In jenem Monat trat ein
Abkommen zwischen der EU und der
Türkei in Kraft, das die Zahl der auf den
Inseln ankommenden Migranten – im Zu-
sammenwirken mit der zur gleichen Zeit
„geschlossenen“ Balkan-Route – stark
senkte. Waren im Februar 2016 noch fast
60 000 Migranten auf Inseln wie Lesbos,
Chios oder Samos registriert worden, wa-
ren es im April jenes Jahres nur noch
etwa 3600. Das türkisch-europäische Ab-
kommen sieht vor, dass alle Migranten,
die nach dem 20. März 2016 auf den In-
seln angekommen sind, unter bestimm-
ten Bedingungen in die Türkei zurückge-
schickt werden. Das schreckte viele ab.


Dass es nun wieder mehr werden, hat
verschiedene Gründe. Zum einen ist die
Balkan-Route, obschon nicht mehr so of-
fen wie noch 2015, allenfalls noch halb
geschlossen. Wer genügend Geduld und
Geld für Schlepper mitbringt, kann über
Südosteuropa weiterhin nach Norden rei-
sen. Das hat sich unter zahlungskräftigen
Migranten herumgesprochen. Ein ande-
rer Aspekt betrifft die Rolle Ankaras. In
Griechenland herrscht seit langem die
Vermutung, dass der türkische Staatsprä-
sident Recep Tayyip Erdogan in der Mi-
grationskrise der große Schleusenwärter
sei. Wolle er eine politische Forderung
durchsetzen, ergehe an die türkische Küs-
tenwache sowie die Polizeikräfte an

Land die Anweisung, Patrouillen und
Kontrollen zu lockern. Mehr Ankünfte
von Migranten auf den Inseln seien die
Folge. Den jüngsten Anstieg wollen eini-
ge Beobachter auf den Streit um die ver-
muteten und teilweise schon lokalisier-
ten Gasvorkommen vor der Küste der ge-
teilten Insel Zypern zurückführen kön-
nen: Da Athen sich in diesem Streit wie
der Rest der Staatengemeinschaft auf die
Seite der international anerkannten Re-
gierung in Nikosia geschlagen und damit
gegen die Türkei gestellt habe, bekomme
es nun die Folgen zu spüren, lautet die
Spekulation. Sobald Ankara das Abkom-
men vom März 2016 hingegen ernst neh-
me, gebe es kaum ein Durchkommen, da

potentielle Migranten schon bei der Zu-
fahrt zu den Stränden aufgegriffen wer-
den. Zwar ist der Glaube naiv, die Türkei
könne ihre viele tausend Kilometer lange
Küstenlinie gleichsam hermetisch abdich-
ten, wenn Erdogan es nur wolle. Doch
das gilt auch für die Behauptung, die Mi-
grationsströme seien dem Einfluss staat-
lichen Handelns in der Türkei gänzlich
entzogen.
Es geht bei all dem nicht nur um Küs-
tenschutz in der Türkei, wo offiziell
mehr als dreieinhalb Millionen Geflüch-
tete aus Syrien registriert sind. Span-
nungsfrei war das Verhältnis zwischen
den syrischen „Gästen“ und ihren türki-
schen Wohltätern nie. Zwar kamen in

der Türkei mehrheitlich Muslime zu Mus-
limen, weshalb einige Reibungspunkte,
die in Europa für Ungemach und Miss-
trauen sorgen, gar nicht erst entstanden.
Doch die Syrer waren und sind insbeson-
dere für die unteren Einkommensschich-
ten in der Türkei eine Konkurrenz auf
dem Arbeits- und Wohnungsmarkt. Lan-
ge hat Erdogan der Unzufriedenheit in
der Bevölkerung Aufrufe zu muslimi-
scher Solidarität entgegengehalten und
rhetorisch beschwichtigt. Doch seit seine
Regierungspartei AKP bei der Kommu-
nalwahl im Juni Istanbul an die Oppositi-
on verloren hat, ist das anders, zumal die
Wirtschaftskrise andauert. Umfragen
wie jene, laut der mehr als 80 Prozent der
Befragten in der Türkei wollen, dass die
Syrer die Türkei wieder verlassen, kann
die AKP nicht mehr ignorieren. Zumal
auch der im Westen beliebte Istanbuler
Oppositionsbürgermeister Ekrem Ima-
moglu sie nicht ignoriert. Die auflagen-
starke Oppositionszeitung „Sözcü“ trägt
ebenfalls zum Wandel der öffentlichen
Meinung bei, wenn sie Syrer in der Tür-
kei als „Plage“ bezeichnet und von einer
„Invasion von Millionen Fremden“
schreibt. Dass es im Internet noch rabia-
ter zugeht, versteht sich.
Menschenrechtsorganisationen wie
Human Rights Watch behaupten zudem,
ihnen lägen Berichte über vermeintlich
„freiwillige Ausreisen“ von Syrern vor,
die tatsächlich nur notdürftig kaschierte
Abschiebungen seien. Die türkische Re-
gierung bestreitet solche Darstellungen.
Die Vorsitzenden syrischer Selbsthilfe-
gruppen in der Türkei äußern hingegen
schon seit längerem die Vermutung, das
Ende der Willkommenskultur alla turca
sei unbestreitbar. Es werde dazu führen,
dass wieder mehr Syrer in Boote steigen,
um Griechenland und von dort andere
EU-Staaten zu erreichen.
Die offenkundige Verfinsterung des
Klimas in der Türkei kann den jüngsten
Anstieg der Ankunftszahlen auf den grie-
chischen Inseln allerdings nur zum Teil
erklären. Denn laut Daten des UN-Flücht-
lingshilfswerks UNHCR machen die Sy-
rer längst nicht mehr die größte Gruppe
der Ankommenden aus. Etwa ein Drittel
der registrierten Migranten stammt viel-
mehr aus Afghanistan. Eine andere grö-
ßere Gruppe, immerhin gut 12 Prozent,
aus Kongo. Die jüngste Entwicklung in
der Türkei könnte, so viel steht fest, die
grundsätzlichen Zweifel an dem EU-Tür-
kei-Abkommen stärken.
Griechenlands neuer Regierungschef
Kyriakos Mitsotakis will die griechische
Asylbehörde personell vergrößern und
die langwierigen Berufungsverfahren
straffen, um mehr Migranten in die Tür-
kei zurückschicken zu können – so, wie
es das Abkommen vorsieht. Doch eine
Voraussetzung für die Ablehnung eines
Asylantrags ist die Einschätzung, dass
die Türkei für zurückgeschickte Syrer
(und andere nichttürkische Antragstel-
ler) ein „sicherer Drittstaat“ ist. Bisher
war sie das auch, im Großen und Ganzen
zumindest. Wenn die Berichte über Ab-
schiebungen und ähnliche Zwischenfälle
sich häufen sollten, dürften daran aber
noch größere Zweifel aufkommen als bis-
her.

Ein Pyrrhussieg der Gegner Johnsons?
Zur Niederlage des britischen Premierministers im Un-
terhaus schreibt die Londoner „Financial Times“:
„Selten ist die Strategie eines britischen Premiermi-
nisters so schnell und so spektakulär in sich zusammen-
gebrochen. Eine Neuwahl scheint unvermeidlich zu sein



  • nun aber unter gänzlich anderen Bedingungen und mit
    einer Konservativen Partei, die zu einem kümmerlichen
    Rest englischer Nationalisten geschrumpft ist. In der Tat
    bedeutet der Zusammenbruch der Regierungsmehrheit,
    dass die Bevölkerung Großbritanniens nun sicherlich ih-
    ren Willen zum Ausdruck bringen muss. Problematisch
    ist aber das Timing. Oppositionsparteien müssen ihren
    Wunsch, Johnson herauszufordern, gegen das Risiko ab-
    wägen, dass er eine Wahl nutzt, um während des Wahl-
    kampfes für einen No-Deal-Brexit zu sorgen – oder, soll-
    te er gewinnen, das Gesetz gegen einen No-Deal-Brexit
    rückgängig macht. Abgeordnete, die entschlossen sind,
    den schlimmsten Brexit zu verhindern, haben einen be-
    achtlichen Sieg errungen. Sie müssen sicherstellen, dass
    er sich nicht in einen Pyrrhussieg verwandelt.“


Seiner Aufgabe nicht gewachsen
Die niederländische Zeitung „De Telegraaf“ schreibt
über Johnsons bisherige Leistung:
„Der britische Premierminister Boris Johnson hat sei-
ne Feuertaufe hinter sich. Sie ging für den sonst so selbst-
sicheren Johnson nicht gut aus. Ein zutiefst zerstrittenes
Unterhaus hat ihm Mittwoch Abend alle Fallstricke des
Parlaments vorgeführt. Ähnlich wie schon bei seiner ers-
ten Fragestunde als Premierminister schien Johnson sei-
ner Aufgabe kaum gewachsen zu sein.“

Corbyn schielt auf die Machtübernahme
Die „Neue Zürcher Zeitung“ blickt auf das Kalkül des
Führers der oppositionellen Labour Party:
„Der neue britische Premierminister Boris Johnson
gibt sich als knallharter Typ, der Großbritannien vor der
,Unterwerfung‘ unter das Brüsseler Diktat retten wird –
,auf Leben und Tod‘. Doch es nützt alles nichts. Johnson
hat fünf Wochen nach Amtsantritt bereits seine Macht
in Westminster verloren. Die Mehrheit im Parlament ist
dahin, die Abgeordneten diktieren ihm nun das Vorge-

hen. Der Oppositionsführer Jeremy Corbyn tut dabei so,
als gehe es Labour bloß darum, einen vertragslosen Aus-
tritt Großbritanniens aus der EU zu verhindern. Tatsäch-
lich schielt auch Corbyn in erster Linie auf die Macht-
übernahme. Denn ginge es ihm um einen geregelten Bre-
xit, hätte er seine Partei schon vor Monaten für den von
Johnsons Vorgängerin Theresa May mit Brüssel ausge-
handelten Austrittsvertrag stimmen lassen können.“

Die Clownereien sind auf die Realität geprallt
Die linksliberale slowakische Tageszeitung „Pravda“
schreibt zu diesem Thema:
„Nach der verantwortungslosen Entscheidung von Da-
vid Cameron, ein internes Problem der Konservativen
Partei auf die Schultern der Wähler abzuwälzen, kam
Theresa May, die gegen die Mauer der Realität anrannte
wie ein Nachtfalter, der eine ganze Nacht seines kurzen
Lebens damit verschwendet, unentwegt gegen das ge-
schlossene Fenster eines erleuchteten Zimmers zu flie-
gen. Und jetzt ist die Zeit von Boris Johnson angebro-
chen, mit dem verglichen May wie eine erfahrene Realis-

tin aussieht und Cameron wie ein reifer Staatsmann. Mit
der Niederlage im Parlament sind Johnsons Clownereien
und sein Servieren von billigen Bonmots anstelle von
wohlüberlegten Gedanken und Fakten vorerst hart auf
den Boden des britischen Unterhauses aufgeschlagen.“

Nur noch Schadensbegrenzung
Aus Sicht der konservativen polnischen Zeitung
„Rzeczpospolita“ stellt sich die Lage so dar:
„Die EU bereitet sich auf einen chaotischen No-Deal-
Brexit vor. Um die eventuellen Kosten dafür abzudecken,
hält sie für die Mitgliedstaaten einen Fonds bereit, der
normalerweise für den Fall von Naturkatastrophen ge-
dacht ist. Denn aus Sicht der EU ist der Brexit zu einer
Naturkatastrophe geworden. Ähnlich ist es mit dem Irr-
sinn, der sich gerade in London abspielt. Selbst die treues-
ten Fans des britischen Parlaments können nicht mehr
verstehen, worum es bei dem Ganzen geht. Das Einzige,
was wir tun können: uns nicht komplett von dieser Kata-
strophe überraschen zu lassen und die Schäden auf ein
Minimum zu begrenzen.“

STIMMEN DER ANDEREN


In der Türkei hat sich zwar die Stim-
mung gegen die syrischen Flüchtlinge
gedreht. So will eine Mehrheit der Be-
völkerung, dass die Flüchtlinge in ihre
Heimat zurückkehren. Der Druck auf
die Regierung in Ankara ist daher ge-
stiegen, die Zahl der 3,6 Millionen
Flüchtlinge abzubauen. Trotz dieses
Drucks hält sich der türkische Staat
weiterhin an das Flüchtlingsabkommen
mit der Europäischen Union. Er drängt
sie also nicht zu einer Fortsetzung ih-
rer Flucht Richtung Balkan-Route, son-
dern hält sie im Gegenteil davor zu-
rück. Im Gegenzug übernimmt die EU
einen Teil der Kosten, die der Türkei
für die Flüchtlinge entstehen.
Auch das Flüchtlingsabkommen hat
nicht verhindert, dass ein – wenn auch
deutlich kleiner gewordener – Strom
von Flüchtlingen weiterhin von der Tür-
kei nach Griechenland übersetzt. In
den oft stürmischen Wintermonaten
liegt die durchschnittliche Zahl bei 75
Flüchtlingen, die an einem Tag auf ei-

ner griechischen Insel ankommen. In
den Sommermonaten ist die Zahl etwa
doppelt so groß. In diesem Sommer wa-
ren die Monate Juli und August stürmi-
scher als gewöhnlich, so dass weniger
Schlauchboote mit Flüchtlingen als in
den Vorjahren übergesetzt haben. Seit
Ende August lässt der Wind in der Ägä-
is jedoch nach. Damit ist eine Über-
fahrt, die meist nur wenige Kilometer
lang ist, wieder weniger gefährlich ge-
worden. Als eine kritische Größe, von
der an das Flüchtlingsabkommen ge-
fährdet sein könnte, gilt eine durch-
schnittliche Zahl von 400 Personen, die
am Tag in Griechenland ankommen.
Derzeit liegt die Zahl bei 250 am Tag.
Sollte die EU ihre Hilfszahlungen für
die Flüchtlinge an die Türkei einstel-
len, wäre die Türkei jedoch nicht mehr
daran gebunden und würde Flüchtlin-
ge, die nach Europa weiterwollen,
nicht mehr zurückhalten. Dann würde
in Europa, so die Furcht in Berlin, ein
„neues Stresspotential“ entstehen.

Die Personen, die derzeit von der
Türkei nach Griechenland gelangen,
setzen sich zusammen aus Flüchtlin-
gen aus Syrien, die sich bereits seit län-
gerem in der Türkei aufhalten, und sol-
chen, die jüngst aus der umkämpften
Provinz Idlib geflohen sind, sowie aus
Migranten anderer Länder. In Idlib le-
ben 3 Millionen Menschen, von denen
30 000 bewaffneten extremistischen
Gruppen angehören. Die Türkei fürch-
tet, dass bei einer syrisch-russischen
Offensive auf Idlib bis zu eine Million
Menschen versuchen könnten, über
die geschlossene türkische Grenze zu
fliehen. Da sie in der Türkei nicht
mehr mit einer freundlichen Aufnah-
me rechnen könnten, würden viele ver-
suchen, über Griechenland und die
Balkan-Route weiterzukommen. Das
Damaszener Regime erhöht seinen
Druck, um Idlib unter seine Kontrolle
zu bekommen. Das wäre für die Tür-
kei ein Albtraum und hätte auch nach-
haltige Folgen für Europa. (Her.)

In der Türkei nicht willkommen


FRANKFURT, 5. September. Das Mün-
chener Unternehmen Finfisher arbeitet
eng mit den deutschen Strafverfolgungsbe-
hörden zusammen. Im Auftrag des Bun-
deskriminalamtes hat es eine Version des
„Staatstrojaners“ entwickelt – so wird die
Software genannt, die Ermittlern Zugriff
auf die Rechner und Mobilfunkgeräte Ver-
dächtiger ermöglichen soll. Doch nun
steht Finfisher selbst im Zentrum eines Er-
mittlungsverfahrens der Münchener
Staatsanwaltschaft und des Zollkriminal-
amts. Der Vorwurf: Das Unternehmen
soll die Überwachungssoftware an die tür-
kische Regierung verkauft haben, ohne
die zwingend erforderliche Genehmigung
der Bundesregierung einzuholen. In der
Türkei soll die Software zur Unterdrü-
ckung regierungskritischer Protestbewe-
gungen eingesetzt worden sein. Das jeden-
falls macht eine gemeinsame Strafanzeige
mehrerer Nichtregierungsorganisationen
von Anfang Juli geltend, die auf Über-
schneidungen zwischen dem Programm-
code des deutschen Staatstrojaners und ei-
ner Handy-App hinweist, die 2017 auf ei-


ner türkischen Website zum Download be-
reitstand. Die Internetseite richtete sich ih-
rer Aufmachung nach an Mitglieder des
„Marsches der Gerechtigkeit“, die gegen
die repressive Politik von Staatschef Re-
cep Tayyip Erdogan demonstrieren woll-
ten. Wenn Besucher der Seite jedoch die
dort verlinkte App herunterluden, die an-
geblich zur Koordinierung von Protestak-
tionen dienen sollte, wurden ihre Handys
mit dem Trojaner infiziert.
Vergleichbare Vorwürfe gegen Finfi-
sher gibt es schon seit Jahren: So wollen
IT-Fachleute von der Universität Toronto
den Einsatz der von dem Unternehmen
hergestellten Überwachungssoftware be-
reits 2015 in 32 Ländern nachgewiesen
haben. Ein Konvolut interner Daten des
Unternehmens, das 2014 von einem Ha-
cker erbeutet und veröffentlicht worden
war, legt Geschäftsbeziehungen unter an-
derem nach Bahrein, Qatar, Pakistan und
Bangladesch nahe. 2015 wurden Überwa-
chungsprogramme daraufhin in eine EU-
Verordnung aufgenommen, die die Aus-
fuhr von Produkten mit einem sowohl zivi-

len als auch militärischen Verwendungs-
zweck regelt. Der Export entsprechender
Software ist danach nur noch mit Geneh-
migung der Bundesregierung möglich.
Seitdem ist nach Auskunft der Bundesre-
gierung vom Juni 2019 auf eine kleine An-
frage der FDP zwar in insgesamt 28 Fäl-
len der Export von Technologien zur Tele-
kommunikationsüberwachung oder Vor-
ratsdatenspeicherung genehmigt worden.
Bei dem von Finfisher entwickelten Pro-
gramm handelt es sich jedoch um „intru-
sion software“. Für diese Kategorie wur-
de bis heute keine Genehmigung erteilt,
wie das Bundeswirtschaftsministerium
auf Anfrage dieser Zeitung erklärte.
Damit steht der Verdacht im Raum,
dass Finfisher oder dessen Vertriebspart-
ner gegen die Dual-Use-Verordnung bezie-
hungsweise das deutsche Außenwirt-
schaftsgesetz verstoßen haben könnte.
Die Folge wären Freiheitsstrafen von bis
zu fünf Jahren. Bei der Staatsanwaltschaft
München war bereits im Mai vergangenen
Jahres ein sogenanntes Vorprüfungsver-
fahren eingeleitet worden, nachdem die

Nichtregierungsorganisation „Access
Now“ eine technische Analyse veröffent-
licht hatte, die auf den Einsatz aktueller
Finfisher-Software in der Türkei hindeute-
te. IT-Fachleute der Ruhr-Universität Bo-
chum kamen zu demselben Ergebnis.
Mit Beginn des förmlichen Ermittlungs-
verfahrens melden sich die Kritiker des
„Staatstrojaners“ zu Wort – zumal, wenn
er nicht von den Sicherheitsbehörden
selbst, sondern von externen Unterneh-
men wie Finfisher hergestellt wird. Quel-
len-Telekommunikationsüberwachungen
und Online-Durchsuchungen wurden im
Jahr 2017 für etliche schwerere Straftaten
legalisiert. Kritiker halten diesen Katalog
für zu umfassend – gegen die Reformen
sind noch mehrere Beschwerden beim
Bundesverfassungsgericht anhängig. Das
Bundesinnenministerium will nun auch
dem Verfassungsschutz den Einsatz der
Technologie erlauben, allerdings gibt es
Widerstand aus dem Bundesjustizministe-
rium. Konstantin Kuhle, der innenpoliti-
sche Sprecher der FDP-Bundestagsfrakti-
on, erklärte gegenüber dieser Zeitung, an-

gesichts der Vorwürfe gegen Finfisher
„sollte auch in Deutschland die Ausdeh-
nung des sogenannten Staatstrojaners,
etwa auf einen Einsatz durch das Bundes-
amt für Verfassungsschutz, unterblei-
ben“. Konstantin von Notz, stellvertreten-
der Fraktionsvorsitzender der Grünen im
Bundestag, forderte die Bundesregierung
im NDR auf, ihre Zusammenarbeit mit
„hochdubiosen IT-Sicherheitsfirmen“
ganz einzustellen.
Der aktuelle Fall bestärkt auch die De-
batte über eine Verschärfung des Export-
rechts. Von Notz sprach von „scheunentor-
großen Regelungslücken“, die es zu schlie-
ßen gelte. Thorsten Frei, der stellvertreten-
de Vorsitzende der Unionsfraktion im
Bundestag, verteidigte dagegen das gelten-
de Recht: Der Export von Überwachungs-
software sei „in Deutschland zu Recht ge-
nehmigungspflichtig, damit solche Mittel
nicht in die Hände autokratischer Macht-
haber gelangen und massenhaft und syste-
matisch gegen die Bevölkerung oder die
Opposition eingesetzt werden können“,
sagte er dieser Zeitung.

WIEN, 5. September. Zu einer unge-
wöhnlich frühen Uhrzeit und sehr kurz-
fristig hat die Partei des früheren öster-
reichischen Bundeskanzlers Sebastian
Kurz, die ÖVP, am Donnerstagmorgen
ausgewählte Medien zu einer Presse-
konferenz eingeladen. Es ging um ei-
nen Vorgang, der der ÖVP offenbar
erst tags zuvor bekanntgeworden war:
Die Partei ist einem groß und hochpro-
fessionell ausgeführten Hackerangriff
zum Opfer gefallen. Unbekannte hat-
ten sich mehr als einen Monat lang un-
bemerkt in den Computersystemen
der Parteizentrale bewegt, hatten gro-
ße Mengen an Daten gestohlen und of-
fenbar zumindest auch die Möglichkeit
gehabt, Daten zu verfälschen.
Damit wäre erklärt, wie es kam,
dass zuletzt zweimal Medienberichte
über Spender und über die interne
Buchführung der Partei veröffentlicht
werden konnten, die sich auf interne
Dokumente und Daten stützten. Das
Material war offensichtlich nicht
durch eine Indiskretion oder gar einen
„Maulwurf“ in der Partei nach außen
gelangt, sondern durch den Hackeran-
griff, und wurde den Zeitungen dann
zugespielt. Die Berichte stellen die
ÖVP in ein schlechtes Licht. Sie er-
scheint darin als eine Partei, die skru-
pellos alle rechtlichen Lücken nutzt,
um Spenden zu verschleiern und Gren-
zen zu umgehen, die das Gesetz für die
Finanzierung von Wahlkämpfen setzt.
Im einen Fall hatte die linksliberale
Tageszeitung „Der Standard“ eine Liste
der ÖVP-Spender erhalten. Der auffäl-
ligste Befund dabei war, dass die Millio-
närin Heidi Goëss-Horten ihre Zuwen-
dung von fast einer Million Euro in mo-
natliche Tranchen von knapp unter
50 000 Euro gestückelt hatte – knapp
unterhalb der Grenze, ab der Einzel-
spenden sofort veröffentlicht werden
müssen. Freilich, spätestens mit der
Veröffentlichung des Jahresrechen-
schaftsberichts wären die Spenden so-
wieso bekanntgeworden, insofern war
der Skandal hier geringer als die Skan-
dalisierung. Dennoch gelang es der
ÖVP nur mit mäßigem Erfolg, diesem
die Spitze zu nehmen, indem sie mit ei-
ner Veröffentlichung dem Zeitungsbe-
richt um einen halben Tag zuvorkam.
Nun war es die linksalternative Wo-
chenzeitung „Falter“, die mit einem Be-
richt über „die geheime Wahlkampfkas-
sa des Sebastian Kurz“ aufmachte. Die-
ses Mal ging es darum, dass die ÖVP
durch eine „kreative“ Buchführung die
Schwelle von sieben Millionen Euro
umgehe, die das Gesetz für die Wahl-
kampfkosten vorsieht. Die Begrenzung
soll eine zu große Ungleichheit in den
Mitteln kleiner und großer Parteien ver-
hindern. Die ÖVP habe nun, so heißt es
im „Falter“-Bericht, für den Wahl-
kampf knapp neun Millionen Euro vor-
gesehen, aber nur in einer Art internen
Buchführung. In einer parallelen Rech-
nung seien dann die Posten für digitale
Kommunikation, Marketing, Kampa-
gnen, Mobilisierung et cetera „kreativ
weggebucht worden“. Sie seien einfach
als „Nichtwahlkampf“ deklariert wor-
den. In der Wahlkampf-Spalte verblie-
ben 6 345 070 Euro, mit solidem Puffer
zur Obergrenze. Außerdem fielen hohe
Posten an, die an Daten knapp vor Be-
ginn und knapp nach Ende der offiziel-
len Wahlkampfperiode verbucht wür-
den. 2017 sei es ähnlich gewesen.
Die ÖVP hat diese Darstellung vehe-
ment zurückgewiesen. Es handle sich
um „Falschberichterstattung“. Weder
führe die Partei geheime Kassen, noch
plane sie bewusst eine Überschreitung
der Obergrenzen oder eine Täuschung
des Rechnungshofs. Und: Man könne
„nicht beurteilen, ob der ‚Falter‘ be-
wusst falsche Behauptungen aufgestellt
hat, oder man verfälschten oder ge-
fälschten Unterlagen aufgesessen ist“.
Eine Klage gegen die Zeitung wurde an-
gekündigt.
Angesichts dieser Publikation hat
die ÖVP am Dienstag ein Unterneh-
men beauftragt, nach dem Datenleck
zu forschen, und wurde fündig. Seit 27.
Juli sei ein Eindringen in das Daten-
netzwerk der Parteizentrale nachweis-
bar. Die Angreifer – Profis, meinte Avi
Kravitz von der Firma CyberTrap – hät-
ten das Ziel längere Zeit ausgespäht
und sich durch Zugriff auf ein Adminis-
tratorenkonto einen „goldenen Schlüs-
sel“ verschafft. Damit sei es auch mög-
lich gewesen, Daten zu manipulieren.
Geheimnisvoll, aber nicht unbedingt
aussagekräftig, fügte er hinzu, es könne
„nicht ausgeschlossen werden“, dass
ein Geheimdienst dahinterstecke. Kra-
vitz gab an, ein Angriff dieses Ausma-
ßes koste einen sechsstelligen Betrag.
Kurz verwies auf Cyberattacken in den
vergangenen französischen und ameri-
kanischen Präsidentschaftswahlkämp-
fen, hinter denen jeweils Russland ver-
mutet wird.
Obgleich die ÖVP sich verbal für
Transparenz starkmacht, sah sie sich be-
müßigt, bei der morgendlichen Presse-
konferenz eine Journalistin des „Fal-
ter“ abzuweisen. Der Wiener Presse-
klub „Concordia“ rügte, der gezielte
Ausschluss von kritischen Journalisten
von Informationsveranstaltungen sei
„ein demokratiepolitisch höchst be-
denklicher Akt“.

Repression made in Germany


Die deutsche Firma Finfisher soll unerlaubt Überwachungssoftware in die Türkei verkauft haben / Von Helene Bubrowski und Constantin van Lijnden


Goldener


Schlüssel


Hacker haben die Zentrale


der ÖVP geknackt


Von Stephan Löwenstein


Türkische Verfinsterung


Auf beschwerlichem Weg:Flüchtlinge, die auf Lesbos untergebracht waren, erreichen Thessaloniki. Foto AP


In Griechenland


kommen so viele


Flüchtlinge an wie seit


Jahren nicht. Welche


Rolle spielt die Türkei,


mit der seit 2016 ein


Flüchtlingsabkommen


besteht?


Von Michael Martens


Istanbul

TÜRKEI

Izmir

Saloniki

Piräus

Rhodos

Lesbos

Chios
Samos

Kos

Leros

Athen

BULGARIEN

GRIECHENLAND

F.A.Z.-Karte sie.

100 km

Ägäis

Marmarameer

Schwarzes
Meer
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