Frankfurter Allgemeine Zeitung - 06.09.2019

(Nandana) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Politik FREITAG, 6. SEPTEMBER 2019·NR. 207·SEITE 3


DÜSSELDORF,5. September


A


nke Grudda ist eine erfahrene,
empathische Juristin. Und gera-
de deshalb fällt es der Vorsitzen-
den Richterin am Landgericht
Detmold am Donnerstagmorgen schwer,
die Dimension dieses Verbrechens in ad-
äquate Begriffe für ihre Urteilsbegrün-
dung zu fassen. Andreas V. und Mario S.
haben auf dem Campingplatz Eichwald in
Lügde-Elbrinxen über Jahre hinweg Dut-
zende Kinder hundertfach missbraucht.
Dafür bekommen sie Freiheitsstrafen von
dreizehn und zwölf Jahren, angeordnet
wird zudem jeweils anschließende Siche-
rungsverwahrung. Die Kammer begrün-
det das damit, dass Gutachter den beiden
eine tief verwurzelte Neigung für Kindes-
missbrauch attestierten, sie als manipula-
tiv, narzisstisch und antisozial beschrie-
ben, und auch damit, dass die Angeklag-
ten in der Hauptverhandlung völlig gleich-
gültig gegenüber ihren Opfern geblieben
seien. Dass die beiden Männer nicht zur
Höchststrafe von 15 Jahren verurteilt wur-
den, habe vornehmlich damit zu tun, dass
sie es ihren Opfern durch Geständnisse er-
spart haben, vor Gericht noch einmal de-
tailliert über ihr Martyrium zu berichten.
Es ist ein Urteil, das an Deutlichkeit nichts
zu wünschen übriglässt. Was bleibt, ist das
Entsetzen.
Das Geschehene in Worte zu fassen sei
kaum möglich, sagt Richterin Grudda, die
das Verfahren aus Gründen des Jugend-
und Opferschutzes seit Ende Juni weitge-
hend unter Ausschluss der Öffentlichkeit
führte. Worte wie „abscheulich, monströs,
widerwärtig“ reichten nicht aus. Auch
nach zehn Verhandlungstagen bleibe Fas-
sungslosigkeit – wegen der Vielzahl und
Schwere der Taten, der Länge des Tatzeit-
raums von 15 und 20 Jahren und weil Kin-
der, die Hinweise gaben, lange nicht ge-
hört worden seien.
Der Fall Lügde, einer der größten Fälle
von Kindesmissbrauch der jüngeren Ver-
gangenheit, ist ein multipler Skandal, der
mit dem Ende des Strafverfahrens nur teil-
weise aufgeklärt ist. Obwohl Jugendämter
und Polizei schon früh alarmierende Er-
kenntnisse hatten, konnten die beiden Pä-
dokriminellen V. und S. mehrere Kindhei-
ten lang ungestört schalten, walten, mani-
pulieren und einschüchtern. Andreas V.
lebte seit Jahren als Dauercamper in Lüg-
de. Einer geregelten Arbeit ging der auf
dem Campingplatz „Addi“ genannte 56
Jahre alte Mann schon lange nicht mehr
nach, sondern lebte von Transferleistun-
gen und diente sich Anwohnern und Cam-
pinggästen als vermeintlich kinderlieber
Freizeitanimateur an. Es war eine perfide
Methode, um immer neue Opfer zu fin-
den. In seinen Holzverschlägen und sei-
nem Wohnwagen hat V. seit Ende der
neunziger Jahre Dutzende Kinder miss-
braucht und vergewaltigt; das Gericht ver-
urteilt ihn am Donnerstag wegen beinahe
300 Fällen – bei mehr als 200 handelte es
sich um Vergewaltigungen. Der aus Höx-
ter stammende Mario S. kam einige Jahre
später nach Lügde, wo er am anderen
Ende des Campingplatzes eine Parzelle be-
zog. Dem 34 Jahre alten Gelegenheitsar-
beiter kann das Gericht 48 Vergewaltigun-
gen nachweisen, hinzu kommen hundert
Fälle von sexuellem Missbrauch. Das Ge-
richt verurteilt Andreas V. und Mario S.
am Donnerstag für Taten an insgesamt 32

Jungen und Mädchen im Alter zwischen
vier und 14 Jahren. Doch sei die Zahl der
Opfer vermutlich weit höher, sagt die Rich-
terin.
Von unzähligen Vergewaltigungen fer-
tigte das Duo Videomitschnitte an. Gele-
gentlich gab es sogar Live-Übertragungen
in einer geschlossenen Internetgruppe.
Mehrfach hat Heiko V., ein Mann aus Sta-
de, von seinem heimischen Computer aus
mitverfolgt, wie V. und S. Kinder miss-
brauchten. Da Heiko V. nach Überzeu-
gung des Gerichts aber niemals selbst auf
dem Campingplatz war, verurteilte ihn die
Detmolder Kammer Mitte Juli in einem ab-
getrennten Verfahren zu zwei Jahren Frei-
heitsstrafe auf Bewährung.
Bei der Causa Lügde handelt es sich
auch um einen Fall von gravierendem Be-
hördenversagen. Nicht nur bei der Polizei
im Landkreis Lippe kam es zu einer un-
fassbaren Verkettung von Schlampigkeit,
Pflichtvergessenheit, Sorglosigkeit und
Emphatielosigkeit, sondern auch bei
gleich zwei Jugendämtern. Noch immer er-

mittelt wird gegen zwei Beamte der Poli-
zei Lippe wegen des Verdachts der Straf-
vereitelung im Amt sowie gegen acht Mit-
arbeiter der Jugendämter Lippe und Ha-
meln-Pyrmont (Niedersachsen) wegen
des Verdachts der Fürsorgepflichtverlet-
zung. Pflichtaufgabe der Jugendämter
wäre es gewesen, Andreas V. genau im
Blick zu haben. Denn Anfang 2017 war er
Pflegevater der Tochter einer jungen Frau
aus dem niedersächsischen Nachbarland-
kreis Hameln/Bad Pyrmont geworden.
Die Mutter, die mit V. schon seit langem
bekannt war, hatte sich mit der Erziehung
ihrer Tochter überfordert gesehen – zumin-
dest erzählte sie das dem Hamelner Ju-
gendamt. Dort schlug sie vor, ihr Kind dau-
erhaft in Lügde unterzubringen. Das Amt
willigte ein. Das Kind war für den Pädokri-
minellen wie ein Hauptgewinn. Er konnte
seine Pflegetochter nicht nur als „Köder“
einsetzen, um noch mehr Kinder anzulo-
cken, er hatte auch unbeschränkten Zu-
griff auf das gerade sechs Jahre alt gewor-
dene Kind.Das Jugendamt hätte eine Rei-

he von Argumenten gegen V. ins Feld füh-
ren können: Er lebte in prekären Wohnver-
hältnissen, war ledig und seit langer Zeit
arbeitslos. Zudem gab es damals schon
alarmierende Informationen über ihn. Im
August 2016 leitete der Kinderschutzbund
Hameln den Hinweis eines Vaters weiter,
V. habe seine beiden Töchter auf einer Fei-
er sexuell belästigt. Der Kinderschutzbund
informierte die für Lügde zuständige Poli-
zeiwache im nordrhein-westfälischen
Blomberg. Dort beließ es der diensthaben-
de Streifenbeamte dann aber dabei, seinen
schriftlichen Vermerk an das Jugendamt
des Kreises Lippe weiterzureichen, statt
auch die Staatsanwaltschaft oder wenigs-
tens die Kreispolizei in Detmold einzu-
schalten, wo es ein Fachkommissariat für
Sexualdelikte gibt. Noch eindeutiger war
der Vermerk, den eine Mitarbeiterin des
Jobcenters Blomberg nach einem verstö-
renden Termin mit dem Hartz-IV-Empfän-
ger Andreas V. Ende 2016 anfertigte. In
dem Gespräch, bei dem die Pflegetochter
anwesend war, äußerte V., das Kind mache
ihn „heiß“, für Süßigkeiten tue es alles. Zu-
dem habe er die Pflegetochter so einge-
schüchtert, dass sie bei einem Kontrollbe-
such des Jugendamts Hameln kein Wort ge-
sagt habe, prahlte V.
Diese alarmierenden Hinweise erreich-
ten diesmal zwar das zuständige Fachkom-
missariat der Kreispolizei in Detmold.
Dort dokumentierte eine Kriminalhaupt-
kommissarin die Sache, informierte aber
wieder nur das Jugendamt – obwohl es
sich bei sexuellem Missbrauch um ein Offi-
zialdelikt handelt, also von Amts wegen er-
mittelt werden muss. Ausgerechnet diese
Beamtin leitete nach Bekanntwerden des
Missbrauchsskandals Ende 2018 dann in
den ersten Tagen die Ermittlungen – die
überaus schleppend verliefen.
Den Anstoß für die Ermittlungen hat-
ten allerdings weder Jugendamtsmitarbei-
ter noch Polizeibeamte gegeben. Es war
ein kleines Mädchen aus Bad Pyrmont,
das seine Scham überwand, seine Angst
vor „Addi“ und Ende Oktober vergange-

nen Jahres mit seiner Mutter zur Polizei
ging, um Anzeige zu erstatten. Die neun
Jahre alte Schlüsselzeugin gab zu Proto-
koll, Andreas V. habe seine mit ihr befreun-
dete Pflegetochter wiederholt miss-
braucht. Obwohl ganz offensichtlich Ge-
fahr im Verzug war, dauerte es drei Wo-
chen, bis die niedersächsische Polizei die
Kollegen im nordrhein-westfälischen Det-
mold informierte und das Jugendamt Mit-
arbeiter auf den Campingplatz schickte,
um das Kind in Obhut zu nehmen. Weitere
drei Wochen vergingen, bis die Polizei ei-
nen Haftbefehl erwirkte und V. festnahm.
Obwohl V. durch die polizeiliche Tröde-
lei genügend Zeit hatte, Beweise beiseite-
zuschaffen, stießen die Beamten schon
bei der ersten oberflächlichen Inaugen-
scheinnahme seiner völlig vermüllten Be-
hausungen auf einschlägige Beweisstücke.
Gefunden wurde unter anderem ein „Foto-
stativ, positioniert in Richtung eines So-
fas, sowie 100 selbstgebrannte CDs mit
kinderpornografischem Material“, wie es
in einem Protokoll heißt. Doch die Tatort-
arbeit kam nicht voran. In mehreren An-
läufen gelang es Beamten der Detmolder
Kreispolizei nicht, alle CDs, DVDs und
Festplatten mit kinderpornographischem
Material in der Bleibe des Hauptverdächti-
gen sicherzustellen.
Ende Januar ordnete der nordrhein-
westfälische Innenminister Herbert Reul
(CDU) an, dass das Polizeipräsidium Biele-
feld den Fall Lügde von den überforderten
Kollegen im Kreis Lippe übernimmt. Ne-
ben der Ermittlungskommission „Eich-
wald“ zur Aufklärung des Massenmiss-
brauchs wurde eine zweite Kommission
namens „Rad“ eingerichtet. Die Beamten
unter der Leitung von Sonderermittler
Ingo Wünsch konzentrierten sich darauf,
den vielgestaltigen Polizeiskandal zu unter-
suchen und die schwerwiegenden Ver-
säumnisse, Fehler und Schlampereien zu
dokumentieren, die sich gegenseitig poten-
zierten. Ein weiterer gravierender, unver-
zeihlicher Vorfall ereignete sich sogar erst,
als den Detmolder Ermittlern die Tragwei-

te der Causa Lügde längst hätte klar sein
müssen: Schon seit Anfang des Jahres wa-
ren 155 der bei Andreas V. sichergestellten
Datenträger aus einem unverschlossenen
Sichtungsraum der Kreispolizei Detmold
verschwunden, ohne dass übergeordnete
Stellen informiert worden wären oder mit
der systematischen Suche nach dem Mate-
rial begonnen worden wäre. Es ist bis heu-
te spurlos verschollen.
Anders als in Niedersachsen beschäftigt
sich in Nordrhein-Westfalen mittlerweile
auch ein parlamentarischer Untersu-
chungsausschuss mit dem Lügde-Skandal.
Mit dem gemeinsamen Einsetzungsantrag
verständigten sich die Landtagsfraktionen
von CDU, SPD, FDP und Grüne darauf,
das Fehlverhalten auf allen mit den Vorgän-
gen befassten Ebenen und Behörden
gründlich zu durchleuchten. „Wir wollen
eine schonungslose Aufklärung. Das sind
wir den Opfern schuldig“, bekräftigt nach
dem Urteil am Donnerstag Verena Schäf-
fer, die innenpolitische Sprecherin der Grü-
nen. Dennis Maelzer, der familienpoliti-
sche Sprecher der SPD, sagt, die Miss-
brauchsfälle in Lügde hätten ein für ihn un-
vorstellbares Ausmaß gehabt. „Man muss
sich aber vor Augen führen, Missbrauch
passiert jeden Tag. Missbrauch ist ein ge-
sellschaftliches Problem, deshalb fordern
wir weiter mit Nachdruck eine Kinder-
schutzkommission, die gemeinsam mit Ex-
perten und den Mitgliedern des Landtags
Ideen bündelt und Handlungskonzepte ent-
wickelt.“
Innenminister Reul ist ebenfalls über-
zeugt, dass das Thema Kindesmissbrauch
noch immer von vielen unterschätzt wird,
auch in der Polizei. Als Lehre aus dem Fall
Lügde hat er den Kampf gegen Kindes-
missbrauch zum kriminalpolitischen und
kriminalstrategischen Schwerpunkt der Po-
lizei in ganz Nordrhein-Westfalen ge-
macht. Zudem hat Reul damit begonnen,
die Struktur der polizeilichen Kinderpor-
nographie-Ermittlungen zu reformieren.
Dafür richtete der Innenminister zunächst
eine direkt bei ihm angesiedelte Stabsstel-
le ein, die vom früheren Lügde-Sonderer-
mittler Wünsch geleitet wird. Eine erste
Analyse der Fachleute ergab, dass in der
gesamten nordrhein-westfälischen Polizei
bisher lediglich 105 Stellen für Kindesmiss-
brauch-Ermittlungen existierten, weshalb
viele Verfahren viel zu lange liegenblie-
ben. Von den rund 1900 bis Mitte Juni re-
gistrierten Verfahren waren lediglich 228
in Auswertung. Zu groß sei der durch die
Digitalisierung enorm angewachsene Da-
tenberg, sagte Reul im Juni. Zudem sei Kin-
derpornographie im Zeitalter des Inter-
nets zu einem Massenphänomen gewor-
den. Einerseits wies der Innenminister die
landesweit 47 Kreispolizeibehörden per
Erlass an, ihr Personal zur Verfolgung pä-
dokrimineller Täter mindestens zu verdop-
peln. Um die Behörden zu entlasten, ver-
fügte er andererseits, dass die Aufarbei-
tung und erste grobe Auswertung von digi-
talem Beweismaterial von Ende 2020 an
im Landeskriminalamt in Düsseldorf statt-
finden. Dort gibt es die Zentrale Auswer-
tungs- und Sammelstelle Kinderpornogra-
phie, deren Mitarbeiterzahl gerade stark
aufgestockt wird. Nur noch das für den je-
weiligen konkreten Fall relevante Material
soll künftig in den einzelnen Polizeibehör-
den ausgewertet werden. Auch die verdeck-
ten Ermittler kommen künftig verstärkt
im Kampf gegen Pädokriminelle zum Ein-
satz. Dadurch soll der Druck auf die Szene
spürbar steigen.
Eine Signalwirkung erhofft sich Reul
nun auch vom Detmolder Urteil zum Fall
Lügde, das er als „Warnung an alle Täter“
lobt. Das gelte besonders für die Anord-
nung der Sicherungsverwahrung. Pädokri-
minelle wie die beiden Lügder Täter seien
eine zu große Bedrohung, „als dass man
sie nach Verbüßung ihrer Strafe einfach
wieder auf freien Fuß lassen könnte“. Ob
Andreas V. und Mario S. jemals wieder frei-
kommen, ist tatsächlich fraglich. Nach ih-
rer Haft werden sie in einer forensischen
Klinik untergebracht. Dort müssen sie auf
unbestimmte Zeit bleiben – es sei denn,
ein Gericht käme bei der gesetzlich vorge-
schriebenen regelmäßigen Überprüfung
zu dem Ergebnis, dass keine Gefahr mehr
von ihnen ausgeht.

PEKING, 5. September. Auf dem Platz
des Himmlischen Friedens in Peking
steht schon die Zuschauertribüne für die
große Militärparade bereit. Die Tanz-
clubs und Karaokebars in der chinesi-
schen Hauptstadt sind ab dieser Woche ge-
schlossen. Und das Fernsehen sendet
statt Unterhaltungssendungen fast nur
noch patriotische Filme. Nichts wird dem
Zufall überlassen, wenn China am ersten
Oktober den 70. Jahrestag der Gründung
der Volksrepublik begeht. Chinas Staats-
und Parteichef Xi Jinping will den Tag
nutzen, um eine strahlende Bilanz seines
eigenen Schaffens und der seit siebzig Jah-
ren allein herrschenden Kommunisti-
schen Partei zu präsentieren.
Umso größer ist die Nervosität hinter
den Kulissen. Nicht nur der Handelsstreit
mit Amerika und die Lage in Hongkong
trüben die Feierlaune, sondern auch die
Verheerungen der afrikanischen Schweine-
pest, die dazu geführt hat, dass Schweine-
fleisch in China kaum noch bezahlbar ist.
Wie groß die Angst vor dem Unmut des
Volkes ist, offenbarte in dieser Woche eine
Rede des stellvertretenden Ministerpräsi-
denten Hu Chunhua, die offenbar verse-

hentlich an die Öffentlichkeit gelangt ist.
„Wenn die Schweinefleischpreise weiter
so schnell steigen, wird dies das Leben vor
allem der einkommensschwachen Bevölke-
rungsschichten und die fröhliche und fried-
liche Atmosphäre bei den Feiern des 70.
Jahrestages der Gründung des Neuen Chi-
nas ernsthaft beeinträchtigen“, warnte Hu
in einer Videokonferenz mit Parteikadern
verschiedener Provinzen. Eine Abschrift
davon wurde auf einer Branchen-Website
der Fleischindustrie veröffentlicht – später
aber wieder gelöscht. Aus gutem Grund:
Die Regierung hat der Bevölkerung bisher
das Ausmaß der Schweinepest verschwie-
gen. Alles sei unter Kontrolle, versichern
die Staatsmedien.
Dabei schätzt die niederländische Rabo-
bank, dass sich Chinas Schweinezuchtbe-
stand bis Jahresende halbieren wird. Der
stellvertretende Ministerpräsident Hu
spricht in seiner Videokonferenz von ei-
ner Versorgungslücke von zehn Millionen
Tonnen. Der Preis des Schweinefleischs,
der im vergangenen Monat um mehr als
ein Viertel gestiegen ist, bewegt in China
die Volksseele wie in anderen Ländern
der Brotpreis oder in Deutschland der Ben-

zinpreis. 60 Prozent ihres Fleischbedarfs
decken die Chinesen mit Schwein.
Die Führung in Peking sieht deshalb die
Gefahr, dass auch ein anderes symbol-
trächtiges Datum vom Schweinenotstand
überschattet wird: Im Jahr 2020 soll China
das Ziel erreichen, eine „moderat wohlha-
bende Gesellschaft“ zu sein. Dahinter
steht das Versprechen einer gleichmäßige-
ren Verteilung des Wohlstands. Der Be-
griff selbst ist nicht neu, schon Deng Xiao-
ping hat ihn verwendet. Doch Xi Jinping
hat ihn 2014 zu einem seiner vier Kernzie-
le erklärt. Der stellvertretende Ministerprä-
sident warnt vor einem „Schaden für den
Ruf der Partei und der Regierung“, sollte
der Engpass beim Schweinefleisch im kom-
menden Jahr noch nicht behoben sein.
Deshalb sei nun Eile geboten. Hu
drängt die Regierungen der Kommunen
mit den größten Zuchtbetrieben zu aller-
hand Maßnahmen. Dazu zählen nicht nur
Kredite für die betroffenen Betriebe und
die Ausweitung der zulässigen Flächen,
sondern auch „das Management der öffent-
lichen Meinung“, also die Verschleierung
der wahren Gegebenheiten. Andernfalls,
warnt der stellvertretende Regierungs-

chef, bestehe die Gefahr von Hamsterkäu-
fen, die die Preise weiter in die Höhe trei-
ben würden. „Gegen Gerüchte und schädli-
chen Sensationalismus muss hart vorge-
gangen werden“, fordert er. Die statisti-
schen Erhebungen, die der Regierung er-
lauben sollen, wirksame Maßnahmen zu
ergreifen, müssten geheim bleiben.
Dabei ist es gerade der Mangel an
Transparenz, der dazu beigetragen hat,
dass sich die Epidemie innerhalb weniger
Monate mit rasender Geschwindigkeit im
ganzen Land ausgebreitet hat. Die Wirt-
schaftszeitschrift „Caixin“ hat über Fälle
berichtet, in denen Veterinärämter und
Bauern sich davor scheuten, Anzeichen
der Seuche zu melden, weil sie fürchte-
ten, der Verbreitung von Gerüchten be-
zichtigt zu werden. Denn nur die Lokalre-
gierungen dürfen einen Fall von afrikani-
scher Schweinepest als solchen deklarie-
ren. Die aber haben oft ein Interesse dar-
an, die Wahrheit zu verschleiern, um die
Zahlung von Entschädigungen an die Bau-
ern zu vermeiden und zu verhindern, dass
ein Verbot von Tiertransporten über ihre
Region verhängt wird, von dem auch ge-
sunde Tiere betroffen wären.

„Caixin“ verwies jüngst auf ein beson-
ders krasses Beispiel: Der südchinesische
Distrikt Bobai wurde demnach offiziell
erst zum Seuchengebiet erklärt, nachdem
immer mehr Bauern ihre toten Schweine
am Straßenrand entsorgten. Auch Hu
Chunhua bestätigte in seiner Videokonfe-
renz, dass bei unangemeldeten Inspektio-
nen in Regionen, in denen offiziell kein
Seuchenfall gemeldet worden war, große
Mengen toter Tiere entdeckt wurden. Die
Verschleierung führt dazu, dass die Bau-
ern bei den ersten Anzeichen der Krank-
heit ihre Schweine zu Niedrigpreisen an
teils weit entfernte Schlachthäuser verkau-
fen – und so das Virus weiterverbreiten.
Dem will die Zentralregierung nun mit
neuen Maßnahmen begegnen. Unter ande-
rem sollen mehr Schlachthäuser und
fleischverarbeitende Betriebe eröffnet
werden, um Tiertransporte regional zu be-
grenzen. Dem Schmuggel erkrankter Tie-
re, die vor dem Verenden noch schnell ge-
schlachtet werden, soll mit harten Strafen
begegnet werden. Provinz- und Kommu-
nalregierungen sollen dafür verantwort-
lich gemacht werden, die Versorgung mit
Schweinefleisch sicherzustellen. Dafür sol-

len zum Beispiel wohlhabende Städte
fleischproduzierende Regionen bei der
Vergabe von Krediten an die Züchter un-
terstützen. Diese Art von Finanzausgleich
zwischen reichen und armen Regionen ist
in China weit verbreitet. Manche Kommu-
nen experimentieren mit eigenen Maßnah-
men. Die südchinesische Stadt Nanning
gab bekannt, dass sie Fleischhändler ange-
wiesen habe, pro Tag ein Schwein zu einer
vorgegebenen Uhrzeit zu einem vorgege-
benen Sonderpreis zu verkaufen.
Die Versorgungslücke übersteigt laut Hu
die gesamte auf dem internationalen
Markt verfügbare Menge an Schweine-
fleisch. Angesichts der politischen Bedeu-
tung des Nahrungsmittels verfügt das
Land über tiefgefrorene Notreserven, de-
ren Umfang aber geheim gehalten werden.
Trotz allem rechnet die Regierung in den
kommenden neun Monaten mit einer „ex-
trem angespannten“ Versorgungssituati-
on. Das sagt Hu in seiner inzwischen ge-
löschten Rede. Die „Volkszeitung“ übte
sich derweil in dieser Woche im „Manage-
ment der öffentlichen Meinung“. Sie titel-
te: „Die Preise für Schweinefleisch werden
grundsätzlich stabil bleiben.“

Der multiple Skandal


Zuerst kommt das Schweinefleisch, dann die Partei


Die Schweinepest wütet in China, die Preise für Fleisch steigen – und ranghohe Kader sorgen sich um die Stimmung beim Staatsjubiläum / Von Friederike Böge


Ort des Schreckens:Der Campingplatz Eichwald Foto dpa


Im Missbrauchsfall


Lügde sind die Urteile


gefällt. Nicht geklärt


wurde, warum so viele


Behörden versagten.


NRW-Innenminister


Reul lobt das Urteil als


„Warnung an alle


Täter“.


Von Reiner Burger


„Warnung an alle Täter“:Mario S. und Andreas V. im Landgericht Detmold Foto EPA

Free download pdf