Frankfurter Allgemeine Zeitung - 06.09.2019

(Nandana) #1

SEITE 4·FREITAG, 6. SEPTEMBER 2019·NR. 207 Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


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jawa.FRANKFURT, 5. September. Im
Gemeinderat der rheinland-pfälzi-
schen Ortschaft Frankenstein hat sich
die bundesweit erste Fraktion aus Abge-
ordneten von CDU und AfD gebildet.
Sie besteht aus Monika Schirdewahn,
dem einzigen CDU-Ratsmitglied in
Frankenstein, und ihrem Ehemann
Horst Schirdewahn, der über die Liste
der AfD gewählt wurde. Der Deutschen
Presse-Agentur sagte Monika Schirde-
wahn am Donnerstag: „Heute Abend
ist die erste Gemeinderatssitzung in
Frankenstein, und wir bilden jeweils
mit einer Person zusammen eine Frakti-
on.“ Die eheliche Fraktionsgemein-
schaft trägt den Namen „Fortschritt
Frankenstein“. Ein Grund für die Zu-
sammenarbeit ist ein jahrelanger Streit
um den Anschluss eines Gebiets, in
dem das Wochenendhaus der Schirde-
wahns steht, an das Trinkwassernetz.
Der Vorsitzende des CDU-Kreisver-
bands Kaiserslautern-Land, Marcus
Klein, hatte schon im Juli mitgeteilt, er
betrachte die Entwicklung mit großer
Sorge. Monika Schirdewahn habe er
aufgefordert, „sich an die klare Be-
schlusslage der CDU Deutschlands zu
halten und von der Bildung einer Frakti-
on mit dem AfD-Vertreter abzusehen“.
Damit sei eine rote Linie überschritten.
„Weite Teile der AfD stehen für eine
menschenverachtende Politik, unter-
stützen diese oder stehen ihr zumindest
gleichgültig gegenüber“, sagte Klein.
Der Kreisvorstand hat ein Parteiaus-
schlussverfahren gegen Monika Schir-
dewahn angestoßen, Mitte September
soll die Entscheidung dazu fallen. Ge-
gen einen möglichen Ausschluss will
Schirdewahn juristisch vorgehen.

Herr Geisel, kennen Sie Clanchefs wie
Arafat Abou-Chaker und Issa Remmo
eigentlich persönlich?
Nein. Persönliche Bekanntschaften
gibt es nicht.

Was würden Sie solchen Männern gern
einmal ins Gesicht sagen?
Dass unsere Regeln auch für sie gelten.
Und dass sie vermeintlich Glamour ver-
breiten, aber in Wirklichkeit Menschen
ins Unglück stürzen. Nehmen Sie das Bei-
spiel Bushido. Der vermeintlich glamou-
röse Gangsterrapper ist jetzt ein armes
Würstchen – von Clanchefs in die Falle ge-
lockt.

Sie haben beim Landeskriminalamt
eine Koordinierungsstelle gegen Clan-
kriminalität eingerichtet. Aber seit Sie
vor einem Dreivierteljahr Ihren Fünf-
Punkte-Plan vorgestellt haben, scheint
nicht viel passiert zu sein.
Das würde ich energisch bestreiten. Im
Gegenteil, es ist eine Menge passiert:
Wir haben dieses Jahr bis Mitte August
157 Polizeieinsätze gefahren, davon 22
gemeinsam mit anderen Behörden, wie
etwa dem Zoll. Das sind im Schnitt vier
Einsätze pro Woche. Und wir nutzen das
ganze Besteck: vom vermeintlich niedrig-
schwelligen Eingreifen, weil in einer
Shisha-Bar verdorbener Orangensaft
oder der fehlende Brandschutz beanstan-
det wird, bis hin zur Beschlagnahmung
von Immobilien und Mietzahlungen. Auf
der Innenministerkonferenz in Kiel
haben wir es geschafft, die anderen
Bundesländer an Bord zu holen. Jedes
Land wird ein Lagebild zur Clankrimina-
lität erstellen, und das Bundeskriminal-
amt wird Koordinierungsaufgaben über-
nehmen.

In der öffentlichen Wahrnehmung sieht
es ganz anders aus: In Spandau terrori-
siert ein Clanmitglied seine Nachbar-
schaft. Issa Remmo hat sich im Gerichts-
saal erdreistet, den Staatsanwalt zu be-
schimpfen, obwohl sein Sohn nach zwei-
jähriger Verhandlung in einem Mordpro-
zess freigesprochen wurde. Das Verfah-
ren zu dem Diebstahl einer Goldmünze
im Wert von fast vier Millionen Euro
zieht sich in die Länge, ob es jemals für
eine Verurteilung reicht, ist unklar. Tan-
zen die arabischen Clans dem Rechts-
staat auf der Nase herum?
Sie versuchen es zumindest. Was den
Spandauer Fall betrifft: Das ist kein Clan-
mitglied und keine Clankriminalität, son-
dern eher ein Fall für den sozialpsychi-
atrischen Dienst. Da terrorisiert jemand
seine Nachbarn. Das Problem ist, dass al-
les unter Clans subsumiert wird, weil im
Fernsehen „4 Blocks“ läuft. Bei Issa Rem-
mo hat die Staatsanwaltschaft keinen
rechtlichen Grund gesehen, gegen ihn
wegen Bedrohung oder Beleidigung vor-
zugehen.
Trotzdem entsteht so ein Eindruck von
Ohnmacht: Alles spricht dafür, dass ein
junger Mann einen Mord begangen hat


  • und dann wird er nicht dafür verurteilt.
    Bei der Goldmünze könnte es ähnlich
    ausgehen.
    Es steht mir nicht zu, die Arbeit der Jus-
    tiz zu bewerten. Vor Gericht gilt: in dubio
    pro reo. Ich kann nur für die Polizei spre-
    chen, und da gilt im Fall der Goldmünze:
    Wir glauben, genügend Beweise geliefert
    zu haben, so dass es zu einer Verurteilung
    kommen kann.
    Warum tun sich die Behörden so schwer
    bei der Bekämpfung von Clankriminali-
    tät?
    Die Polizei bekämpft vor allen Dingen
    organisierte Kriminalität. Diese Kriminel-
    len agieren im Verborgenen und weitge-
    hend international, sie verursachen viel
    größere Schäden als die Clans, die das Ge-
    genteil tun: nämlich auf offener Bühne
    Straftaten zu begehen. Klar, die Goldmün-
    ze war von großem Wert. Aber weil ande-
    re Formen der organisierten Kriminalität
    ein Vielfaches an Schaden verursachen,
    hat die Polizei sich in der Vergangenheit
    stärker darauf konzentriert. Das Verhal-
    ten krimineller Clans, vom Parken in der
    zweiten Reihe über den unregelmäßigen
    Schulbesuch der Kinder bis zum Drogen-
    handel, haben wir zu lange hingenom-
    men, aus verschiedenen Gründen – Politi-
    cal Correctness, Unterschätzung der Si-
    tuation, Personalmangel.
    Seit einem Jahr hat man den Eindruck,
    das ganze Land redet nur noch von Clan-
    kriminalität. Was hat sich geändert?
    Zuerst einmal unser Blick auf dieses
    Phänomen und unser Handeln. Unsere


Demokratie kommt immer stärker unter
Druck, weil die Menschen den Eindruck
haben, der Rechtsstaat würde nicht mehr
funktionieren. Der Staat hat zwar Re-
geln, aber er setzt sie nicht mehr durch.
Ich muss mein Parkticket bezahlen, aber
dem Drogenhändler an der Ecke passiert
nichts. Dann sitzen Mitglieder dieser
Clans, vielleicht Empfänger staatlicher
Transferleistungen, mit 18 Jahren im Ma-
serati, eine dicke Uhr am Arm, und fah-
ren laut hupend den Kurfürstendamm
hoch und runter. Wie kann das sein? War-
um greift da niemand entsprechend hart
ein? Die Gefährlichkeit dieser Clans be-
steht darin, dass sie den Glauben der
Menschen an den Rechtsstaat aushöh-
len.

Sie wollen den Clans ans Geld, Ihr wich-
tigstes Instrument dafür nennt sich Ver-
mögensabschöpfung. Wie viele AMG
Mercedes beschlagnahmen Sie denn so?
Wir unterscheiden nicht zwischen
Clan-Autos und Nicht-Clan-Autos. Fakt
ist, dass in Berlin wegen illegaler Autoren-
nen – wer auch immer die gemacht hat –
im letzten Jahr 164 Kraftfahrzeuge und
130 Führerscheine eingezogen wurden.
Viel wichtiger sind Vermögenswerte wie
Immobilien. Bei der Staatsanwaltschaft
ist deshalb eine Extra-Abteilung Vermö-
gensabschöpfung gegründet worden.
Wie steht es um die 77 oder 78 Immobi-
lien der Familie Remmo? Inzwischen
hat man zwar auch die Mieteinnahmen
beschlagnahmt, juristisch in trockenen
Tüchern ist die Sache nicht. Warum dau-
ert das so lange?
Weil sich der Rechtsstaat rechtsstaat-
lich verhalten muss. Wir bekämpfen
Wildwest-Methoden, können das aber
nicht in Wildwest-Manier tun, sondern
auf dem Rechtsweg. Der Bundestag hat
die Vermögensabschöpfung erleichtert,
indem er im Ansatz eine Form der Be-
weislastumkehr beschlossen hat. Ich glau-
be, dass wir in einigen Jahren dieses Ge-

setz in letzter Instanz vom Verfassungsge-
richt bestätigt oder abgelehnt finden.
Trotzdem wenden wir es jetzt an. Die Im-
mobilien sind beschlagnahmt, und die Fa-
milie kommt gegenwärtig nicht an die Er-
träge der Häuser.

Würden Sie gern aufrüsten, um den
Clans nicht immer nur hinterherzulau-
fen?
Wir rennen nicht hinterher. Die Kolle-
gen vom Landeskriminalamt sind hoch-
motiviert und technisch gut ausgestattet.
Was bisher gefehlt hat, war der politi-
sche Rückhalt. Aber wir reden über ei-
nen Marathon und haben jetzt die ersten
1000 Meter geschafft. Die Problematik
ist über Jahrzehnte nicht entschlossen be-
kämpft worden. Inzwischen haben sich
Strukturen so verfestigt, dass versucht
wird, Geld aus Straftaten über Geldwä-
sche in den normalen Wirtschaftskreis-
lauf einzuspeisen. Das zurückzudrehen
ist enorm schwer. Ich bekomme oft zu hö-
ren: „Das ist ja nur die Spitze des Eis-
bergs.“ Oder: „Ihr seid zu spät dran.“ Das
ist nicht falsch. Aber irgendwann muss
man beginnen. Und die eigentliche Her-
ausforderung ist es, über viele Jahre
durchzuhalten und Arbeitsstrukturen zu
etablieren, die auch dann effektiv blei-
ben, wenn „4 Blocks“ nicht mehr im
Fernsehen läuft.

Bremen ist es im Juli in einer geheimen
Operation unter Einsatz der GSG 9 ge-
lungen, den Chef des Miri-Clans abzu-
schieben. Sind Sie neidisch?
Nein. Wir arbeiten sehr gut zusammen.
Es saß übrigens auch ein Berliner mit im
Flugzeug, der nicht diese Prominenz hat-
te. Auch wir schieben aus Strafhaft ab,
und das war bestimmt nicht der letzte
Fall.
Sie selbst waren kurz zuvor in den Liba-
non gereist. Können wir darauf hoffen,
dass in Zukunft mehr arabischstämmige
Kriminelle abgeschoben werden?

Im Interesse der Sache darf ich zu mei-
ner Reise nichts sagen. Aber im vergange-
nen Jahr haben wir 21 libanesische Staats-
angehörige abgeschoben. Früher waren
es nur fünf, sechs Personen. Abschiebun-
gen sind ein wichtiges Instrument, weil
wir damit zeigen, dass wir es ernst mei-
nen und auch vor der Führungsebene
nicht zurückschrecken. Allerdings muss
ich einschränkend sagen: Wer glaubt, Ab-
schiebungen seien ein Allheilmittel, der
irrt. Drei Viertel der Clanmitglieder sind
inzwischen Deutsche, und das andere
Viertel ist entweder mit Deutschen verhei-
ratet oder hat deutsche Kinder. Die kön-
nen Sie nicht abschieben.
In Bezirken wie Neukölln wächst gerade
die vierte Generation der Clans heran.
Aus einigen Familien wird berichtet,
dass die Kinder systematisch in die Kri-
minalität hineinsozialisiert werden, sie
erlernen das wie früher ein traditionelles
Handwerk. Was wollen Sie dagegen tun?
Ich will das nicht bestreiten, und mit
den Erfolgen wird es dauern. Wir beob-
achten in den entsprechenden Familien
aber auch, dass das Schweigen und der
unbedingte Zusammenhalt aufbrechen,
vor allem durch die Frauen. Keine Mut-
ter will, dass ihr Sohn oder ihre Tochter
im Gefängnis landet. Da müssen wir an-
setzen. Das heißt auch, dass wir den Men-
schen legale Lebensperspektiven geben
müssen. Die jetzige Situation ist ja auch
entstanden, weil man den libanesischen
Bürgerkriegsflüchtlingen Ende der acht-
ziger und Anfang der neunziger Jahre ver-
boten hat zu arbeiten. Nun wird man des-
wegen nicht zwangsläufig kriminell.
Aber es ist doch eine Parallelgesellschaft
entstanden. Mit Blick auf die vielen Men-
schen, die in den vergangenen Jahren zu
uns gekommen sind, muss die Lehre hei-
ßen: Bildung, Wohnung, Arbeit, schnelle
Integration. Sonst stehen wir in 15 Jah-
ren vor einem ganz anderen Sicherheits-
problem.
Die ehemaligen Geschäftspartner Ara-
fat Abou-Chaker und Bushido tragen
ihre Konflikte inzwischen öffentlichkeits-
wirksam aus. Es geht um Geld, Loyali-
tät, es soll sogar einen Mordauftrag gege-
ben haben. Was ist daran noch Clankri-
minalität? Oder geht es um Selbstinsze-
nierungen im Rappermilieu?
Laufende Ermittlungen kann ich nicht
kommentieren. Aber Sie sehen an diesem
Beispiel: Nicht alles, was im Zusammen-
hang mit Clans benannt wird, ist automa-
tisch organisierte Kriminalität. Die Palet-
te ist breit, manchmal handelt es sich
„nur“ um Ordnungswidrigkeiten. Und
Bushidos Fall zeigt sehr deutlich: Wer
sich mit Kriminellen einlässt, wird am
Ende selbst zum Opfer. Den vermeintli-
chen glamourösen Gangster, dem nie-
mand etwas kann, gibt es nicht.
Die Fragen stelltenJulia Schaafund
Markus Wehner.

Ratsfraktion von


CDU und AfD


mwe.BERLIN, 5. September. Die Bun-
desländer sollen sich nach dem Willen
der Unionsfraktion im Bundestag stär-
ker als bisher für den Klimaschutz ein-
setzen. Das forderte Ralph Brinkhaus,
Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion
im Bundestag, am Donnerstag in Pots-
dam. Die finanzielle Situation der Bun-
desländer sei „wesentlich entspannter
und besser“ als die finanzielle Lage
des Bundes, sagte der CDU-Politiker
zum Abschluss einer zweitägigen Klau-
surtagung der Fraktionsspitze. Es gebe
zudem „nicht abgeflossene Investiti-
onsmittel“ in verschiedenen Sonder-
vermögen und Finanztöpfen der Bun-
desministerien, die für den Klima-
schutz eingesetzt werden könnten. Vie-
les könne bei der Finanzierung des Kli-
maschutzes „aus Bordmitteln“ bestrit-
ten werden.
Brinkhaus bekräftigte, dass die Uni-
on auf den Handel mit Emissionszerti-
fikaten setze, um den Ausstoß des kli-
maschädlichen Kohlendioxids (CO 2 )
teurer zu machen, und nicht auf eine
Steuer. Eine CO 2 -Steuer wird von der
SPD und den Umweltverbänden favori-
siert mit dem Argument, dass sie
schneller wirke. Am Mittwoch hatte
sich nach Angaben von Teilnehmern
auch Bundeskanzlerin Angela Merkel
in der internen Diskussion deutlich für
das Modell eines Handels mit Zertifika-
ten ausgesprochen. Am 20. September
will das Klimakabinett der Bundesre-
gierung sich auf ein Maßnahmenpaket
einigen. Ein Zertifikatehandel sei
„langfristig effektiver“ als eine Steuer,
dafür brauche es zu Beginn „möglicher-
weise einen Festpreis“, sagte Brink-
haus. Auch für das Ziel, den Klima-
schutz europäisch und international
auszudehnen, sei der Zertifikatehan-
del besser geeignet.
Keinesfalls dürfe die Regierung den
Klimaschutz mit einer „Verbotsorgie“
betreiben, sagte der Unions-Fraktions-
chef. Die Bürger seien bereit, etwas für
den Klimaschutz zu tun, mit der „Ver-
botskeule“ werde man sie aber nicht da-
für gewinnen. Alexander Dobrindt,
Chef der CSU-Landesgruppe, sagte,
man wolle auf Anreize setzen. So könne
man im Wohnungsbau Fördermittel ver-
geben, wenn klimaschädliche Ölheizun-
gen ausgetauscht würden. Die Union
verfolge beim Klimaschutz marktwirt-
schaftliche und sozial ausgewogene Lö-
sungen. Es dürfe nicht sein, dass die Kli-
mafrage zur sozialen Frage werde.

Im Gespräch: Andreas Geisel, Berliner Innensenator, über Razzien und Abschiebungen libanesischer Straftäter


SAARBRÜCKEN, 5. September. Die
erste Etappe der großen SPD-Tour ist
geschafft. Mehr als sechshundert SPD-
Mitglieder haben am Auftakt der
Deutschland-Tournee in Saarbrücken
teilgenommen und konnten die Bewer-
berinnen und Bewerber für den Partei-
vorsitz erleben. Es war eine unterhalt-
same Veranstaltung mit großem Enga-
gement und fairem Publikum. Die an-
fangs 17 Kandidaten für die Nachfolge
von Andrea Nahles hatten in zweiein-
halb Stunden jeweils etwa neun Minu-
ten Zeit, ihre Vorstellungen zu präsen-
tieren.
Zugleich sollten die Bewerber zei-
gen, ob sie als Team das Zeug haben,
die notleidende Partei in eine neue
und bessere Zeit zu führen. Nur einer
tritt als Solist an. Nachdem sich an-
fangs niemand gemeldet hatte, drohte
dem komplexen Auswahlverfahren zu-
letzt ein chaotischer Massenstart.
Doch in Saarbrücken präsentierten
sich politische Könner in vielfacher
Hinsicht: Redegewandte Politiker mit
Herz, ein Moderator, der auch ein Lö-
wenrudel mit sanfter Gewalt zur Rä-
son gebracht hätte und vor allem ein
heiteres, wissensdurstiges Saarländer
Publikum. Unter den Besuchern, das
fiel auf, saßen viele junge Leute, Jusos
wohl, und sehr, sehr erfahrene Partei-
mitglieder. Sie alle erlebten einen
Abend, von dem man sagen konnte: In
der SPD steckt noch Leben.
Im ersten, kurzen Block erzählten
die Bewerber von sich selbst und ihren
Plänen für die SPD, für Deutschland.
Auf der sparsam orange-rosa dekorier-
ten Bühne standen zwei Oberbürger-
meister aus Ost und West, ein Innenmi-
nister aus Hannover, ein Finanzminis-
ter, eine Integrationsbeauftragte in
Sachsen. Zum Bewerberfeld gehören
ein Außenpolitiker, einige Abgeordne-
te aus Bund und Ländern, eine Berli-
ner Politik-Professorin, ein Kölner
Arzt, ein passionierter Steuersünder-
Jäger und ein Gewerkschaftsfunktio-
när. Alle repräsentierten jeweils ein
Stück SPD. Das Spektrum zeigt aller-
dings auch, was der Partei heute fehlt:
Engagement für die Wirtschaft, ökono-
mische Vernunft. Viele Kandidaten, be-
sonders Hilde Mattheis und Dierk Hir-
schel, Nina Scheer und Karl Lauter-
bach, präsentierten dem Publikum lin-
ke und ganz linke Programme. Der Be-
obachter bekam den Eindruck, dass sie
eine Welt von vorgestern herbeiwün-
schen, ohne aber zu sagen, wie dazu
die Wirtschaft von morgen aussehen
sollte. Ihre Forderungen waren man-
nigfach und alle teuer: Renten auf dem
Niveau der achtziger Jahre, sichere Ar-
beitsplätze in allen Branchen, bedin-
gungsloses Grundeinkommen, gede-
ckelte Mieten, sozialer Wohnungsbau,
billige Zugtickets, erschwingliche Ener-
gie. Zu den wenigen, die davon spra-
chen, dass zu alledem auch Wirtschaft
gehört, zählten Klara Geywitz und Bo-
ris Pistorius, die mit ihren jeweiligen
Partnern – Olaf Scholz und Petra Köp-
ping – außerdem mehr für als gegen
die Berliner Koalition warben. In ei-
nem der wenigen Augenblicke der Ent-
gleisung verlangte ein älterer Mann
aus dem Publikum von den Kandida-
ten, sich „für die vergangenen zwanzig
Jahre SPD-Politik“ und das, was man
den Leuten angetan habe, zu entschul-
digen. Das lehnte Gesine Schwan im
Namen aller klar und klug begründet
ab. Es gebe nur individuelle Schuld,
und die Vorgänger hätten sicher in ih-
rer Zeit das Beste gewollt. Beifall be-
kam sie dafür. Boris Pistorius bat die
Versammlung in seinem Schlusswort,
für einen Augenblick die Augen zu
schließen und sich vorzustellen, wie
Deutschland aussähe, wenn die SPD in
den vergangenen Jahrzehnten nicht
mitregiert hätte.
Doch der Geist an der Saar wehte
kräftig von links. Alle Kandidaten
wussten, wer für die Windschlösser
zahlen sollte: die, die etwas mehr ha-
ben. Das Kurzformat der sekunden-
schnellen Stellungnahmen förderte ei-
nen Überbietungsexzess an Ausgaben
und Steuern, der, wenn überhaupt, nur
eines Tages in einer Koalition mit ei-
ner Finanzministerin Sarah Wagen-
knecht von der Linkspartei zu verwirk-
lichen wäre. Aber die SPD-Tour hat ja
noch 22 weitere Stationen, um weiter
über diese und auch über andere The-
men zu diskutieren.


„Beim Kampf gegen Clans fehlte der politische Rückhalt“


Das ganze Besteck an Maßnahmen:Razzia in Berlin-Neukölln im Januar 2018 Foto Jens Gyarmaty


Union gegen


„Verbotskeule“


Brinkhaus: Länder sollen
mehr für Klimaschutz tun

Der Wind


weht von links


Die SPD-Kandidaten und


ihre teuren Forderungen


Von Peter Carstens


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Will Regeln durchsetzen:Innensenator Andreas Geisel Foto Matthias Lüdecke

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