Die Welt Kompakt - 10.09.2019

(ff) #1

10 WIRTSCHAFT DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT DIENSTAG,10.SEPTEMBER


Stelle an einem Gymnasium zu
bekommen. „Wenn man diese
Kandidaten schon im Master-
studium anspricht, ist noch
Zeit, sie alternativ auf das Un-
terrichten an Grundschulen
vorzubereiten“, sagt Zorn.
Die vierte Möglichkeit ist die
aktuell wohl am meisten disku-
tierte: der Einsatz von Querein-
steigern. Berlin und Sachsen
bauen darauf schon jetzt sehr
stark. „Auch andere Bundeslän-
der müssen jetzt aktiv werden,
um vernünftige Quereinsteiger-
programme vorzubereiten“,
sagt der Bertelsmann-Experte.
Auf diese Weise ließen sich
„viele hoch motivierte Men-
schen gewinnen“. Entschei-
dend sei allerdings, dabei stär-
ker zu steuern.
Warum das nötig ist, zeigt ei-
ne weitere Bertelsmann-Analy-
seaus dem vergangenen Jahr,
an der Bildungsforscher Zorn
ebenfalls beteiligt war. Diese
beleuchtete das Beispiel Berlin

E


s ist eine Fehlkalkula-
tion mit drastischen
Folgen. Rund 15.
Grundschullehrer
würden im Jahr 2025 mindes-
tens fehlen, war das Ergebnis
der Prognose der Kultusminis-
terkonferenz (KMK) im vergan-
genen Jahr. Eine große Lücke
also, die zwischen Angebot und
Nachfrage klafft. Tatsächlich
werden allerdings noch deut-
lich mehr Pädagogen fehlen –
nämlich insgesamt mindestens
26.300.


VON CHRISTINE HAAS

Zu diesem Ergebnis kommen
die Bildungsforscher Klaus
Klemm und Dirk Zorn in einer
Analyse für die Bertelsmann-
Stiftung. „Die Politik muss sich
darauf einstellen, dass die He-
rausforderung noch deutlich
größer ist, als sie bislang dach-
te“, sagt Co-Autor Zorn. Zen-
trale Ursache der Unterschät-
zung ist, dass die KMK von ei-
ner deutlich zu niedrigen Zahl
an Kindernim Grundschulalter
ausgegangen ist. 3,064 Millio-
nen würden es 2025 sein, kalku-
lierte sie im Herbst 2018. Tat-
sächlich werden es allerdings
rund 168.000 mehr sein, zeigt
die Bertelsmann-Analyse.
Die Autoren berufen sich auf
die aktuelle Bevölkerungsvo-
rausberechnung, die das Statis-
tische Bundesamt im Juni ver-
öffentlicht hat. Die KMK hinge-
gen legte bei ihrer Kalkulation
demografische Daten aus 2015
zugrunde, betont Zorn. Deshalb
konnte sie nicht berücksichti-
gen, dass die Geburtenzahlen
sich ab 2016 stark erhöht haben



  • und deutlich mehr Studenten
    ein Lehramtsstudium hätten
    beginnen müssen.
    „Durch die starke Verzöge-
    rung wurde wertvolle Pla-
    nungszeit verschwendet“, sagt
    der Bertelsmann-Experte. „Ab-
    solventen werden nun definitiv
    nicht genug da sein.“ Um im
    Jahr 2025 als ausgebildete Päda-
    gogen unterrichten zu können,
    hätten diese sich schließlich
    schon jetzt an den Hochschulen
    einschreiben müssen. Die akute
    Lücke lässt sich deshalb nur
    noch mit Notoptionen füllen.
    Zorn sieht dabei vier Hebel.
    Erstens könne man angehende
    Ruheständler dazu animieren,
    ein paar Jahre länger als ur-
    sprünglich geplant zu unter-
    richten. Eine zweite Option sei,
    die Teilzeitkräfte – im Grund-
    schulbereich immerhin fast je-
    der zweite Pädagoge – auf ein
    höheres Stundenpensum zu
    bringen. „Das wird aber nur ge-
    lingen, wenn die Grundschul-
    lehrer besser unterstützt wer-
    den“, sagt Zorn, „etwa durch
    den verstärkten Einsatz von
    multiprofessionellen Teams.“
    Drittens sollten angehende
    Gymnasiallehrer frühzeitig an-
    gesprochen werden. Für diese
    Schulform gebe es vielerorts
    ein Überangebot an Absolven-
    ten. Bei einigen Fächerkombi-
    nationen sei deshalb absehbar,
    dass es schwierig werde, eine


und kam zu dem Ergebnis, dass
Quereinsteiger überproportio-
nal häufig in Brennpunktvier-
teln zum Einsatz kommen. Ge-
rade dort braucht es aber Päda-
gogen, die auf den Umgang mit
den Problemen dort speziell
vorbereitet sind. Umgekehrt
könnten Schulen, die ihren Be-
darf bislang mit regulären Kräf-

ten decken können, dazu ver-
pflichtet werden, Quereinstei-
ger einzustellen.
All diese Maßnahmen helfen
allerdings nur dabei, die aktuel-
len Lücken zu stopfen. Um ähn-
liche Probleme in Zukunft zu
vermeiden, muss sich auch die
grundsätzliche Berechnung des
Lehrerbedarfs ändern. „Die rea-

le Entwicklung muss viel
schneller in die Prognosen ein-
fließen“, fordert Zorn. Das um-
zusetzen ist freilich eine He-
rausforderung, weil mehrere
Stufen durchlau-
fen werden, bis
die Zahlen aus
den einzelnen
Ländern über-
haupt bei der
KMK ankom-
men. Zorn ver-
weist auf die
Möglichkeit al-
ternativer Datenquellen. Er
selbst nutzt zum Beispiel Daten
des Babynahrungsmittelher-
stellers Milupa. Das Unterneh-
men sammelt von den Kranken-
häusern die Zahl der jährlichen
Geburten und veröffentlicht
die Summe schon kurze Zeit
später. Er ist freilich nicht den
gleichen Kriterien unterworfen,
die für die Behörden gelten.
Die KMK bestätigt indes,
dass der Lehrerbedarf größer
ist als angenommen. Das Pro-
blem sei bekannt und man habe
bereits „eine jährliche Bericht-
erstattung über diesen Gegen-
stand beschlossen“, heißt es.
Doch selbst wenn es gelingen
würde, aktuellere Zahlen zu
nutzen, reicht das nicht für eine
umfassende Veränderung. Ein
zweiter Aspekt ist die bei der
Berechnung zum Einsatz kom-
mende Methodik. Bislang sei
zum Beispiel nicht nachvoll-
ziehbar, ob die KMK sich beim
Lehrerbedarf nur auf den regu-
lären Unterricht beziehe oder
etwa den geplanten Ganztags-
ausbau ebenfalls berücksichti-
ge. Jedes Bundesland führe sei-
ne Statistiken nach eigenen Kri-
terien, die am Ende auf wenig
transparente Weise zusammen-
geführt würden.
Präzision und Transparenz
ist auch im Umgang mit den
Quereinsteigern nötig. Möglich
ist nämlich, dass nun aus der
Not heraus die Studienplatzka-
pazitäten hochgefahren wer-
den, ohne dass im Detail be-
rücksichtigt wird, was in Zu-
kunft mit den provisorisch ein-
springenden Kräften passiert.
Entscheidend ist zum Beispiel,
ob Quereinsteiger nur überbrü-
ckungsweise oder dauerhaft per
unbefristetem Vertrag ange-
stellt werden. Ist letzteres der
Fall, dürften die Studienplatz-
kapazitäten nicht zu stark
hochgefahren werden, „ansons-
ten könnte es auf ein Überange-
bot an Lehrkräften hinauslau-
fen“, sagt Zorn – und das ist na-
türlich ebenfalls problematisch.
Zudem zeigt der Blick nach
vorn, dass die Kalkulation mög-
lichst schnell für alle Schulfor-
men überarbeitet werden muss.
Denn dass die Zahl der Grund-
schüler stärker steigt als bis-
lang gedacht, impliziert, dass es
absehbar auch mehr Kinder an
den weiterführenden Schulen
geben wird. Wenig problema-
tisch ist das für die ohnehin
überversorgten Gymnasien. Auf
andere weiterführende Schulen
hingegen kommt eine ungleich
größere Herausforderung zu.

Auch die
KKKultusminis-ultusminis-
terkonferenz
bestätigt, dass
der Lehrerbe-
darf größer
iiist als an-st als an-
genommen

PICTURE ALLIANCE/

ULRICH BAUMGARTEN

Lehrermangel an


Grundschulen


größer als


gedacht


In Deutschland werden bald 26.300 Lehrkräfte fehlen, zeigt eine


Analyse für die Bertelsmann-Stiftung. Ruheständler, Teilzeitkräfte


und Quereinsteiger können das Problem nicht dauerhaft lösen


Zahl der Schulkinder deutlich unterschätzt

Quelle: Bertelsmann Stiftung, Kultusministerkonferenz ����

Schülerzahlentwicklung in der Primarstufe* im Vergleich der Vorausschätzungen

* Jahrgangsstufen � bis � der Grundschulen, Gesamtschulen und Waldorfschulen

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Schulkinder zusätzlich

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Schülerzahl-
prognose der
Kultusminister-
konferenz

Auf Basis
Statistisches
Bundesamt:
Bandbreite
der Varianten

Variante �
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