Die Welt Kompakt - 10.09.2019

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KULTUR DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT DIENSTAG,10.SEPTEMBER2019 SEITE 20


E


s ist, als hätte George
Orwell nach „1984“
noch „1985“ geschrie-
ben, als hätte George
Eliot es ein halbes Leben nach
„Middlemarch“ noch mal mit
„Middleapril“ probiert, oder als
hätte sich Thomas Mann spät
im Leben nicht für „Doktor
Faustus“, sondern à la Enid Bly-
ton für „Das Zaubertal“ ent-
schieden. Was natürlich un-
denkbar ist. Klassiker setzen ih-
re Klassiker nicht fort. Zweite
oder dritte Teile sind vermeint-
lich geringeren Künsten vorbe-
halten: Trivialromanen, Fanta-
sybestsellern oder Kinderbü-
chern. Wer hingegen mit einem
Roman auf dem Parnass ange-
kommen ist, genießt die Hö-
henluft und macht was Neues.

VON WIELAND FREUND

Nicht so die kanadische
Schriftstellerin Margaret At-
wood, die im November ihren
achtzigsten Geburtstag feiert.
1985 hat sie sich mit ihrer femi-
nistischen Dystopie „Der Re-
port der Magd“ („The Hand-
maid’s Tale“) auf den Parnass
geschrieben, und jetzt hat sie
ihren Klassiker gegen alle hoch-
literarischen Gepflogenheiten
mit dem Roman „Die Zeugin-
nen“ fortgesetzt – so als wäre
sie nicht die verehrte Booker-
Preisträgerin und verdiente
Nobelpreiskandidatin, sondern
eine kanadische Mary Pope Os-
borne, die noch einmal mit dem
magischen Baumhaus verreist.
Hätte man das George Or-
well, George Eliot oder Thomas
Mann durchgehen lassen? Und
was treibt Margaret Atwood
überhaupt, scheinbar ganz oh-
ne Not Hand an etwas zu legen,
das man offensichtlich nicht
mehr verbessern, aber im
Nachklapp ruinieren kann?
Seit aus „The Handmaid’s Ta-
le“ eine äußerst populäre Fern-
sehserie wurde, ist Atwoods
„Magd“ Desfred schließlich ei-
ne politische Ikone. Ihr charak-
teristisches Kostüm – die weiße
Flügelhaube und das lange rote
Kleid – wurde bei Demonstra-
tionen in aller Welt getragen: In
Argentinien oder Irland, wo
Frauen für das Recht auf Ab-
treibung auf die Straße gingen,
ebenso wie beim legendären
„Women’s March“ gegen den
misogynen Donald Trump.
„Make Margaret Atwood fiction
again“, stand damals auf den
Plakaten zu lesen, denn nicht
nur hat es „Der Report der
Magd“ als Meisterwerk auf den
Parnass geschafft, seit dem Auf-
stieg emanzipationsfeindlicher
Rechtspopulisten brilliert er
auch als Orakel. Kann es da
sein, dass es in der Fortsetzung
um etwas anderes als den Sadis-

mus alter Männer geht? Kann
„Die Zeuginnen“ etwas anderes
sein als eine Ermutigung zu
mehr MeToo? Etwas anderes
als Wasser auf die Mühlen der
Anti-Trump-Bewegung?
Es kann. Margaret Atwood
ist nicht auf billige Aktualisie-
rung aus. Sie will sich nicht zum
Büttel einer weiteren Polarisie-
rung machen. Was sie mit dem
zweiten Gilead-Roman hätte
anstellen können, deutet sie
gleich zu Beginn der Geschichte
an – allerdings allein, um solche
Ansprüche mit typisch trocke-
nem Humor zurückzuweisen.
Da sieht man im liberalen Kana-
da liberale Menschen liberale
Plakate schwenken und die
Herren von Gilead „Faschisten“
und „Klimawandel-Lügner“
nennen, während die wenigen
fehlgeleiteten Gegendemons-
tranten auf die aus Gilead geflo-
henen Mägde schimpfen:
„GRENZEN DICHTMACHEN!
GILEAD BEHALT DEIN GE-
SOCKS, WIR HABEN HIER
SCHON GENUG!“
Doch die Szene zieht vorüber
wie der Demonstrationszug
selbst. Margaret Atwood ist auf
eine ungleich kompliziertere
Geschichte aus. Eines der Motti
des Romans stammt aus Wassili
Grossmans Roman „Leben und
Schicksal“, in dem ein Nazi zu
einem Bolschewiken sagt:
„Wenn wir einander ansehen,
dann erkennen wir nicht nur

ein verhasstes Gesicht, sondern
wir schauen in einen Spiegel.“
Im „Report der Magd“ hat mit
der sexuell ausgebeuteten
Magd Desfred ein Opfer seine
Geschichte erzählt, in „Die
Zeuginnen“ ergreift nun Des-
freds sadistische Ausbilderin
Tante Lydia das Wort. Zwar
führt Atwood mit den beiden
Töchtern Desfreds noch zwei
weitere Erzählerinnen ein, der
Roman jedoch läuft im Haus Ar-
dua zusammen, dem Machtzen-
trum weiblicher Kollaboration
mit dem patriarchalen Regime.
Dort zieht – 15 Jahre nach den
Ereignissen des „Reports“ – die
alte Tante Lydia die Strippen,
narrt den widerlichen Geheim-
dienstchef Gileads, intrigiert
gegen ihre verschlagenen Mit-
Tanten, beichtet ihre Sünden
und rühmt sich ihrer Taten.
Nicht Bestätigung, sondern
Verunsicherung steht auf dem
Programm dieses Romans, etwa
wenn eine Horde wild geworde-
ner Mägde im Auftrag des Re-
gimes einen Vergewaltiger öf-
fentlich in Stücke reißt. Schul-
dig ist dieser Mann sehr wohl,
allerdings nicht im Sinne der
Anklage. Doch wie Tante Lydia
weiß: „Unschuldige Männer, die
ihre Schuld abstreiten, klingen
genauso wie schuldige Männer,
wie du sicherlich schon be-
merkt haben wirst, lieber Le-
ser.“ Zu einer solchen Warnung
an die Adresse der MeToo-Be-

wegung gehört nicht gerade we-
nig Mut. Doch auch der ikoni-
schen Fernsehserie, die erheb-
lich zur Breitenwirkung des
„Reports“ beigetragen hat, will
Atwood ihren Klassiker nicht
kampflos überlassen. Der war
über weite Strecken ein Kam-
merspiel; Atwood verblieb in
den engen Grenzen dessen, was
die eingesperrte Magd Desfred
erlebt. Die Serie hingegen hat
sich spätestens mit der zweiten
Staffel auf allerlei serientypi-
sche Verwicklungen verlegt, oh-
ne dem Original so recht etwas
hinzuzufügen.
In „Die Zeuginnen“ nun zeigt
Margaret Atwood den Kollek-
tiv-Plottern im Writers’ Room,
was eine Harke ist. Sie verwan-
delt ihren Klassiker kurzerhand
in einen Spionageroman, mehr
John le Carré als George Or-
well: Minikameras werden beim
Zahnarzt in Gebissen versteckt,
Mikropunkte unter Tattoos ver-
borgen, und Desfreds abenteu-
erliche Töchter sind vor der
Küste in einem schaukelnden
Dinghy unterwegs, so als würde
hier noch einmal Stevensons
„Schatzinsel“ erzählt, übrigens
das „Jungsbuch“ schlechthin.
James Joyce hätte sich vermut-
lich eher die Schreibhand abge-
hackt, als seinen „Ulysses“ als
Detektivroman fortzusetzen.
Das eigentliche Skandalon
der „Zeuginnen“ aber dürfte
noch ein ganz anderes sein: Be-
geisterte, ermutigte Leserinnen
haben den „Report der Magd“
buchstäblich auf die Straße ge-
tragen, und jetzt kommt Mar-
garet Atwood und verwandelt
die Fortsetzung dieses Gesell-
schaftspolitik gewordenen
Klassikers in ein ganz persönli-
ches Buch. Denn nicht nur ist
die alte Tante Lydia die ent-
scheidende Gestalt, sie ist über-
dies in einem Kabinett kompli-
ziert gestellter Spiegel auch At-
woods Alter Ego.
Selbst Weltbestseller können
Kassiber sein, die im Lärm, der
um sie gemacht wird, geflüster-
te Botschaften verstecken. Die
ungehörte Botschaft der „Zeu-
ginnen“ steht übrigens gleich
im ersten Satz. Tante Lydia
sieht, als sie sie niederschreibt,
auf die überlebensgroße Statue
hinaus, die ihr Gilead errichtet
hat: „Nur Tote dürfen Denkmä-
ler haben, ich aber habe zu Leb-
zeiten eines bekommen.“
Mit den „Zeuginnen“ ist
Margaret Atwood vom Sockel
ihres Denkmals gestiegen. Und
in den triumphalen Momenten
dieser ungehörigen Fortset-
zung hat sie dabei auch noch
leise gelacht.

TMargaret Atwood: Die Zeu-
ginnen. A. d. Engl. v. Monika
Baark. Berlin Verlag, 573 S., 25 €

©

JEAN MALEK / PIPER VERLAG

/ AMANDA EDWARDS

Eine unerhörteBotschaft


Margaret Atwood hat ihren Feminismusklassiker „Der Report der Magd“ fortgesetzt


PASSIONSSPIELE

Doch kein E-Scooter
für Jesus

Jesus Christus wird bei den
berühmten Oberammergauer
Passionsspielen im nächsten
Jahr nicht auf dem E-Tret-
roller nach Jerusalem ein-
ziehen. Wie eh und je werde
Gottes Sohn auf einem Esel
reiten, teilten die Passions-
spiele mit. Das Veterinäramt
des Landratsamtes Garmisch-
Partenkirchen stellte klar,
dass grundsätzlich dem tradi-
tionellen Ritt auf dem Esel
nichts entgegenstehe. Die
Organisation Peta hatte ihn
als tierschutzwidrig gesehen
und den Ersatz des Tieres
durch einen E-Scooter vor-
geschlagen.

BERLIN
Mauerfall ist Thema
auf der Art Week

Die Berlin Art Week schaut in
diesem Jahr unter anderem
auf 30 Jahre Mauerfall. Die
Kunstwoche geht von Mitt-
woch bis Sonntag, beteiligt
sind mehrere Museen, Gale-
rien und Kunstmessen.

KOMPAKT


I


mmer mehr Frauen ab 40
kriegen Kinder. Ihre Zahl
hat sich seit 1990 vervier-
facht. Sollte sich der Trend
fortsetzen, und warum sollte
er das nicht, dann werden 60-
jährige Mütter bald die Regel
sein, und schwangere 30-Jähri-
ge gelten als Fall fürs Jugend-
amt. Das wird unsere Gesell-
schaft erheblich verändern.
Mit 60 fällt die Entscheidung
zwischen Karriere und Familie
nicht mehr so schwer, und
man hatte ausreichend Zeit,
genügend Geld zu verdienen,
um den Kindern ein Studium
und ein Mikroappartement in
einer mitteldeutschen Groß-
stadt zu finanzieren. Kurz vor
der Rente noch in Elternzeit
zu gehen wird normal. Kinder
mit alten Eltern haben, wenn
überhaupt, uralte Großeltern.
Sie können den bewegungs-
eingeschränkten Erziehungs-
berechtigten mit Leichtigkeit
davonlaufen, aber möglicher-
weise müssen sie ihre Eltern
noch vor dem Hauptschulab-
schluss pflegen. Es wird Kin-
derwagen geben, die gleichzei-
tig als Rollatoren funktionie-
ren, und im schlimmsten Fall
müssen die Windeln sowohl
beim Kind als auch bei den El-
tern gleichzeitig gewechselt
werden.

Zippert


zappt

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