Die Welt Kompakt - 10.09.2019

(ff) #1
„PERSONAL

IN DER

PSYCHIATRIE

IST AM LIMIT“

„PERSONAL

IN DER

PSYCHIATRIE

IST AM LIMIT“

POLITIK DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT DIENSTAG,10.SEPTEMBER2019 SEITE 4


Gräf. Seit 1990 regelt die Psy-
chiatrie-Personalverordnung
(Psych-PV) die Personalstan-
dards von Kliniken – doch sie
ist inzwischen deutlich veraltet:
Psychotherapien etwa sind
kaum vorgesehen. Vor bald drei
Jahren gab der Bundestag dem
Gemeinsamen Bundesaus-
schuss (G-BA) die Aufgabe, ver-
bindliche Personalmindestvor-
gaben zu entwickeln, die wis-
senschaftsbasiert und zu einer
leitliniengerechten Behandlung
beitragen sollen. Doch scheitert
der Ausschuss mit diesem ge-
setzlichen Auftrag wohl. Kran-
kenkassen und Kliniken sind
sich uneins.
Auch ein Grund: Wegen Ma-
nipulationsvorwürfen kann ei-
ne Studie bislang nicht berück-
sichtigt werden, die den derzei-
tigen Zustand auf psychiatri-
schen Stationen erfassen sollte.
Doch sie hätte ohnehin nur be-
stehende Probleme erfassen
können, nicht aber den Bedarf.
„Es ist in der Tat so, dass wir
in einem ersten Schritt nicht zu
einer von allen gewünschten
und notwendigen Weiterent-
wicklung der Personalstan-
dards in der Psychiatrie kom-
men werden“, sagt Gerald Gaß,
Präsident der Deutschen Kran-
kenhausgesellschaft. Er spricht
von einer „großen Enttäu-
schung“. Es bleibe im Moment
nichts anderes übrig, als die
veraltete Psychiatrie-Personal-
verordnung mit nur punktuel-
len Verbesserungen als Grund-
lage zu nehmen. Am 19. Sep-
tember will der G-BA entschei-
den. Wenn nach mehr als zwei
Jahren Arbeit die nötige Anpas-
sung an moderne Standards
verschoben wird, sei es ein „Su-
per-GAU“ und „sehr beschä-
mend“, so die ehemalige Psy-
chiatriekrankenschwester He-
land-Gräf. Ihr Verein ist ohne
Stimmrecht im Ausschuss. Für
den G-BA wäre ein Misserfolg
politisch heikel: Gesundheits-
minister Spahn hat mehrfach
gedroht, dem Selbstverwal-
tungsgremium Kompetenzen

zu entziehen. Bisher entschei-
det es darüber, welche Leistun-
gen Kassen bezahlen.
Der Präsident der Kranken-
hausgesellschaft Gaß will da-
rauf dringen, dass etwa bis zum
Jahr 2024 moderne Personal-
standards erlassen werden. Da
die Verfahren beim G-BA ver-
traulich sind, will der Spitzen-
verband der Krankenkassen
sich nicht äußern. Ihm ist wich-
tig, dass Kliniken nachweisen,
dass das eingeplante Personal
tatsächlich zum Einsatz
kommt. Die Kassen verspre-
chen, sich für Genesungsbeglei-
ter und regelmäßige Anpassun-
gen der Standards einzusetzen.
Die Kritik an der misslichen
Lage teilen fast alle. „Es wäre
schlimm, wenn man die Chance
vertun würde, die Psych-PV
durch ein wirklich zukunftwei-
sendes neues Personalbemes-
sungsinstrument zu ersetzen“,
erklärt Psychiater Thomas Poll-
mächer, designierter Präsident
der Deutschen Gesellschaft für
Psychiatrie und Psychothera-
pie, Psychosomatik und Ner-
venheilkunde. Von einem ver-
nünftigen, schlüssigen Modell
sei der G-BA derzeit weit ent-
fernt. „Am Ende könnte es ein
Scherbenhaufen werden.“
„Wir fordern vom Bundesge-
sundheitsministerium die Ein-
setzung einer Expertengruppe,
die auch mit Praktikern besetzt
ist“, sagt Neunhöffer. Dasselbe
fordern Verbände von Betroffe-
nen, Angehörigen und Ärzten
schon lange. Eigentlich müsste
die Versorgung grundsätzlich
umgekrempelt werden: Die
letzte große Reform fand mit
der „Psychiatrie-Enquete“ 1975
statt. Damals gab es in West-
deutschland 130 teils riesige Kli-
niken mit durchschnittlich 700
Betten, in die psychisch Kranke
über Monate und Jahre „wegge-
sperrt“ wurden – mit durch-
schnittlich einem Arzt pro 60
Betten und einem Psychologen
pro 500 Betten. Im Zuge der
Reform wurden Kliniken ver-
kleinert und grundlegend um-

gestaltet, vielerorts wurden
wohnortnahe Angebote aufge-
baut. In den vergangenen 15
Jahren kehrte sich dies „in Tei-
len sogar um“, wie im Juli ein
Bericht der Friedrich-Ebert-
Stiftung feststellte: So steige
die Zahl der Klinikbetten seit
2005 wieder an. Noch „wesent-
lich gravierender“ sei, dass die
Zahl der Klinikaufenthalte seit
1990 mehr als verdoppelt wur-
de. Dies habe sowohl negative
Folgen für die Patienten wie
auch für die Krankenkassen.
Ein „wesentlicher Grund“ für
den großen Zulauf an den Klini-
ken sei, dass es bislang nicht ge-
lungen ist, die ambulante Ver-
sorgung für psychisch schwer
kranke Menschen aufzusto-
cken. Hausbesuche sind nach
aktuellem Forschungsstand das
Mittel der Wahl, um Kranken-
hausbehandlungen unnötig zu
machen. Zudem müssten flä-
chendeckend rund um die Uhr
mobile Kriseninterventions-
dienste erreichbar sein. Patien-
ten müssten sich verlassen kön-
nen, „jederzeit und an jedem
Ort in Deutschland individuell
zugeschnittene und aufeinan-
der abgestimmte Hilfen zu er-
halten“. Bislang gibt es wenig
Bewegung: Als einen Schritt
hatte das Ministerium Spahns
aufsuchende Behandlungsfor-
men eingeführt, die jedoch nur
für Schwerkranke infrage kom-
men und bislang von sehr weni-
gen Kliniken angeboten wer-
den. Auch aufgrund der UN-Be-
hindertenrechtskonvention ha-
ben Patienten einen Anspruch
auf leicht erreichbare Unter-
stützung in ihrem Lebensum-
feld. Dies soll „Isolation und
Absonderung von der Gemein-
schaft“ verhindern, wie sie
durch lange Klinikaufenthalte
entstehen. „Da gibt es Defizi-
te“, sagt auch Gaß. Es könnten
sicher 20 Prozent der Einwei-
sungen vermieden werden, sagt
er – andere Experten gehen so-
gar von deutlich höheren Zah-
len aus. „Gerade die Möglich-
keiten einer ambulanten oder
teilstationären Behandlung be-
ziehungsweise einer Zuhause-
behandlung fehlen vielfach“, so
Gaß. Minister Spahn ist
Schirmherr eines Angehörigen-
vereins. „Leider sind Therapie-
plätze oft mit langen Wartezei-
ten verbunden“, schrieb der
CDU-Politiker vor einigen Jah-
ren in einem Grußwort.
Sein Ministerium sieht je-
doch wenig Handlungsbedarf,
außer bei der Verzahnung und
Koordinierung der Versorgung.
„In Deutschland bestehen flä-
chendeckende Versorgungs-
strukturen zur psychiatrischen,
psychosomatischen und psy-
chotherapeutischen Versor-
gung im stationären, teilstatio-
nären und ambulanten Sektor“,
erklärt ein Sprecher. Ver.di und
Ärzteverbänden reicht das
nicht. Sie wollen Druck ma-
chen. „Es ist wahrscheinlich,
dass es zu heftigen Protesten
kommt“, sagt Pollmächer.

Spannung.“ Drei von vier Um-
frageteilnehmer sagten, sie
könnten sich nicht vorstellen,
bis zur Rente in der Psychiatrie
zu arbeiten. Neunhöffer be-
zeichnet die Ergebnisse als „er-
schütternd“, es gebe auf allen
Seiten viel unnötiges Leid.
Martina Heland-Gräf war
mehr als 20 Jahre Kranken-
schwester auf Psychiatriesta-
tionen, bevor sie selbst er-
krankte – nun engagiert sie sich
im Vorstand des Bundesver-
bands Psychiatrie-Erfahrener.
„Das Personal ist immer am Li-
mit“, sagt sie, es gebe zu wenig
Raum für Deeskalation. „Es
wird immer noch viel fixiert.“
Das führe zu Traumatisierun-
gen. Wie Neunhöffer denkt sie,
dass Betten oder Stationen ge-
sperrt werden müssten, bevor
es wegen nicht ausreichenden
Personals zu gefährlichen Si-
tuationen komme. „Wir sind
noch lange nicht so weit, dass
man sagen kann, dass wir eine
menschenrechtskonforme Psy-
chiatrie haben“, sagt Heland-

E


s kann jeden treffen.
Depression, Schizo-
phrenie, Angst- oder
Suchtstörung: Rund
jeder vierte erwachsene Deut-
sche ist – über zwölf Monate
hinweg betrachtet – zumindest
zeitweise von einer psy-
chischen Krankheit betroffen.
Hunderttausende sind schwer
erkrankt. Für Betroffene und
ihre Angehörigen ist dies oft
mit viel Leid verbunden. Auch
Bundesgesundheitsminister
Jens Spahn (CDU) weiß das, er
sprach in einer Biografie über
eine psychische Erkrankung
seines Vaters. Es sei eine „kras-
se Erfahrung für die ganz Fami-
lie“gewesen.

VON HINNERK
FELDWISCH-DRENTRUP

Neben Herz-Kreislauf-Er-
krankungen und Krebs zählen
psychische Erkrankungen auch
zu den häufigsten Ursachen für
den Verlust gesunder Lebens-
jahre. Laut einer Auswertung
von zwei Dutzend internationa-
len Studienist die Lebenser-
wartung psychisch kranker
Menschen im Mittel um zehn
Jahre reduziert.
Trotz dieses Wissens ist die
Versorgung psychisch Kranker
in Deutschland allerdings alles
andere als optimal. Apparate
und Maschinen können bei der
Behandlung kaum helfen, die
ist personal- und zeitintensiv.
Doch an Zeit und Personal
mangelt es vielerorts. So
kommt es zu unnötigen Krisen,
die Patienten und Personal be-
lasten – und unnötige Kosten
verursachen. Zwangsmaßnah-
men wie die Einweisung auf ei-
ne geschlossene Station oder
Zwangsmedikationen müssen
eigentlich auf ein Mindestmaß
reduziert werden, wie das Bun-
desverfassungsgericht in vielen
Urteilen bekräftigt hat – doch
das klappt zu oft nicht.
Auch eine Umfrage der Ge-
werkschaft Ver.di unter rund
2300 Mitarbeitern von mehr als
160 psychiatrischen Kranken-
häusern zeigt erhebliche Pro-
bleme auf. „Über 60 Prozent
sagen, die Hälfte oder sogar fast
alle Zwangsmaßnahmen könnte
man vermeiden, wenn man
mehr Personal hätte“, sagt Gi-
sela Neunhöffer, bei Ver.di zu-
ständig für psychiatrische Ein-
richtungen. Drei Viertel der
Teilnehmer gaben an, die Beset-
zung auf den Stationen sei zu
gering. Ausreichend Zeit bleibe
höchstens für Dokumentati-
onsaufgaben, die für die Thera-
pieabrechnung wichtig ist.
Für ungestörte Gespräche
oder individuelle Betreuung
von Patienten aber fehle die
Zeit, obwohl damit zumindest
teilweise Fixierungen verhin-
dert werden können. Mehr als
vier von fünf Umfrageteilneh-
mern gaben an, ihren Patienten
keinen begleiteten Ausgang zu
ermöglichen, wie Neunhöffer
sagt. „Das erzeugt unnötige

Der Gemeinsame


Bundesausschuss


soll Standards für


eine zeitgemäße


psychiatrische


Behandlung


erarbeiten – doch


offenbar steht das


Projekt kurz vor


dem Scheitern.


Eine Umfrage


zeigt, dass


die Lage


für Mitarbeiter


und Patienten


erschütternd ist

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