Süddeutsche Zeitung - 10.09.2019

(Darren Dugan) #1
von thomas steinfeld

A


ls Alexander von Humboldt im Jahr
1807 seine „Ideen zu einer Geogra-
phie der Pflanzen nebst einem Na-
turgemälde der Tropenländer“ veröffent-
lichte, bestand das bald berühmt geworde-
ne „Gemälde“ aus einem Querschnitt
durch die Anden, mit dem Chimborazo in
der Mitte. Auf der linken Seite des Berges
stellte der Naturforscher den Pflanzen-
wuchs, die Schneegrenze und die Wolken-
verteilung dar, während er auf der rechten
Seite nur die Namen der Pflanzen verzeich-
nete, in ihrer Verteilung nach Höhenlagen.
Es wären viel zu viele gewesen, um sie bild-
lich darzustellen.
Daneben finden sich auf diesem Bild
zahlreiche weitere Angaben, zu den exak-
ten Höhen, zur Temperatur und zum Luft-
druck in Tabellenform zum Beispiel. Die
deutsche Ausgabe dieses Werks (es war ein
Jahr zuvor auf Französisch erschienen)
widmete Alexander von Humboldt einem
Mann, der sich selbst, fast ein ganzes er-
wachsenes Leben lang, als Naturforscher
wahrnahm, obwohl ihn nicht erst die Nach-
welt in der Hauptsache für einen Dichter
hielt: Johann Wolfgang Goethe.

So angetan war Goethe von den „Ideen
zu einer Geographie“, dass er – das „Natur-
gemälde“ besaß er zunächst nicht – nach ei-
ner im Buch enthaltenen Beschreibung ei-
ne aquarellierte Zeichnung des Chimbora-
zo anfertigte, dem er auf der „Schattensei-
te“ einige europäische Berge gegenüber-
stellte: den Montblanc, den Ätna und den
Brocken. Goethes Zeichnung unterschei-
det sich von ihrem Vorbild indessen nicht
nur durch diesen Vergleich sowie durch die
Abwesenheit von Schrift und Tabellen, son-
dern auch durch die Perspektive. Es mi-
schen sich Querschnitt und malerische
Landschaft. Dafür mag es mehrere Beweg-
gründe geben, etwa, dass Goethe das Mo-
tiv „halb im Scherz, halb im Ernst“ behan-
delte – seine Zeichnung also ein Pastiche
darstellt, was dadurch bestätigt würde,
dass sie einige lustige Details enthält: ein
Krokodil auf Meereshöhe zum Beispiel,
das zu den Gipfeln hinaufblickt, wo irgend-
wo ein Männlein zu sehen ist, das Alexan-
der von Humboldt darstellen soll. Man
könnte das Bild auch ernster nehmen und
sagen, dass sich hier der Künstler über den
Wissenschaftler erhebt, und zwar viel-
leicht weniger, um diesem zu trotzen, als
um ihn zu vollenden, indem er, was Wissen-
schaft war, in ein Bild der Wirklichkeit
überführt. Es gäbe zudem eine dritte, noch
ernstere Deutung, doch davon soll später
die Rede sein. Humboldt jedenfalls reagier-
te auf das Bild erst nach Goethes Tod.
Im Weimarer Schiller-Museum ist zum
ersten Mal in solcher Vollständigkeit eine
Ausstellung über „Goethe und die Natur-
wissenschaften um 1800“ zu sehen. Sie
zeigt etwa 400 Exponate (mehr, als man
aufmerksam betrachten kann), ist grob bio-
grafisch angelegt und folgt also der Ge-
schichte der Naturwissenschaften in Goe-
thes Leben, die sie in Sachgebiete wie „Zeit
und Erde“, „Ordnung und Entwicklung“
und „Licht und Substanz“ gliedert. Des-
halb beginnt sie mit einem imaginären
Gang durch einen Bergwerksstollen. Denn
Goethe, im Jahr 1776 offiziell Berater sei-

nes Herzogs geworden, hatte sich zwar um
den Bergbau in seinem kleinen Herzogtum
zu kümmern. Doch stößt die Ausstellung
mit dieser Anordnung auf ihr erstes Pro-
blem. Denn Bergbau hat zwar etwas mit
Geologie zu tun, ist aber selber allenfalls ei-
ne angewandte Wissenschaft, was sich
nicht schon dadurch ändert, dass Goethe ei-
ne umfangreiche Sammlung von Gestei-
nen, Mineralien und Fossilien besaß.
Das Problem wird durch das Ende der
Ausstellung gespiegelt. Es gilt der im Jahr
1810 veröffentlichten „Farbenlehre“, dem
zentralen naturwissenschaftliche Vorha-
ben des vermeintlich auf diesem Gebiet
nur dilettierenden Dichters. Die biografi-
sche Gliederung gerät auf diese Weise in
Konflikt nicht nur mit den Vorstellungen,
die Goethe vom Sammeln hatte. Er begriff
seine Tätigkeit als ein großes Entfalten
und Entwickeln, nicht als einen Gang
durch Stationen. Die biografische Anord-
nung bringt Goethe zudem um die Beson-
derheit seiner größten Anstrengung, in-
dem sie sein Interesse an den Naturwissen-
schaften unter den allgemeinen Aufbruch
der Wissenschaften von der Natur um
1800 subsumiert. Dazu gehören sie aber
nur unter erheblichen Vorbehalten.
Um diese Kritik zu erläutern, sei auf Goe-
thes Bild vom Chimborazo zurückgegrif-
fen. Denn mit der Perspektive, die Hum-
boldts Querschnitt in eine Landschaft ver-
wandelt, zieht ein Element in das Bild ein,
das man nicht sieht, das aber alles verän-
dert: der Betrachter. Diese Gestalt ist sogar
im Bild selbst gegenwärtig, allerdings nur
in symbolischer Form. Denn unter die „eu-
ropäischen Gebirge“ hatte Goethe allein
solche Höhen aufgenommen, die er selbst
bestiegen hatte. Nur auf der Oberfläche in-
dessen hat diese Perspektive etwas mit
Subjektivismus zu tun. Vielmehr spiegelt
sich in ihr die Vorstellung, es gebe ein Gefü-
ge des Wissens, in dem Wahrnehmung,
Wissenschaft (vom Objekt) und Ästhetik
drei jeweils eigene Motive bilden, die aber
erst zusammen einen Sinn ergeben. „Ge-
heimnisvoll am lichten Tag, / lässt sich Na-
tur des Schleiers nicht berauben“, heißt es
im „Faust“, „und was sie deinem Geist
nicht offenbaren mag, / das zwingst du ihr
nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben.“
Es ist diese Überzeugung, die Goethe in
der „Farbenlehre“ (1810) in einen vehemen-
ten Gegensatz zu Isaac Newton brachte
(der damals schon achtzig Jahre tot war).
Es gehe in der Farbenlehre, so Goethe, gar
nicht um die Frage, „was denn die Farbe“
sei, sondern darum, wie sie erscheine. Des-
halb setzt er sich so gründlich mit der Netz-
haut auseinander, dem „Organ des Sehens
überhaupt sowie des Gewahrwerdens“,
und deshalb gliedert er seinen Gegenstand
in physiologische, physische und chemi-
sche Farben, wobei diese Reihenfolge ei-
nem Werden zum Stoff entspricht.
Der Nachwelt, esoterische Anhänger
Goethes etwa aus der Anthroposophie aus-
genommen, gilt seine Farbenlehre meist
als Irrtum. Weil nun die Ausstellung auf
der einen Seite einem hagiografischen In-
teresse gehorcht, andererseits aber der
landläufigen Überzeugung vom „Irrtum“
nichts entgegenzusetzen hat, löst sie das
Problem in eine Inszenierung der Beliebig-
keit auf. Goethe stellte eine Behauptung
auf, so gibt sie zu verstehen, die manche in-
teressant fanden, andere für falsch erklär-
ten. Tatsächlich hat man sich auf diese Wei-
se die inhaltliche Auseinandersetzung er-
spart oder, feiner ausgedrückt, einem „Pa-
radigmenwechsel“ zugeschlagen.

Es gibt Bereiche, in denen Goethes Er-
kenntnisse (so klein sie ausgefallen sein
mögen) in die Bestände der Wissenschaft
eingingen, in der Anatomie zum Beispiel
oder in der Lehre von den Eiszeiten. Es gibt
andere Überzeugungen, die der Geschich-
te anheimgefallen sind, etwa die Auseinan-
dersetzungen zwischen „Neptunisten“ (zu
denen der friedlich gesinnte Goethe gehö-
ren wollte) und „Vulkanisten“ über die Ent-
stehung der Gesteine. Und es gibt schließ-
lich Forschungsgebiete, in denen sich Er-
kenntnisse kaum beurteilen lassen, wenn
man nicht zugleich die Interessen in den
Blick nimmt, aus denen sie hervorgingen.
Das gilt nicht nur für die Farben oder,
vielleicht mehr noch, für das Licht, son-
dern überhaupt für den Status des Experi-
ments im Hinblick auf naturwissenschaftli-
che Erkenntnisse. Bei Friedrich Steinle,
dem Berliner Wissenschaftshistoriker
(den das Literaturverzeichnis des Katalogs
nicht erwähnt), lässt sich jedenfalls lernen,
dass es Goethe bei seinen zahllosen Experi-
menten zur „Farbenlehre“ weniger darauf
ankam, aus vielen Beobachtungen ein „Ge-
setz“ zu gewinnen, als vielmehr darauf, die
Farbeffekte zu „vermannigfaltigen“, bis in
alle Unendlichkeit. Auch das geschah nicht
ohne Grund: Goethe wollte wissen, was
man sieht, wenn man sieht. Und das sind
auf keinen Fall „Gestalten“. Denn diese ent-

stehen, Goethe zufolge (und es spricht eini-
ges für seine Annahme, nach wie vor), erst
im Kopf des Betrachters.
Es gibt viel zu sehen in dieser Ausstel-
lung, Kristalle in großen Mengen, beschrif-
tete Schädel und Brillantkäfer in eigens für
sie hergestellten Vitrinen, zudem die physi-
kalischen Apparate, mit denen Goethe ar-
beitete, darunter so seltsam anmutende
Dinge wie eine Kugelelektrisiermaschine
oder eine Batterie Leidener Flaschen, eine
Frühform des Kondensators. Der Ausstel-
lung dienen diese Geräte zum Beleg ihrer
These, dass Goethes wissenschaftliches In-
teresse an der Natur mit dem allgemeinen
Aufbruch der Naturwissenschaft um 1800
zusammenfällt. „Viele Naturwissenschaf-
ten gab es noch gar nicht, sie sind erst
durch Goethe und Kompagnons in die Welt
gekommen“, erklärt dazu der Wissen-
schaftsjournalist Harald Lesch, dessen
Statement im oberen Stockwerk an die
Wand projiziert wird.
Demselben Eindruck, dass Goethe am
Anfang einer Entwicklung stehe, deren
grandiose Resultate heute das Leben be-
stimmen, dient auch der digitale Firlefanz,
den die Ausstellung bemüht, angefangen
bei Büchern, auf denen, wenn man sie auf-
schlägt, plötzlich Illustrationen aufleuch-
ten, die vorher nicht zu sehen waren („ani-
mierte spacebooks“), über virtuelle Insze-

nierungen („Sinnesboxen“) bis hin zu einer
„interaktiven Netzwerkbibliothek“.
Was aber verrät der technische Zauber
über Goethe? Weniger als nichts. Denn
zum einen verbirgt sich in solchen Versu-
chen der Aktualisierung eine Überbewer-
tung der Gegenwart auf Kosten einer Ver-
gangenheit, die sich offenbar glücklich
schätzen soll, wenn sie überhaupt noch vor-
kommt. Zum anderen sind die modernen
Naturwissenschaften anders beschaffen
als die des neunzehnten Jahrhunderts, in-
sofern es bei diesen vor allem (und in der
Nachfolge Isaac Newtons, wogegen sich
Goethe ja gewehrt hatte) um das Auffinden
von „Gesetzen“ ging, während es den heuti-
gen Naturwissenschaften vor allem um Mo-
delle zu tun ist, was, der darin notwendig
enthaltenen Ästhetik halber, Goethe näher
kommt, als es den Anhängern des schlich-
ten Fortschrittsglaubens lieb sein kann.

Deswegen ist auch der Titel der Ausstel-
lung, „Abenteuer der Vernunft“, zumin-
dest irreführend. Denn die Formulierung
stammt nicht von Goethe (der „Abenteuer“
für ein „albernes Wort“ hielt), sondern wur-
de von Immanuel Kant ausgeliehen. Goe-
the hatte aber dem auch von ihm bewun-
derten Kant im Hinblick auf die Naturwis-
senschaften widersprochen, als dieser in
der „Kritik der reinen Vernunft“ eine Hier-
archie der intellektuellen Vermögen auf-
stellte und die Sinnlichkeit in deren untere
Regionen verbannte. Stattdessen hatte
Goethe in der Einleitung zur „Farbenleh-
re“ der „Kritik der Vernunft“ die Forde-
rung nach einer „Kritik der Sinne“ entge-
gengesetzt, mit der Absicht, einen erkennt-
nistheoretischen Ort für „Erfahrungen der
höheren Art“ zu finden.
Von einer publikumsträchtigen Ausstel-
lung, ist nicht zu erwarten, dass sie ein wis-
senschaftlich haltbares Urteil über den
„Irrtum“ fällt, dem Goethe in seinem nach
seiner eigenen Auffassung wichtigsten
Werk zum Opfer gefallen sein soll. Noch we-
niger wäre von ihr zu fordern, ausgehend
von einer kritischen Geschichtsschrei-
bung der Naturwissenschaften zu erläu-
tern, welchen Ort und welchen Rang Goe-
thes Lebensanstrengung darin besitzt.
Doch wäre es durchaus möglich gewesen,
die Spannungsfelder aufzuzeigen, in de-
nen sich zumindest Teile dieser Arbeiten
Goethes in den Naturwissenschaften bis
heute bewegen. Es wäre möglich gewesen,
den mehr oder minder ungelösten Fragen
nachzugehen, die Goethe über gut fünfzig
Jahre hinweg beschäftigten. Und es wäre
möglich gewesen, einem Poetenkult zu wi-
dersprechen, der nach wie vor dazu dient,
die Welt des vermeintlich Faktischen von
der Welt des vermeintlich Eingebildeten
zu trennen. Nichts von alledem geschieht
in dieser Ausstellung, die ob ihrer Begeiste-
rung darüber, dass Goethe ein bedeuten-
der Platz in der Geschichte der Wissen-
schaften von der Natur einzuräumen sei,
zu fragen vergisst, ob und wie Goethes Wis-
senschaften mit dieser Geschichte über-
haupt kompatibel sind.

Abenteuer der Vernunft. Goethe und die Naturwis-
senschaften um 1800.Bis5.Januar 2020. Schiller-
Museum Weimar. Katalog (Sandstein Verlag) 38 Eu-
ro. Info: http://www.klassik-stiftung.de

Geheimnisvoll am lichten Tag


DieWeimarer Ausstellung „Abenteuer der Vernunft. Goethe und die Naturwissenschaften“ feiert ihren Helden als Teil des


Aufbruchs in die Moderne. Aber stand nicht Goethe im Widerspruch zur Emanzipation des Experiments von der Anschauung?


DEFGH Nr. 209, Dienstag, 10. September 2019 (^) FEUILLETON 11
Aus Goethes Sammlungen: Brillantkäfer (oben), Schädel
eines Menschen, nach dem System von Franz Joseph Gall beschriftet.
FOTOS: GOETHES SAMMLUNGEN, KLASSIK STIFTUNG WEIMAR
Kants „Kritik der Vernunft“
stellte Goethe die Forderung nach
einer „Kritik der Sinne“ entgegen
Goethes Chimborazo, gezeichnet von ihm selbst: „Höhen der Alten und der Neuen Welt“ aus dem Jahr 1807. FOTO: KLASSIK STIFTUNG WEIMAR, BESTAND MUSEEN
Manchmal löst allein ein Albumcover
und seine Geschichte eine unheimliche
Faszination aus, noch bevor man einen
einzigen Song gehört hat. Die Brasiliane-
rinDila(gesprochen „Dschila“) soll
1971, kurz nach der Veröffentlichung
ihres ersten und einzigen Albums, bei
einem Autounfall ums Leben gekom-
men sein. Ihr Name ist weitestgehend
in Vergessenheit geraten. Das Label Far
Out Recordings hat „Dila“ nun überar-
beitet wiederveröffentlicht. Man schaut
sich also dieses ikonische schwarz-wei-
ße Albumcover mit dem roten Schrift-
zug an, darauf die junge Frau, den Blick
nach oben gerichtet, sinnlich, aber auch
leicht ironisch. Man hat die Worte ihres
Komponisten Arnoldo Medeiros aus
den Liner-Notes im Kopf („Mein
Freund, pass auf, wenn dieses Mädchen
anfängt zu singen, wirst du in Schwierig-
keiten sein“) und fühlt dieses beklem-
mend-tragische Gefühl in sich aufstei-
gen, dass Dila durch ihren frühen Tod
vielleicht eine große Karriere versagt
blieb. Wenn man sich das Album an-
hört, ist man im ersten Moment fast
überrascht wie positiv und gut gelaunt
dieser soulige Samba daherkommt. Die
Musik tänzelt vor
sich hin, swingt
federleicht, jazzig,
aber auch sehr
poppig. Und Dilas
warme Stimme
fliegt nur so dar-
über hinweg.
Der amerikanische Indie-Rock ist heute
so weiblich und divers wie nie zuvor.
Angeführt wird er von einer ganzen
Reihe von Künstlerinnen mit asiati-
schen Wurzeln wieJapanese Breakfast,
Mitski oder Jay Som. Das ist insofern
erfreulich, als auch diese Generation
noch mit den gesellschaftlichen Stereo-
typen der ruhigen und unterwürfigen
Asiatin zu kämpfen hat, die sich viele
eben nicht über eine Bühne rockend
vorstellen können. Dabei gab es durch-
aus Vorbilder, schon vor 40 Jahren.
Fanny, so heißt die Band, die David
Bowie in einem Interview als „one of
the finest fucking rock bands of their
time“ bezeichnet hat. 1969 haben sie
sich in Los Angeles gegründet. Front-
frauen waren die beiden philippini-
schen Schwestern June und Jean Mil-
lington. Weil sie sich fremd fühlten, als
sie Anfang der Sechziger in die USA
kamen, stürzten sie sich in die Musik.
June an der E-Gitarre, Jean am Bass.
Ein paar Jahre später waren sie die erste
reine Frauen-Rockband bei einem Ma-
jor-Label (Reprise). Auf ihrem gleichna-
migen Debütalbum von 1970 sind fast
alle Songs selbst geschrieben. Da ist
Junes lässig-virtuoses Gitarrenspiel
und Jeans beatlesartiger Bass, außer-
dem Nickey Barcley, die eine Virtuosin
an Keyboard und Hammondorgel war
und Funk- und Blues-Einflüsse mit-
brachte. Und dazu wirklich großartige
Stimmen und Melodien. Leider hatten
Fanny bis auf zwei Singles in den Top
40 nie einen Hit. Mitte der Siebziger
lösten sie sich auf. Vielleicht hatte Da-
vid Bowie recht, als er sagte, es wäre
einfach nicht ihre Zeit gewesen. Aber
wer weiß: Seit ein YouTube-Video von
einem Auftritt der Band aus dem Jahr
1972 beim Beat-Club von Radio Bremen
viral ging, entdecken immer mehr Men-
schen die Band. Was Schlagzeugerin
Alice de Buhr veranlasst hat, eine
Crowdfunding-
Kampagne zu star-
ten, um die Musik
von Fanny auf CD
zu retten – das
Label will ihre ers-
ten vier Alben nicht
mehr nachpressen.
Ein echtes Stück New Yorker Geschichte
hat das Indie-Label Big Crown Records
ausgegraben und wiederveröffentlicht:
die Soul-Compilation„YIA Talent Hunt
Winners“. YIA steht für „Youth in Ac-
tion“, eine Initiative, die ab 1963 Jugend-
arbeit in Bedford-Stuyvesant leistete,
einem afroamerikanisch geprägten
Viertel mit damals hoher Armuts- und
Kriminalitätsrate. Dazu gehörte ein
Talentwettbewerb, bei dem Gruppen
bekannte Songs jener Zeit covern soll-
ten. Die Gewinner durften ihre Cover-
versionen professionell in einem Studio
aufnehmen, begleitet von einer lokalen
Band. Die Idee war, die Platte an Radio-
und Fernsehsender zu verteilen, in der
Hoffnung, dass die ein oder andere
Gruppe entdeckt würde. So beginnt die
Compilation dann auch mit einer Gruß-
botschaft von YIA-Sprecher Reverend
Horace Tyler, der die Gewinner bittet,
die YIA doch nicht zu vergessen, falls sie
Stars werden sollten. Leider hat es offen-
sichtlich keine der Gruppen geschafft,
sonst wären einem die NamenCarla &
The Carlettes,The Channels 4oderThe
United Soulswohl schon mal begegnet.
Das aber macht die ganze Platte noch
rührender als sie eh schon ist. Der Lo-Fi-
Sound wirft einen sofort hinein in eine
andere Zeit, in der „Groovin’“ vonThe
Rascalsoder „Cowboys to Girls“ von
The Intrudersdie großen Hits waren.
Besonderes Gimmick: die Produzenten
haben im Studio Applaus und Gekrei-
sche über die Aufnahmen gelegt, um
die Atmosphäre vom Wettbewerbstag
zu erzeugen, was nicht nervt, sondern
einen auch 50 Jahre
später noch mitfie-
bern lässt. Die per-
fekte Platte für
Hardocore-Nostalgi-
ker.
ann-kathrin
mittelstraß
Goethes „Farbenlehre“ galt vielen
Zeitgenossen und vollends der
Nachwelt als großer Irrtum
RETROKOLUMNE

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