von christoph bartmann
E
inen Finanzweltroman zu schreiben
ist das eine, aber das Geld selbst
sprechen, ja es erzählen zu lassen, ist
noch mal etwas ganz anderes. Ernst-Wil-
helm Händler, der Romancier, Ökonom
und Unternehmer, wird selbst am besten
wissen, worauf er sich da eingelassen hat.
„Das Geld spricht“, so heißt sein jüngster
Roman.
Aber wie hat man sich das vorzustellen?
Als eines der „symbolisch generalisierten
Kommunikationsmedien“ der Gesell-
schaft, wie Niklas Luhmann es nannte, ist
das Geld der Inbegriff der Wandlungsfähig-
keit. Nicht nur ist es, wie schon Rilke wuss-
te, „in den Geschäften zuhause“ und „ver-
kleidet sich scheinbar in Seide, Nelken und
Pelz“. Auch das Geld selbst wandelt sich
historisch, wird abstrakt, entmaterialisiert
sich. Rilkes „kupfernen Zehner“ hätte man
sich heute wohl als Bitcoin vorzustellen. Es
gibt wenig, was das Geld nicht kann, solan-
ge es Vertrauen gibt, aber kann es auch
sprechen? Eben das kann man von Medien
zuletzt erwarten. Ihr Status als Mittel lässt
es nicht zu, dass sie auch Subjekte einer
Artikulation sind. So ist es üblicherweise,
aber bei Händler soll nun also das Geld
Erzähler sein, Ich-Erzähler sogar. Ein Zitat
aus Shakespeares „Macbeth“ leitet den
Roman ein: „...a tale told by an idiot, full of
sound and fury, signifying nothing.“
Mehr Gesellschaftsroman als im Geld-
roman ist gar nicht vorstellbar, aber hier
geht es nicht um die ganze, breite Gesell-
schaft, die auch nicht weniger durchdrun-
gen wäre vom Wirken des Geldes, sondern
um „High Finance“, in Frankfurt, New
York und anderswo. „Der Schatten eines
Flugzeugs gleitet über den in der Hitze
flimmernden Asphalt und die blendend
hellen Glasoberflächen der Hochhäuser.
Der Gründer hebt beide Arme hoch und
beugt sich vor“. Ein Déjà-vu-Gefühl drängt
sich auf: Sieht es hier nicht ein bisschen
aus wie etwa in der TV-Serie „Bad Banks“.
Mag sein, aber erhebt das Geld neuerdings
Anspruch auf Originalität?
Das Geld als Erzähler hat einen Hang
zum Fachsimpeln, und wie auch nicht,
auch zum Angeben und Bescheidwissen.
„Die klassisch keynesianische Sicht, dass
die Wirtschaft bei Leitzinsen um die Null-
marke in eine Deflationsspirale abgleitet,
ist falsifiziert. Die klassische monetaristi-
sche Sicht, wonach Quantitative easing in
dem stattfindenden Umfang zu hoher
Inflation führt, ist ebenfalls falsifiziert.“
Das Geld kennt sich aus. Es nimmt nicht zu
viel Rücksicht auf Leserinnen ohne MBA-
Abschluss. Es kennt keine Ironie und baut
seine Erzählung aus einer straffen, kühlen
und selbstbewussten Sprache. Die Figuren
der Erzählung sehen dem Geld ähnlich,
oder das Geld ihnen.
Das Geld kann aber zum Glück auch
eine Geschichte erzählen. Die Story, unter-
haltsam, ja spannend und tatsächlich se-
rienkompatibel (sieht man von den Mono-
logen des Geld-Ichs ab), hat Folgendes als
Ausgangslage: „Der Gründer hat eine hal-
be Milliarde Dollar aus seinem Börsen-
gang in den USA übrig, die er nicht in seine
Firma investieren will.“Ein Banker, Abtei-
lungsleiter „Private Wealth“ bei einer
Frankfurter Großbank, soll ihm helfen,
dieses Geld zu parken. Er holt von drei
Hedgefonds-Inhabern Angebote ein, wie
es anzulegen sei: beim Nano-Mann, beim
schweren Mann und bei Banana Clip. Alle
Drei sind exzentrische Meister ihres Fachs,
Finanz-Nerds reinster Sorte und zugleich
Künstler, Virtuosen, Zauberer der Geld-
vermehrung. Kurz, die Figuren sind so
gezeichnet, wie man sich, geschult durch
die eine oder andere Finanzwelt-Soap,
deren Protagonisten eben vorstellt.
Der Roman hat es freilich auch gar nicht
auf ein realistisches Porträt der heutigen
Finanzelite abgesehen. Eher ist es so: Das
Geld sucht sich die Figuren, die ihm zur Ver-
gegenständlichung seiner Ideen plausibel
scheinen. Je weniger sie mit dem wahren
Leben zu tun haben, umso besser für die
Theorie. „Ich habe die Macht“, spricht das
Geld. Ich strukturiere: die Wahrnehmung,
das Denken, das Gefühl. Ich wähle aus der
Gesamtheit möglicher Weltbezüge. (...) Ich
bin Kognition und Emotion.“
Und habe mir als Schöpfergott natürlich
auch diesen Roman untertan gemacht, in
dem die Figuren Geld atmen, Geld denken
und Geld fühlen. Könnte man diesen
Befund auch auf den Filialvorstand einer
mittleren Sparkasse ausdehnen? Nicht
wirklich, denn „Finance“ fängt eigentlich
erst dort an, wo die Sicherheiten aufhören.
Die Deutschen werden international als
Banker sowieso nicht ernst genommen,
weiß das Geld, denn sie kleben treudoof an
Sicherheiten. Ihre vertrauensgestützte,
risikoscheue Realwirtschaft spielt sich
irgendwie unterhalb des Hedgefonds-Ra-
dars ab. Die in Händlers Roman abgebilde-
te, durchgespielte, vielleicht auch kritisier-
te Geldwelt des „entfesselten Kapitalis-
mus“ fängt erst da an, wo Trader (um nicht
„Händler“ zu sagen) an vorgefundenen
Realwerten hochspekulativ weiterdrehen.
Erst in dieser Sphäre können sich Finanz-
und Künstlergenie auf allerhöchster Ebene
in die Augen schauen. Händlers Roman-
these geht offenbar dahin, dass von diesem
Dach der Welt aus der Geist des Geldes in
alle unterhalb gelegenen Lebens- und Wirk-
lichkeitsbereiche einsickert und diese kon-
taminiert. „Ich bin die erfolgreichste Spra-
che, die es gibt“, behauptet das Geld. Mag
sein, aber die einzige Sprache ist es nicht.
Folgt man Luhmann, dann gäbe es jeden-
falls noch die Macht, die Liebe, die Wahr-
heit und weitere Kommunikationsmedien.
Wenn das Geld, ihm selbst zufolge, „Kogni-
tion und Emotion“ ist, dann könnte man
glauben, es habe sich alle übrigen Medien
erfolgreich einverleibt. Das ist ein oft gehör-
ter Verdacht, tatsächlich aber funktionie-
ren Medien wie etwa Justiz oder Liebe noch
immer weithin unbeeinflusst vom Zugriff
des Geldes. Die wachsende Bedeutung der
spekulativen Finanzindustrie trägt allein
noch nicht die Annahme, es habe sich in
den gegenwärtigen Gesellschaften der
Totalitätsanspruch des Kapitals gegen an-
dere Medien vollständig durchgesetzt. Eine
solche Annahme wäre übrigens in einem
Roman auch schwer darstellbar (von ihrer
Begründung ganz abgesehen).
Der Gelderzähler in Händlers Roman
neigt wohl auch deshalb zum Essayismus.
Die sichtbare Welt, in der sich gemeinhin
die erzählbaren Dinge zutragen, behandelt
er routiniert, und auch ein bisschen gelang-
weilt. Was soll sich auf oder hinter dieser
Oberfläche auch groß zutragen, was nicht
„Derivat“ von höheren Orts waltenden
Mächten wäre? Deutlich mehr beschäftigt
das Geld seine eigene Meinung. Man hat
fast den Eindruck, es hätte ihm lange nie-
mand mehr zugehört. Seine Meinungen
sind immer interessant, aber wir können
nicht beurteilen, ob sie neu sind, oder ob
sie nicht vielleicht sogar „falsifiziert“ wer-
den können. Gut für uns und den Roman,
dass kein Erzähler an seinen Meinungen
zu messen ist. Idealerweise hat er nämlich
keine, und schon gar keine eigenen.
Ernst-Wilhelm Händler: Das Geld spricht. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019. 398 Sei-
ten,22 Euro.
Der launische Gott
„Ichhabe die Macht“: In Ernst-Wilhelm Händlers neuem
Finanzwelt-Roman wird das Geld selbst zum Erzähler
Woschtschew wird an seinem 30.
Geburtstag infolge „wachsender
Kraftschwäche in ihm und seiner
Nachdenklichkeit im allgemeinen
Tempo der Arbeit“ entlassen. Er
schließt sich Arbeitern an, die am
Stadtrand ein „gemeinproletari-
sches“ Haus hochziehen sollen.
Was als „Muttergrube für das künf-
tige Leben“ gedacht war, ist am
Ende - ein Grab. Der Zergrübler
Woschtschew ist vielleicht so etwas
wie das Alter Ego von Andrej Plato-
now, dem Autor von „Die Baugru-
be“, jenes gnadenlos fordernden
Romans, der an der Wende des
Jahres 1929/ 30, während des ers-
ten Fünfjahresplans, in der russi-
schen Provinz spielt, und in der
UdSSR erst 1987 erscheinen konnte.
Da war sein Verfasser, der in den
Zwanzigerjahren Ingenieur für
Bewässerungstechnik war, schon
längst tot. Lange galt „Die Baugru-
be“ als unübersetzbar. Freilich gab
es Versuche, doch erst Gabriele
Leupold gelang kürzlich eine Fas-
sung, die das (Sprach)Ereignis, das
der Roman unbedingt ist, auch im
Deutschen nachvollziehbar macht.
Sibylle Lewitscharoff, die einen
Essay beisteuerte, meint, eine
schärfere Abrechnung mit dem
Stalinismus sei nie geschrieben
worden. Platonow lässt den Jargon
der Kommunisten mit der Alltags-
sprache kollidieren, so dass Worte
und Grammatik einen wilden (To-
ten)Tanz vollführen. Gleichzeitig
stößt das mantraartig beschworene
Glücksversprechen auf Figuren, die
allesamt des Lebens müde sind.
Die mittlerweile umfangreiche
Forschung hat ergeben, dass „Die
Baugrube“ um Begriffe wie Arbeit,
Existenz, Zukunft, Nutzen, Lage
und Wetter kreist. Man könnte
noch den des Körpers hinzufügen,
so eindringlich versteht es Plato-
now, geschundene Leiber zu be-
schreiben. In dem Roman, in dem
unablässig gestorben und gemor-
det wird, fallen selbst die Vögel tot
vom Himmel. Schließlich verdich-
tet sich alles in der Waise Nastja –
in dem Namen steckt das Wort
Auferstehung. Das zarte Geschöpf
repräsentiert den „Sozialismus im
barfüßigen Körper“ und sagt gleich-
wohl ohne Rührung Sachen wie
„Liquidiere den Kulaken als Klas-
se“. florian welle
Die Werke der Geschichtsschreibung las-
sen sich in zwei Gattungen einteilen: in die-
jenigen, die sich einer Epoche zuwenden
und etwa die Geschichte der Reformation
oder die der Befreiungskriege darstellen;
und in die anderen, die ein Thema durch
mehrere Epochen hindurch verfolgen. Zu
diesen ideengeschichtlichen Werken, wel-
che die Gegenwart aus der Vergangenheit
heraus verstehen wollen, zählt das Buch
des Historikers und Journalisten Michael
Jeismann über „Paare zwischen zwei Kul-
turen“, die, so der Obertitel, auf der „Frei-
heit der Liebe“ beharren, auch wenn ihnen
über geografische Grenzen hinweg und
mehr noch durch unterschiedliche kultu-
relle Prägung eine eheliche Verbindung er-
schwert oder gar durch Gesetz unmöglich
gemacht wird.
Die Aktualität von Jeismanns Weltge-
schichte der Paarbeziehungen und der ih-
nen entsprechenden ehelichen Kodizes ist
in der gegenwärtigen Epoche der Einwan-
derung und Integration zu evident, als
dass darauf eigens eingegangen werden
müsste. Die Widerstände gegen eine Ehe-
schließung zwischen zwei Menschen aus
verschiedenen Stämmen, Staaten oder Re-
ligionen gibt es allerorten zu allen Zeiten.
Die Inhumanität des Heiratsverbots ist in-
zwischen jedermann bewusst, denn be-
reits im 19. Jahrhundert begannen in Euro-
pa die Versuche, diese Grenzen abzubauen
- und erst ihr Erfolg macht Jeismanns
Buch überhaupt möglich.
So wären denn die Grundgedanken des
Buches weitgehend bekannt und aner-
kannt. Jeismann bleibt deshalb die schwie-
rige Aufgabe, seinem Stoff Interesse zu
verschaffen durch eine Erzählung, die fas-
ziniert durch den Reichtum an Ereignissen
und deren dramatischen Verlauf. Einen sol-
chen Stoff zu finden, ist allerdings im Falle
einer Liebe, der sich Hindernisse in den
Weg stellen, nicht allzu schwierig.
Die „Schicksalslandschaften“ dieser
„Extravaganten“, dieser Menschen, die ge-
bannt sind vom „Anderen“, vom „Außerge-
wöhnlichen“, zu schildern, verlässt Jeis-
mann dennoch nicht selten die Politik und
greift Märchen und Mythen auf, die die rea-
len Probleme widerspiegeln und sich an-
schaulich nacherzählen lassen. So beginnt
er seine Geschichte der getrennten Paare
bei den Göttern, jenen Fantasiewesen, die
den größten Abstand zu überwinden ha-
ben, falls sie ein menschliches Wesen lie-
ben, die Göttin Ischtar etwa, die den Gilga-
mesch liebt, oder Ahmed, der die Fee Peri
Banû begehrt. Stil und These des Buches
werden anhand dieser Mythen deutlich:
„Das Bereichernde der anderen Kultur gibt
es nicht ohne eigene Anstrengung. Sie be-
ginnt in der Familie – und es gibt keine
genaueren Beobachtungen dieser Konstel-
lation als im Märchen.“
Es zeigt sich an den mythischen Beispie-
len zwar, wie der Widerstand gegen eine
Vereinigung des scheinbar Unvereinbaren
in der Familie beginnt, wie aber in der Rea-
lität die Staaten als erweiterte Familien
den Widerstand intensivieren. So setzt die
europäische Geschichte der Paarbezie-
hung in Athen und Rom ein, wo die Paare
meist ständische Schranken zwischen Pa-
triziern und dem Plebs zu überwinden hat-
ten. In Sparta ist sogar die Verbindung
„normaler“ Paare durch die generell akzep-
tierte jugendliche Homosexualität er-
schwert, die den Übergang des jungen
Mannes zur Heterosexualität, wie sie dem
Bürger nun einmal geboten ist, nicht vorbe-
reitet hat.
Immer wieder greift Jeismann auch in
den Epochen, da die Geschichte Dokumen-
te über schwierige Paarbildungen genug
bereithält, auf Sage und Legende zurück,
um den politischen Einzelfall mit Poesie
anzureichern. So widmet er eine lange Pas-
sage der Geschichte der Agnes Bernauer,
um deren Leben sich „ein ganzes Riff aus
Legenden, Halbwahrheiten und reiner
Dichtung angesammelt hat“.
Allerdings geht es nicht so sehr um die
Legende selbst, als vielmehr um deren Re-
zeption im 19. Jahrhundert. Die Biografie
der schönen Augsburgerin Agnes Bernau-
er, der Geliebten des Herzogs Albrecht III.,
die für ihre Liebe 1435 mit dem Tod büßte,
dient dem aufkommenden Liberalismus,
nicht zuletzt durch Grillparzers Dramati-
sierung, zur Mahnung: „In diesem Jahr-
hundert der Liebeseuphorie war Agnes Ber-
nauer eine perfekte Identifikationsfigur
des Bürgertums, weil sich mit ihr antistän-
dische, vor allem antiadelige Pointen bes-
tens verbinden ließen.“
Immer wieder zieht dennoch die Politik
neue Grenzen, welche die privaten Verhält-
nisse berühren, so etwa die Kolonialpoli-
tik, die rassistische und religiöse Argumen-
te einsetzt, um Paare zu trennen, oder in
der jüngsten Geschichte der Kalte Krieg,
während dessen die sozialistischen Staa-
ten die Ausreise Heiratswilliger verboten.
Bis in die Gegenwart bleibt also die Paarbe-
ziehung ein Indikator des politischen Be-
wusstseins: „Das ‚gemischte Paar‘ ist die
Mistel im Baum der Gesellschaft“ – mit die-
ser poetischen Metapher erhebt Jeismann
seine Erkenntnis zur Lehre.
Dieser These ist nichts entgegenzuset-
zen. Die Fülle des Materials aber, das sich
in diesem Buch aus historischem Stoff und
Poesie zusammenfindet, verleitet den Au-
tor allzu oft zu behäbigem Erzählen. Man
könnte das Buch, das so viele Liebesge-
schichten ausbreitet, geradezu eine Novel-
lensammlung nennen. Es ist eine doppelte
Geschichte, eine im politischen wie im poe-
tischen Sinne, der aber eines fehlt: die psy-
chologische Perspektive.
Wie die Paare die Behinderungen an
sich selbst erleben, wie sie damit umge-
hen, wie sie sich selbst trotz kultureller
Unterschiede aneinander anpassen, davon
erfährt der Leser nichts, obwohl es zumin-
dest in der neueren Geschichte private Do-
kumente gegeben hätte, in denen auch die
Herzen der Getrennten und nicht nur die
Gesetze sprächen. Der politischen Entwick-
lung hätte sich so eine der privaten Kultur
hinzufügen lassen.
hannelore schlaffer
Michael Jeismann:Die Freiheit der Liebe. Paare zwi-
schen zwei Kulturen. Eine Weltgeschichte bis heu-
te.Carl Hanser Verlag, München 2019. 350 Seiten,
26 Euro.
Das Geld neigt zum Fachsimpeln,
kann aberauch
eine Geschichte erzählen
Sérieuse ist eine 17-jährige belgi-
sche Grafentochter, der Vater hat
das Erbe verpulvert und muss das
Familienschloss verkaufen, bisher
die Kulisse für rauschende Garten-
parties, seiner einzigen Raison
d’Être. Die Mutter findet immer
alles toll, die älteren Geschwister
haben sich emanzipiert. Die unbe-
achtete Sérieuse hat aus der Not
emotionaler Aushungerung eine
Tugend kühler Logik entwickelt,
deren hinreißende Rhetorik den
Charme des Buchs ausmacht. Um
es doch mal zu wissen, haut sie ab,
wird im Wald von einer Frau gefun-
den, die dem Vater, den der Auf-
wand belastet, voraussagt, dass er
bei der letzten Party einen Gast
töten wird. Rein gesellschaftlich
geht das gar nicht, der Graf ist rat-
los. Die Tochter hat ihn am Wickel
und stürzt ihn in emotionale Ab-
gründe. Ihr Angebot: „Töte mich“.
Nothombs Moritat einer vernachläs-
sigten Tochter – in der Nachfolge
von Oscar Wildes „Verbrechen des
Lord Arthur Savile“ – und ihrer
überlegenen Strategien liest sich
leicht, das Belustigende ist ernst
wie Zeichnungen von Sempé, und
Kritik an achtlosen Eltern lässt sich
kaum charmanter vortragen – so-
fern so etwas überhaupt jemals
sein darf. rudolf von bitter
Ein Spukhaus in Kansas an Hallo-
ween, vier Horrorautoren, eine
Gruselnacht. Der Möchtegern-Mo-
gul Wainwright will die Zusammen-
kunft dazu mindestens in ein medi-
ales Gemetzel verwandeln, denn er
streamt die Konversation live im
Internet. Das klingt nach Standard-
thriller. Doch Scott Thomas‘ Roman-
debüt „Kill Creek“ unterläuft Genre-
versatzstücke und Stereotypen
klug, indem er sie gegeneinander
ausspielt. Damit beschwört er eine
Bedrohung herauf, die lange un-
greifbar bleibt. Haben die Schrift-
steller zu viel Horrorliteratur gele-
sen, oder hat das Haus tatsächlich
ein Eigenleben und kann sich in
ihre Gedanken einklinken? Sind die
Geschichten, die sie beginnen, ihre
eigenen oder vom Haus diktiert?
Genau diese Zweideutigkeit macht
„Kill Creek“ zu einem nervenzerren-
den Psychospiel und einer Hom-
mage an ein ganzes Genre. Über
allem schweben Horrorhausheilige
wie H.P. Lovecraft und Stephen
King und bewahren Scott Thomas
doch davor, in starre Imitation zu
verfallen. „Kill Creek“ war 2017 die
Horrorsensation in den USA – Tho-
mas finanzierte den Roman über
Crowdfunding und wurde direkt
für den renommierten Bram Stoker
Award nominiert. sofia glasl
Ein Mord aus Geldgier, für ein paar
Schecks, ein Totschlag aus Rache –
der Keim dafür entstand in der
Kindheit, er beißt, „sanft wie ein
junges Kätzchen, in ihr Herz“ – und
ein falsches Mordgeständnis, aus
Erschöpfung heraus, der Sehnsucht
nach absolutem Ausschlafen: „Kein
Erwachen ... kein einziger Traum ...
Die Welt bestand aus vollkomme-
ner Bettruhe.“ Drei Frauen, und wie
sie mit dem Gesetz in Konflikt kom-
men, ein Krimi von Margriet de
Moor. Das Stakkato des Erzählens
sprengt die individuellen Perspekti-
ven. „Tätliche Auseinandersetzung.
Raserei nach dem ersten Erkennt-
nisblick ... Das Wort ,Mord‘ schießt
wie eine Fledermaus im Zickzack
zwischen ihnen hin und her.“ Ein
Kaleidoskop, wie jeder Kriminalro-
man, es bringt Familiäres und Ani-
malisches zusammen. Ein Mann,
der zu zwei der Frauen in enger
Beziehung steht, er arbeitet als
Vogelvertreiber auf dem Amsterda-
mer Flughafen Schiphol. Von allen
Tieren dem Menschen am nächs-
ten: der Elefant. „Der Elefant kennt
die Rache, die Pflicht und die Liebe,
und er kennt auch, sehr bezeich-
nend und, wenn Sie mich fragen,
höchst poetisch: das Bedürfnis, sich
dem zu beugen, was höher ist als er
selbst.“ fritz göttler
Irgendwann muss die Geschichte
der Christenverfolgungen neu ge-
schrieben werden. Vielleicht nicht
von Wolfram Kinzig, der ein kennt-
nisreicher Verfechter des traditio-
nellen Narrativs ist, demzufolge die
dekadenten römischen Heiden wie
etwa Kaiser Nero die guten Chris-
ten grundlos zu Tode folterten. Die
Quellenlage ist dünn, bei Tacitus ist
zu lesen: Man warf den Christen,
wie auch den Juden, „Hass auf die
Menschheit“ vor. Das klingt verstö-
rend aktuell, und man kann sich
durchaus vorstellen, dass die le-
bensfrohen Römer, zumal die Ober-
schicht, mit den strengen Regeln
der Christen nichts am Hut haben
wollten. Dass sie deren Predigten
nicht weniger beunruhigend emp-
fanden als wir heute die Reden
extremistischer Moslems. Dass
man also nur die lebensfeindlichen
Auswüchse einer im Kern friedens-
süchtigen Religion sah und die
wachsende Anhängerschaft als
staatsgefährdend einschätzte und
bekämpfte. Doch davon muss ein
anderes Buch erzählen. Erst ganz
am Schluss weist Kinzig vorsichtig
darauf hin, dass aus der „verfolgten
Religion“ eine geworden war, die
sich gegenüber Andersgläubigen
auch ein bisschen intolerant ver-
hielt. helmut mauró
Wer glaubt, Karl May sei der größte
Schwindler der jüngeren Literatur-
geschichte, der sollte Michael Hu-
gentoblers Roman lesen über einen
noch hemmungsloseren Aufschnei-
der, der, man glaubt es kaum, aus
der Schweiz stammte, wo er als
Henri Louis Grin 1847 geboren
wurde. Er starb verarmt 1921 in
London. Dazwischen entfaltet sich
ein Abenteurerleben ohne Ver-
gleich. Er wanderte 1874 nach Aus-
tralien aus, versuchte sich dort als
Arzt, Fotograf und Schiffskoch,
heiratete, hatte fünf Kinder und
kehrte 1898 nach London zurück,
um als Louis de Rougemont einen
Bestseller zu landen: Er erzählte
von Abenteuern in Australien, die
so bunt und unwahrscheinlich wa-
ren, dass alle ihm glauben wollten.
Als der Schwindel aufflog, verfolgte
er noch vergeblich eine Karriere als
„größter Lügner der Welt“! Bei
Michael Hugentobler heißt er Louis
de Monsanto alias Hans Roth. Hu-
gentobler erzählt nicht einfach nur
die wilde Lebensgeschichte Grins
nach, sondern nutzt alle Freiheiten
literarischer Einbildungskraft, um
seinen Schildkrötenreiter noch
verrückter, farbiger, auch abgründi-
ger zu machen als das Vorbild.
Doch das bittere Ende bleibt nicht
aus.harald eggebrecht
Margriet de Moor:Von
Vögeln und Menschen.
Roman. Aus dem Nieder-
ländischen von Helga
von Beuningen. dtv,
München 2019.
268 Seiten, 11,90 Euro.
Wolfram Kinzig: Christen-
verfolgung in der Antike.
C.H. Beck Verlag, Mün-
chen 2019.
128 seiten, 9, 95 Euro.
Amélie Nothomb:Töte
mich. Roman. Aus dem
Französischen von Brigit-
te Große. Diogenes
Verlag, Zürich 2019.
112 Seiten, 10 Euro.
Scott Thomas: Kill
Creek. Roman. Aus dem
Englischen von Kristof
Kurz. Heyne Verlag,
München 2019.
544 Seiten, 14,99 Euro.
Andrej Platonow: Die Baugrube. A. d.
Russ. von Gabriele Leupold. Mit einem
Essay von Sibylle Lewitscharoff. Suhr-
kamp Verlag, Berlin 2019. 240 S., 12 Euro.
Michael Hugentobler:
Louisoder Der Ritt auf
der Schildkröte. dtv,
München 2019.
188 Seiten, 10,90 Euro.
Jede Erscheinung ist
nur ein Derivat höheren Orts
waltender Mächte
Die Mistel im Baum
der Gesellschaft
Michael Jeismann über Paare zwischen zwei Kulturen
„Das Bereichernde der
anderen Kultur gibt es nicht
ohne eigene Anstrengung.“
Man könnte dieses Buch voller
Liebesgeschichten geradezu eine
Novellensammlung nennen
(^12) LITERATUR Dienstag, 10. September 2019, Nr. 209 DEFGH
Das Geld durchdringt sämtliche Medien, jetzt auch das gedruckte Buch. FOTO: NEONBRAND / UNSPLASH
Charmant
monströs
Ein Haus
der Bedrohung
Ende einer Utopie –
AndrejPlatonows „Die Baugrube“
Wie eine Fledermaus
im Zickzack
Hass auf
dieMenschheit
Der große
Schildkrötenreiter
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