Handelsblatt - 10.09.2019

(Amelia) #1
Bloomberg via Getty Images [M]

E


s sieht ein bisschen un-
fertig aus, wenn man das
Büro von Thierry Bolloré
im Westen von Paris be-
tritt. Denn in den Wän-
den befinden sich zwar Nägel, aber
daran hängen keine Bilder. Der Re-
nault-Chef erklärt, dass demnächst
die Wände neu gestrichen würden.
Außerdem habe der Vorstand be-
schlossen, die Unternehmenskunst
öfter durchzuwechseln. Es ist viel in
Bewegung beim französischen Auto-
hersteller, wie Bolloré erklärt.

Herr Bolloré, in Deutschland wird
viel von einer Rezession gesprochen.
Wie optimistisch oder pessimistisch
blicken Sie in die Zukunft?
Wir sehen, dass die europäische
Wirtschaft recht stabil ist. Für uns ist
das größte Risiko ein harter Brexit.
Wir produzieren zwar nicht in Groß-
britannien, deswegen sind auch die
Lieferketten kein Problem für uns.
Aber ich mache mir Sorgen, wie die
Finanzmärkte auf einen harten Brexit
reagieren würden. Für die Automo-
bilindustrie könnte das einen Um-
satzrückgang bedeuten.

Das bereitet Ihnen mehr Sorgen als
der Handelskrieg zwischen China
und den USA?
Die Schwierigkeit ist, dass alle Proble-
me gleichzeitig auf uns zukommen.
Zusätzlich zum Handelskonflikt, der
Argentinienkrise, den Sanktionen ge-
gen den Iran und Russland. Und
dann ist da noch die Tatsache, dass
die Dieselkrise die Entwicklung der
Regulierung für Automobilhersteller
beschleunigt hat, und zwar nicht nur
in Europa. Es gibt auch immer mehr
Städte, die neue Regeln für Dieselau-
tos erlassen. Die E-Mobilität ist si-
cherlich der richtige Ansatz, aber die
Kunden fremdeln noch ein bisschen
mit ihr. Das Ergebnis all dieser Ent-
wicklungen ist ein Automarkt, der
nicht mehr unbedingt dem Takt der
wirtschaftlichen Entwicklung folgt.

In Frankreich hat sich die Autopro-
duktion in den vergangenen zehn
Jahren halbiert, in Deutschland wur-
den gerade Tausende Jobs in der Au-
toindustrie gestrichen. Geht die Zeit
der Autoherstellung in Hochpreis-
ländern ihrem Ende zu?
Nein, sicherlich nicht. Wir produzie-
ren unsere Fahrzeuge hauptsächlich
in den Regionen, in denen wir sie
verkaufen. Wir produzieren zwar
auch unsere Low-Cost-Fahrzeuge in
Ländern mit niedrigerem Gehaltsni-
veau, aber wir investieren ebenfalls
in unsere französischen Standorte.
Das gilt insbesondere für die Produk-
tion von Elektrofahrzeugen.

Wenn die Angst vor Jobverlust
umgeht, gewinnen Populisten an
Macht. Das tun sie auch bereits in
vielen europäischen Ländern. Was
ist die Aufgabe von Unternehmen in
diesem politischen Umfeld?
Wir müssen uns unserer Verantwor-
tung als Hersteller stellen, vor allem,
was die Transformation unserer Un-
ternehmen angeht. Unsere größte
Herausforderung in Bezug auf Ar-
beitsplätze ist der Antriebswechsel
hin zur E-Mobilität und der damit
verbundene Wandel der Anforde-
rungsprofile. Und natürlich das Tem-
po, in dem sich dieser Wandel voll-
zieht, sowie die Anpassungsfähigkeit
der Industrie. Die Politiker haben
Einfluss auf das Tempo.

Es gibt nicht nur politischen, son-
dern auch gesellschaftlichen Druck,
schnell auf die E-Mobilität umzustei-
gen. Auf der IAA in Frankfurt wer-
den Demonstranten vor der Tür ste-
hen und der Industrie vorwerfen,
für den Klimawandel mitverant-
wortlich zu sein. Was antworten Sie?
Wir müssen Teil der Lösung sein und
nicht Teil des Problems. Deshalb ent-
wickeln wir Elektro- und Hybrid -
autos. Bei Renault arbeiten wir seit
zehn Jahren intensiv an der E-Mobili-
tät. Wir haben dazu unsere Mitarbei-
ter komplett neu ausbilden müssen.
Wir bieten auch jede Menge anderer
Dienstleistungen an, um Mobilität
sauberer und effizienter zu machen.
Dazu gehört auch das Carsharing. In

Madrid funktioniert unser Angebot
für Fahrgemeinschaften mit elektri-
schen ZOEs gut und ist sogar profita-
bel. Wir arbeiten mit einem ganzen
Ökosystem von digitalen Plattformen
und Partnern zusammen. Wir ver-
kaufen mehr als nur Autos.

Aber reicht das aus?
Die Automobilindustrie unternimmt
große Anstrengungen, um grüner zu
werden, und Renault ist ein Pionier
auf dem Feld. E-Mobilität ist für uns
eine Realität in Industrie und Handel.
Während andere Ankündigungen
machen, sind wir bereits auf dem
Markt und verkaufen Elektroautos.
Wir sind führend in Europa. Bei uns
ist dieser Geschäftsbereich profitabel.

„Die Preise

für E-Autos

müssen

sinken“

Der Renault-Chef glaubt nicht mehr


an den Diesel. Er verspricht


stattdessen ein günstiges


Elektroauto und hofft weiter auf eine


Fusion mit Fiat Chrysler.


Thierry Bolloré
Elektroautos


Preis versus


Reichweite


A


m Montagabend feierte
Volkswagen auf der Interna-
tionalen Automobil-Ausstel-
lung (IAA) in Frankfurt den Start in
das Elektrozeitalter. Vorstandschef
Herbert Diess präsentierte erstmals
den ID.3 der Öffentlichkeit. Mit dem
rein elektrisch betriebenen Auto
will VW im Massenmarkt angreifen.
Von Preisen um die 10 000 Euro,
die Renault-Chef Thierry Bolloré im
Handelsblatt-Interview in Aussicht
stellt, ist der ID.3 aber weit entfernt.
In der einfachsten Ausstattung wird
er knapp unter 30 000 Euro kosten.
Und wenn größere Batterien eine
Reichweite von mehr als 500 Kilo-
metern gestatten sollen, dann geht
es schnell in Richtung 40 000 Euro.
Genau das ist nach Einschätzung
von Branchenexperten der Haken
an Bollorés Ankündigung. Billige
Elektroautos sind möglich, aber nur
mit beschränkter Reichweite. Wenn
Renault tatsächlich ein Elektroauto
für etwa 10 000 Euro anbieten wol-
le, dann sei das nur mit einer ent-
sprechend kleinen Batterie und ge-
ringer Reichweite möglich, sagt Ste-
fan Bratzel, Professor am Center of
Automotive Management (CAM) in
Bergisch Gladbach: „Das sind dann
vielleicht 100 Kilometer, wenn es
gut geht.“
Preiswerte Elektromodelle, wie
sie Renault-Chef Bolloré vorschwe-
ben, würden sich wegen der be-
grenzten Reichweite dann voraus-
sichtlich nur für den Stadtverkehr
eignen. Zum Vergleich: Beim neuen
ID.3 mit der größten Reichweite von
gut 500 Kilometern schlägt die Bat-
terie mit 7 000 bis 8 000 Euro zu
Buche. Damit wäre es wirtschaftlich
unmöglich, ein Elektrofahrzeug wie
nach den Plänen von Bolloré für
rund 10 000 Euro anzubieten.
Auch in den nächsten fünf Jahren
dürften sich die Preise und die
Technik für Batterien nicht ent-
scheidend ändern. Es wird zwar ei-
ne gewisse Kostendegression geben,
wenn immer mehr Autohersteller in
die Fertigung von Elektroautos ein-
steigen, aber auch nur begrenzt. Ak-
tuell kostet eine Kilowattstunde
(kWh) etwa 130 Euro. Experten wie
Hochschullehrer Bratzel kalkulieren
damit, dass der Preis auf absehbare
Zeit vielleicht auf 100 Euro fallen
wird. Im neuen ID.3 von Volkswa-
gen mit größter Reichweite kommt
die Batterie auf etwa 70 kWh.
Aber auch Volkswagen weiß, dass
die Preise für Elektroautos sinken
müssen. Der Konzern arbeitet selbst
an einer Elektro-Familie für weniger
als 20 000 Euro. Geplant ist unter
anderem ein Kleinwagen, der von
2023 an verkauft werden soll. Volks-
wagen-intern firmiert das Projekt
unter dem Namen „MEB entry“.
MEB steht für „Modularer Elektrifi-
zierungs-Baukasten“, die Plattform
für fast alle neuen E-Autos aus dem
VW-Konzern. Dieses Modell, ein
kleineres Auto, etwa so groß wie ein
Polo oder ein T-Roc, soll in drei fast
baugleichen Varianten für Volkswa-
gen, Seat und Skoda gefertigt wer-
den. Rund 200 000 Stück könnten
davon jährlich in den Verkauf ge-
hen. Stefan Menzel


Der Manager Der
56-Jährige ist seit
Januar 2019 CEO von
Renault – nachdem
sein Vorgänger und
Mentor Carlos Ghosn
in Japan verhaftet
worden war. Zuvor
war er stellvertreten-
der Generaldirektor.
Bolloré begann seine
Karriere 1990 beim
Reifenhersteller
Michelin, 2005 wech-
selte er zum französi-
schen Autozulieferer
Faurecia und 2012
dann zu Renault.

Das Unternehmen
Renault wurde schon
1899 gegründet. Das
Unternehmen, an dem
der französische Staat
mit 15 Prozent betei-
ligt ist, hat rund
180 000 Mitarbeiter,
der Umsatz der
Renault-Gruppe
betrug im Jahr 2018
insgesamt 57,4 Milliar-
den Euro. Seit 1999
hat Renault eine Alli-
anz mit dem japani-
schen Autohersteller
Nissan.

Vita
Thierry Bolloré

Titelthema


Autoindustrie im Umbruch


DIENSTAG, 10. SEPTEMBER 2019, NR. 174
4


‹+DQGHOVEODWW0HGLD*URXS*PE+    &R.*$OOH5HFKWHYRUEHKDOWHQ=XP(UZHUEZHLWHUJHKHQGHU5HFKWHZHQGHQ6LHVLFKELWWHDQQXW]XQJVUHFKWH#KDQGHOVEODWWJURXSFRP
Free download pdf