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NZZamSonntag8. September 2019
Familiensache
D
en ersten öffentlichenAuftritt
hatte sie kurz nach derGeburt.
Gerade einmal elfWochen alt
war Amélie Galladé, als ihre
Mutter Chantal sie zumSes-
sionsauftakt mit ins Bundes-
haus nahm, eng begleitet von den Kameras
desSchweizerFernsehens. Die damalige
SP-Nationalrätin machte damit landesweit
Schlagzeilen.Konservative Politiker waren
entsetzt, derBoulevard berichtetetagelang
undfragte besorgt: Darf einBabymit in
den Nationalratssaal? Das war dieSchweiz
imJahr 2005.
Daran mag sich Amélie Galladé heute
natürlich nicht mehr erinnern.Heute mit 14
Jahren macht sie dieSchlagzeilen selbst. Die
Jungpolitikerin ist dieseWoche als Mitgrün-
derin des neuenWinterthurerJugendparla-
ments und als dessenPressesprecherin an
dieMediengetreten. Sie gab Interviews im
Lokalfernsehen, schriebMedienmitteilun-
gen und sass mitPrintjournalisten zusam-
men, stetswortgewandt und präzise. Rich-
tig.Falsch.Ja. Nein – klare Antworten. Gal-
ladé sagtSätzewie: «Ich bin eher einkopf-
lastigerTyp und denkeviel nach, manchmal
zuviel.» Oder: «Man darf nichtvergessen,
dass diese Arbeit imJugendparlamentTeam-
arbeit ist.»Für dieMedienanfragen durfte
sich die Gymnasiastinvom Schulunterricht
dispensieren lassen.
Bei den Galladés zu Hausewird Politik
gelebt. Zusammen amKüchentisch die
Stimmzettel ausfüllen sei ein Ritual,wobei
nicht immer alle gleich abstimmen. Die
Tochter ist sichtlich bemüht, nicht als jün-
gere Version ihrerMutter wahrgenommen zu
werden, obwohl die Parallelenfrappant sind:
AuchMutter Chantalweibeltevor über 25
Jahren für einJugendparlament inWinter-
thur.Beide sind heute Mitglieder der Grün-
liberalen, dieTochter trat der Partei aller-
dings schon bei, bevor dieMutter mitGetöse
von der SP ebenfalls zur GLPwechselte. Und
diegemeinsame Parteikonnte die beiden
auch nicht auf der ganzen Linie einigen. «Ich
habe inWirtschaftsthemen eine linkere Ein-
stellung als mein Mami», sagt sie.
Den Vergleich mit ihrerMutter sieht sie
pragmatisch: «Ohne den Namen Galladé
würde ich nicht soviel medialeAufmerk-
samkeit erhalten, das bin ich mir bewusst.»
Aber sie nutze den Namengerne, um für ihre
Anliegen zuwerben. Und diese Anliegen
betreffenvor allem den Umweltschutz. Die
Bilder des brennenden Amazonas machten
siewütend.Solche Eindrückekönne sie
nicht einfachwegstecken
IhreKonsequenz: Galladé istVeganerin.
Sokönne man sehrviel CO2 einsparen,
erklärt sie mit ernstem Blick und passt damit
fast klischeehaft ins Bild derFridays-for-
Future-Bewegung. Sie organisiertregel-
mässig Klimastreiks, bewundert Greta Thun-
berg, beneidet sie aber nicht. «Um jeden
Preis berühmt sein, das strebe ich nicht an.»
DieSchattenseite derProminenz habe sie
mitihrerMutter miterlebt,wenn jene auf der
Strasse angesprochenwurde. «Respektlos
und beleidigend» seien dieLeute manchmal
gewesen.Wegen Chantal Galladés Engage-
mentgegen Schusswaffen stand dieFamilie
zeitweise sogar unter Polizeischutz. «Alswir
eine Kinopremiere besuchten, musste mich
einePolizistin auf dieToilette begleiten»,
erzählt dieTochter.
Vielleicht legt sie nun mit demWinterthu-
rer Jugendparlament den Grundstein für
ihreeigenePolitkarriere. Am 27.September
findet der Eröffnungsanlass statt. Per App
beantragen dieJugendlichen zurzeit ihre
Anliegen, über die sie dann zusammen dis-
kutierenwerden. Zielwird es ein,konkrete
Forderungen zuformulieren, um sie später
an einem Anlassvon «Engage», einemPro-
jektvom DachverbandSchweizerJugend-
parlamente, mitPolitikern undPolitikerin-
nen umzusetzen.
Zum Bundeshaus übrigens hat sie seit
ihrem erstenBesuch eine spezielleBezie-
hung. Als Kleinkind bettelte sie so lange, bis
ihreMutter schliesslich nachgab und sie an
ihrem drittenGeburtstag, am 12.Dezember
200 7, erneut zu einemBesuch ins Bundes-
haus durfte. Eswurde ein historischerTag:
Das Parlament wählte Bundesrat Christoph
Blocher ab und hob EvelineWidmer-
Schlumpf ins Amt. «Das ist meine erstewirk-
liche Erinnerung ans Bundeshaus», sagt
Amélie Galladé heute. Ob sie dereinst selbst
dort politisierenwill? «Das ist nochweit
weg», sagt sie und lächelt schüchtern. «Dar-
über mache ich mirwirklich überhauptkeine
Gedanken.»
Klingt schon sehrwie einePolitikerin.
AmélieGalladé, Schülerin,war
vor 14Jahren das bekannteste
BabydesLandes. Jetztstartet
sie eine eigenePolitkarriere.
Von Boris Gygax
Zugfahren kommt
zu gut weg
D
ie Szene spielt sich an einem
Samstagmorgen imAugust in
einem Intercity von Zürich
nach Chur ab, und sie sagtviel
über dieSchwierigkeiten aus,
mit denen die SBB zu kämpfen
haben.Der Zug steht noch im Hauptbahnhof,
er ist bereits überfüllt, unablässig drängen
Menschen hinein. Einer derWaggons ist
durch zwei Gruppen belegt, diereserviert
haben, doch leider sind beide am jeweils
falschen Ende desWagens eingestiegen. Nun
versuchen sie, mit ihrerBagage aneinander
vorbeizukommen. Dabeiverkeilen sie sich.
Längere Zeit bleibt alles blockiert, esfallen
gehässigeWorte. Einer derReisendenruft
sogleich mit seinem Handy bei den SBB an,
um sich zu beschweren: Warum nur war
niemand da, um das Chaos zuverhindern?
Wir stellen erstensfest:Selten nimmt der
Mensch dieRealität soverzerrt wahr,wie
wenn er unterwegs ist.Wer sich in einem
vollen Zug oder im Stau über all die anderen
ärgert,vergisstgern, dass ergenau in diesem
Moment einTeil der Masse ist, die erver-
flucht. Und zweitens: Die SBB sind Opfer
ihres Erfolgs.Je mehrLeute mit derBahn
fahren, desto unangenehmerwird es für sie.
Kaum hatte AndreasMeyer am Mittwoch
denRücktritt angekündigt, begann der Streit
über seineVerdienste undVersäumnisse.
Zweifellos war die Amtszeit starkvon Wachs-
tumgeprägt.Seit er imJanuar 2007 antrat,
ist dieZahl derReisenden um 60Prozent auf
456 Millionen proJahr gestiegen. Sie legten
2018 über18,6 Milliarden Kilometer zurück.
Fragt sich nur,wessenVerdienst das ist.
DieVerkehrsströme stiegenvor allem des-
halb,weil die Zuwanderung kräftig war,weil
dieWirtschaftwuchs und auchweil Auto-
fahrer –genervt vom Stau oder aus ökologi-
schen Gründen – auf dieSchienewechselten.
Meyers Aufgabe bestand darin, die stetig
wachsende Nachfrage nach Kräften aufzu-
fangen. Dasgelangrecht gut; zusätzliche
Verbindungen, engere Fahrpläne, kürzere
Umsteigezeiten, längere Züge, mehrDoppel-
stöcker. Aber irgendwanngenügte all das
nicht mehr. Und so müssen sichPendler und
Ausflügler heute an dasgewöhnen, was in
anderenLändern seit langem Alltag ist – an
Stehplätze,Verspätungen, Zugsausfälle.
Meyer hatFehlergemacht, nicht nur bei
der Zugbeschaffung.Sein wirklichesProblem
lag aber darin, in einer Zeit tätiggewesen zu
sein, in der die SBB an Grenzen stiessen. Und
diese Grenzen lassen sich kaumverschieben.
Auf etlichen Streckenfehlt der Platz für
einen Spurausbau, dieBahnhöfe sind zu kurz
für längere Züge, diePerrons zu schmal.
Viel wird nun über dasProfil des Nachfol-
gers diskutiert. Aber die Entscheidungen, die
nötig wären, damit die Bundesbahnenauch
in zwanzigJahren ihreAufgaben erfüllen
können, muss nicht der SBB-Chef fällen. Das
kann nur diePolitik. Das Ziel sollte nämlich
lauten,denVerkehr zu bremsen. Ohne unbe-
queme Massnahmenwird das nicht gehen.
In denKöpfen hat sich dieVorstellung
festgesetzt, mehrMobilität sei etwas Gutes.
DieLeutefahren zur Arbeit, siefahren ins
Einkaufszentrum und insWandergebiet. Da
dasLand so klein ist, pendeln dieMenschen,
statt dasssie umziehen. Sie erzählen davon,
als seien sie stolz darauf.Pendlerscham? Gibt
es nicht. Die Zugfahrer stehen heute in der
Öffentlichkeit zu gut da. Irritierendwirkt
auch derGestus derÜberlegenheit, mit dem
sie auf dieAutofahrer blicken.So viel besser
sind sie gar nicht.Wer täglich eineweite
Strecke im Zug pendelt, sollte seinVerhalten
ebenso hinterfragen.Wenn alleVerkehrs-
mittel am Limit laufen, ist jeder Kilometer,
der sichvermeiden liesse, einer zuviel.
DieHuhn-und-Ei-Frage lautet:Bauenwir
Schienen und Strassen aus,weil die Nach-
frage steigt? Oder ist es umgekehrt; die neue
Infrastruktur sorgt für mehrVerkehr? Als es
keinenVereina- undLötschberg-Tunnel gab,
hätte jedenfalls niemand in Zürich daran
gedacht, nur für einenTag ins Engadin oder
insWallis zufahren. Und nachdem die Zür-
cher S-Bahn 199 0 denBetrieb aufgenommen
hatte, stieg in derAgglogemeinde Uster die
Einwohnerzahl in 20Jahren um 30Prozent.
DieBahnzog Tausendevon Neupendlern an.
Natürlich sollen die SBB alles dafür tun,
dass niemand stehen muss. Allerdings bleibt
dadurch die abschreckendeWirkung über-
füllter Züge aus. Stellt man zusätzliche Sitz-
plätze bereit, zieht das neuePendler an – bis
der nächste Engpass entsteht.Sosorgt dieses
Muster für grenzenlosesWachstum.Doch
irgendwann droht derKollaps.
Bei der Strasse bremst man denAusbau
der Kapazität, damit derVerkehr langsamer
wächst.Auf derSchiene bleibt das bis jetzt
aus. Es ist an der Zeit, dass diePolitik die
gesamte Mobilität steuert. Die Raumplanung
kann demPendeln entgegenwirken, etwa
mit durchmischten Quartieren, in denen der
Weg zwischenWohnung und Arbeitsplatz
kurz bleibt. EinTeil der Mieten soll bezahlbar
sein, sonst müssenLeute mit tiefenLöhnen
in dieVororte ziehen. In der Steuerpolitik
dürfenPendler nicht mehr belohntwerden.
Und ja: Zugfahren mussteurerwerden.
ZumBeispielgehört dasGeneralabo abge-
schafft.Solieb es denReisenden ist; es kann
nicht sein, dass man sich überall bemüht, die
Umwelt zu schonen, und gleichzeitigver-
treibt man ein Flatrate-Abo, das den Inhaber
dazu antreibt, unnötig in derGegend herum-
zufahren,weil er mit jederFahrt dasGefühl
hat, noch mehr für seinGeld zu bekommen.
Für solche Eingriffe ist diePolitik zustän-
dig.Der SBB-Chef oder die-Chefin kann sich
daraufkonzentrieren, dass die Züge bequem,
sicher und pünktlich sind.Schwieriggenug.
Der neue Chef wirddie SBB
weiterausbauenwollen.Doch
je besser dieBahn ist, desto
mehr wirdgefahren.Esist an
der Politik, dieMobilität zu
lenken,schreibt Daniel Meier
«Ohneden
NamenGalladé
würde ich
nicht soviel
medialeAuf-
merksamkeit
erhalten.»
Nachdem die
Zürcher
S-Bahn 1990
den Betrieb
aufgenommen
hatte, stieg
in der Agglo-
gemeinde
Uster die Zahl
der Einwohner
um 30Prozent.
SANDRA NIEMANN
Abertausende pendeln täglich
von Zürich nach Bern.
UnserReporter ging zuFuss 20
Klimademos seien nur gut fürs
Gewissen,sagt Bestsellerautor
Jonathan SafranFoer 22
AusdauerndScheinheilig