Beobachter - 13.09.2019

(nextflipdebug5) #1
FOTO: PUBLIFOTO/ENZO BRAI, VISAR KRYEZIU/KEYSTONE, AFP/GETTY IMAGES, MARTIAL TREZZINI/KEYSTONE

D


el Ponte ist einer jener Namen,
die oft gezischelt werden oder
zähnefletschend fallen. Selbst
Verbündete und Weggefährten
tun es. «Meine Mut ter hat mir
immer eingeimpft: ‹Wenn du im
Recht bist, musst du kämpfen, kämpfen, kämp-
fen›», sagt die 72-Jährige. Sie lacht.
In der Sache macht Carla Del Ponte nie Kom-
promisse, auch nicht für Freunde. Wer geradlinig
ist, kommt vielen in die Quere. «Ich habe immer
ausschliesslich dem Gesetz gehorcht, nichts
anderem», sagt sie bestimmt. Ihr Blick wird
streng, und in ihrer Stimme klingt ein drohendes
Donnern an, aus der Tiefe einer Kehle, die 50
Jahre lang Tabakrauch inhaliert hat. Weil sich
das Rauchen für eine ältere Dame nicht gehöre,
hat sie die Zigaretten aufgegeben, von einem Tag
auf den anderen. «So was ist einfach Kopfsache»,
sagt sie. Sie ist es gewohnt, dass man umsetzt,
was sie im Kopf hat.
Carla Del Ponte ist unbeirrbar – und unbe-
quem. Es sind wohl genau diese Eigenschaften,
die sie zu dem werden liessen, was sie ist. «Ich
hatte stets direkten Zugang zum Generalsekre-
tär. Wenn ich im Uno-Hauptquartier in New York
in den Lift stieg, drückte der Portier sofort auf
den Knopf für den 33. Stock, wo Kofi Annan

sein Büro hatte.» Wenn die UN-Chefanklägerin
irgendwo aufkreuzte, nahmen sich die Mächti-
gen dieser Welt Zeit für sie.
Aufgewachsen ist Del Ponte mit drei Brüdern
in Bignasco TI, wo ihre Eltern ein Hotel besassen.
Sie war das zweitälteste Kind. Anfangs nahmen
die Buben Carla nicht mit, wenn sie im Val Bavo-
na Aspisvipern nachstiegen – weil sie ein Mäd-
chen war. Als Mutprobe stellten sie ihr eine Nacht
lang einen Käfig mit einer Schlange unters Bett.
Aber weder die Schlangen noch die Bilder der
Gräueltaten, mit denen sie sich später bis ins
letzte Detail auseinandersetzen musste, raubten
ihr den Schlaf: «Ich konnte immer gut abschal-
ten», sagt Del Ponte. Mitarbeiter, denen das nicht
gelang, seien meist nicht lange in ihrem Stab
geblieben.

«Ich wollte weg von zu Hause.» Diese Ruhe,
gepaart mit einer fordernden Ungeduld und
eiserner Professionalität, machte Del Ponte zu
einer exzellenten Strafverfolgerin. Dabei hat sie
gar nie eine Karriere auf diesem Gebiet gesucht.
Del Ponte wollte Medizin studieren, wie es ihre
Brüder taten. Ihr Vater fand jedoch, das koste zu
viel, da sie später ja heiraten und nicht arbeiten
würde. Also studierte sie Jura, was nur vier Jahre
dauerte, und zog dafür zu ihrem Bruder nach

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1 «Damals dachte ich
kurz: ‹Ich höre auf›»:
Attentat auf Mafiajäger
Giovanni Falcone,
1992 – Carla Del Ponte
unterstützte ihn als
Tessiner Staatsanwältin.

2 «Trotz allem konnte
ich immer gut abschal­
ten»: Massengrab
im Kosovo, 2000;
Carla Del Ponte war
Chefanklägerin
des Inter nationalen
Strafgerichtshofs.

3 «Sehr bedauerlich
für die Opfer»:
Kriegsverbrecher
Slobodan Milosevic
starb, bevor man ihn
verurteilen konnte.

4 «Eine Alibiübung»:
in der Unter su chungs­
kommission zum
Syrienkrieg, 2017

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