Beobachter - 13.09.2019

(nextflipdebug5) #1

Bern. «Ich war jung und wollte weg von zu
Hause.»
Die Jurisprudenz fand sie dann aber eher
langweilig, vor allem nationales Recht und römi­
sche Rechtsgeschichte. Del Ponte interessierte
sich viel mehr für Menschen und das Leben, zum
Beispiel die «belli ragazzi» in Berns Lauben. Hin
und wieder besuchte sie Psychologievorlesun­
gen, «die holten damals noch psychisch Kranke
in den Vorlesungssaal». Das Strafrecht packte
sie schliesslich, «weil es diese menschliche
Komponente hat und man für die Opfer etwas
bewirken kann».


Eine halbe Tonne Sprengstoff. Nach dem Stu­
dium arbeitet Del Ponte als Rechtsanwältin im
Tessin, gründet eine eigene Praxis und wird
schliesslich Staatsanwältin. In dieser Funktion
verfolgt sie zusammen mit dem ita lienischen
Untersuchungsrichter Giovanni Falcone die
sizilianische Mafia, die im Tessin Geld wusch.
Falcone stirbt 1992 bei einem Bombenattentat,
mit ihm seine Frau und drei Sicherheitsleute. In
einem Abwasserrohr unter der Autobahn bei
Palermo explodiert eine halbe Tonne Spreng­
stoff, als Falcones Wagen passiert.
Drei Jahre zuvor waren Del Ponte und Falcone
noch einem Anschlag entkommen, der ihnen


beiden gegolten hatte. Die italienische Polizei
fand eine Tasche mit Sprengstoff und ent­
schärfte die Bombe rechtzeitig. Falcones Tod
erschütterte Carla Del Ponte: «Damals dachte ich
kurz: ‹Ich höre auf.›»
Aber sie macht weiter. 1994 wird sie zur
Bundesanwältin gewählt, fünf Jahre später zur
Chefanklägerin des Inter nationalen Strafge­
richtshofs für das ehemalige Jugoslawien und
Ruanda. In den folgenden Jahren ist das Grauen
ihr Schatten. Wo von «Massakern», «Gräuelta­
ten» und «Massenvergewaltigungen» berichtet
wird, kämpft sie sich durch Berge von Akten, die
jede Einzelheit von Vertreibungen, Folter und
Massenmord beschreiben. Sie hört Geschichten
der Opfer und kennt die Täter. Sie inspiziert
Massengräber, sieht Tod und Leid, hört sich
Zeugenaussagen an und fühlt den Schmerz der
Hinterbliebenen.

Die Fakten hinter den Leichen. Doch statt in
Zweifel und Hoffnungslosigkeit zu verfallen,
blickt sie durch das Böse hindurch, sieht in
Leichen und Narben Beweise und Fakten. Das
Grauen wird ihr zum Ansporn, immer weiter
nach Gerechtigkeit zu streben: «Als Chef­
anklägerin vertritt man Tausende Opfer – eine
immense Verantwor tung.»

«Wenn
Milosevics
Blicke
hätten
töten
können,
wäre ich
heute
nicht hier.»
Carla Del Ponte

«Die Uno ist
an einem
Tiefpunkt.
Von den
4000 oder
5000 Leuten
am Hauptsitz
in New York
tut die Hälfte
gar nichts.»
Carla Del Ponte

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Beobachter 19/2019 17
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