Beobachter - 13.09.2019

(nextflipdebug5) #1
FOTO: MARKUS SENN

In dieser Verantwortung findet Del Ponte ihre
Bestimmung. Sie arbeitet unermüdlich und
bringt die Täter vor Gericht – ohne Rücksicht auf
sich selbst. Aber sie zahlt einen hohen Preis.
Nach den Mafiosi hetzen nun nationalistische
Fanatiker aus Europa und Afrika gegen sie. Del
Pontes Kampf für Gerechtigkeit wird stets mit
Drohungen und Beschimpfungen quittiert –
Carla, die «Schlampe», die «Hure», die «Pest».
Man wünscht ihr den Tod und Schlimmeres.
Del Ponte lebt unter Personenschutz, mehr als
30 Jahre lang. Wenn sie nicht unterwegs ist, iso­
liert sie sich, muss sich isolieren.
Wer als Staatsanwältin oder Chefanklägerin
keine Gegner habe, mache etwas falsch, sagt sie.
Die meisten gewöhnlichen Kriminellen wüssten
zwar, dass sie selbst an ihrer Lage schuld sind.
Es komme sogar vor, dass sie von ehemaligen
Angeklagten auf der Strasse freundlich ange­
sprochen werde: «Einer rief: ‹Del Ponte! Erinnern
Sie sich an mich? Sie haben mir sechs Jahre auf­
gebrummt.›» Sie lacht.


«Kein einziger Unschuldiger.» Selbst Verurteilte,
die Del Ponte hinter Gitter brachte, freuen sich,
sie zu sehen. Das ist sicher eine Anerkennung
ihrer Professionalität. «Ich habe immer erst an­
geklagt, wenn ich wusste, dass jemand schuldig
ist. Kein einziger Unschuldiger war je meinet­
wegen eine Nacht im Gefängnis.»
Kriegsverbrecher, denen sie als UN­Chef­
anklägerin gegenübertrat, waren weniger ein­
sichtig. «Milosevic sah mich sicher als Feind –
wenn seine Blicke hätten töten können, wäre ich
heute nicht hier.» Der Serbenführer Slobodan
Milosevic war angeklagt wegen seiner Ver ant­
wortung für zahlreiche Verbrechen in den Jugo­
slawienkriegen. Er starb 2006 während des Ver­
fahrens in Den Haag. Ein schwie riger Tag für Del
Ponte: «Es ist sehr bedauerlich für die Opfer, dass
ihnen seine Verurteilung verwehrt blieb.»
Im Rahmen des Kriegsverbrechertribunals
für das frühere Jugo slawien klagt Del Ponte
161 Personen an, die Hälfte wird ver ur teilt. 200 8
tritt sie zurück und geht als Schweizer Botschaf­
terin nach Argentinien. Del Ponte und Diploma­
tie? Sie habe ja noch irgendwas machen müssen
bis zur Pensionierung, sagt sie. «Als Chefanklä­
gerin habe ich nie Politik gemacht, aber ich war
immer von ihr abhängig, um meine Flüchtigen
vor Gericht zu bringen – leider.» Dann entbrennt
2011 der Konflikt in Syrien.
Carla Del Ponte tritt der Unabhängigen Unter­
su chungskommission bei. Doch das Gremium
erhält keinen Auftrag für einen Strafverfolgungs­
prozess, es geht lediglich darum, Fakten zusam­
menzutragen. «Das war häufig einfach. Die Täter
haben die Verbrechen mit ihren Videos ja oft
selbst dokumentiert.»
Die Untersuchungskommission veröffentlicht
zweimal im Jahr Berichte, die aber keinerlei Kon­
sequenzen haben. Der politische Wille fehlt kom­
plett, die Weltgemeinschaft sieht tatenlos zu.
Nach sechs Jahren tritt Del Ponte frustriert und


ausgelaugt aus der Kommission zurück. «Ich
hatte für die Untersuchungen zu Syrien zugesagt,
weil ich auf ein Tribunal hoffte. Aber das Ganze
war eine einzige Alibiübung.» Das Medien echo
bei ihrem Rücktritt ist zwar gross, doch es ver­
hallt ebenfalls ohne jede Wirkung.
Mit den Vereinten Nationen geht Del Ponte
hart ins Gericht: «Die Uno ist an einem Tiefpunkt
angelangt, den ich mir nicht hätte vorstellen
können. Von den 4000 oder 5000 Personen am
Hauptsitz in New York macht die Hälfte gar
nichts.» Es brauche unbedingt tiefgreifende
Reformen. «Ich habe gemacht, was ich konnte.»

Sie wird nicht mehr beschützt. Carla Del Ponte ist
heute begeisterte Grossmutter und auf dem Golf­
platz fast ebenso engagiert wie früher im Ge­
richtssaal. «Das Handicap beim Golfen ist mitt­
lerweile mein grösster Gegner. Es zu bekämpfen
ist viel langwieriger, als Kriegsverbrecher vor
Gericht zu bringen», sagt sie scherzhaft. Perso­
nenschutz hat sie nicht mehr. Sie habe sich fast
30 Jahre lang nicht frei bewegen können. «Das
reicht.» Ausserdem: «Ich bin so weit gekommen,
was soll mir jetzt noch passieren?» Aber ja, Türen
und Fenster ihres Hauses sind noch immer ge­
panzert, und ihr Privatleben schützt sie nach wie
vor vor neugierigen Medienfragen.
Ende Jahr will sie sich aus der Öffentlichkeit
zurückziehen. Sollte die Uno allerdings doch
noch ein Syrientribunal einrichten, stünde sie
zur Verfügung. «Niemand hat mehr Erfahrung in
solchen Dingen als ich. Aber es eilt, ich werde
nicht jünger.»

«Das
Handicap
beim Golfen
zu bekämp­
fen dauert
viel länger,
als Kriegs­
verbrecher
vor Gericht
zu bringen.»
Carla Del Ponte

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