Beobachter - 13.09.2019

(nextflipdebug5) #1
FOTO: GETTY IMAGES, PRIVAT

Schlechte Nachricht für Menschen mit Depression:
Das Cochrane-Zentrum in Kopenhagen hat 522
Studien ausgewertet und kam zum Schluss, dass
Antidepressiva kaum besser wirken als Placebos.
Sind sie unbrauchbar?
Michael Hengartner: Nein, natürlich nicht. Diese
Metastudie belegt hauptsächlich, dass Wissen-
schaftler in früheren Arbeiten die Wirksamkeit
von Antidepressiva übertrieben dargestellt
haben. Bei rund der Hälfte aller Antidepressiva-
Studien wirkte das Medikament nicht besser als
die Placebos. Solche Negativergebnisse werden
jedoch selten veröffentlicht – die positiven Stu-
dien hingegen fast ausnahmslos.

Was heisst das für Betroffene?
Wenn man alle zugänglichen Studien auswertet,
hat nur eine von neun Personen einen Nutzen
durch Antidepressiva, den sie unter Placebo
nicht hätte. Der grosse Rest wurde unnötig einem
Risiko von Nebenwirkungen ausgesetzt.

Sind Medikamente eine schlechte Wahl?
Nein. Viele Patienten empfinden Antidepressiva
als sehr hilfreich. Die Medikamente machen
schläfrig, wirken aktivierend oder stumpfen
emotional ab. Das kann je nach Zustand der
betroffenen Person willkommen sein. Ob aber
die po sitiven Effekte oder die Nebenwirkungen
überwiegen, weiss man vorher nicht. Die Depres-
sion verschwindet mit Medikamenten zudem
nicht zwingend.

Heisst das, dass Langzeitkonsumenten die Mittel
absetzen sollten?
Wenn das Medikament längerfristig notwendig
ist und es für jemanden funktioniert, dann soll
es so belassen werden. Gewisse Antidepressiva
können für gewisse Patienten auch längerfristig
nützlich sein.

Aber ist das überhaupt schlimm, wenn
Antidepressiva nur wie Placebo wirken?
Das Problem sind die unerwünschten Effekte der
Medikamente. Es gibt beispielsweise ein rund
drei- bis vierfach erhöhtes Risiko von sexuellen

Funktionsstörungen. Wir wissen auch, dass
Antidepressiva zu Magen-Darm-Blutungen oder
Herzproblemen führen können. Auch wenn das
seltene Ereignisse sind, müssen wir sie in Bezug
setzen zum geringen Nutzen der Medikamente
gegenüber Placebo.

Schweizer Patientinnen und Patienten
beziehen jedes Jahr 3,5 Millionen Mal
Antidepressiva. Zwischen 2014 und 2017
haben die Bezüge um elf Prozent zugenommen.
Eine Fehlentwicklung?
Antidepressiva werden viel zu oft und viel zu
schnell verschrieben – auch an Personen, die
gar nicht oder nur leicht depressiv sind. Mein
Arzt wollte mir ein Antidepressivum geben, weil
ich nach der Geburt unseres zweiten Kindes
Schlafstörungen hatte und gestresst war. In der
Schweiz haben knapp zehn Prozent der Be völ-
kerung in den letzten zwölf Monaten ein Anti-
depressivum genommen – auch gegen Angst-
störungen, Menstruationsbeschwerden oder
Kopfschmerzen.

Halten sich denn die Hausärzte nicht an
die Behandlungsrichtlinien? Die sehen bei
leichten Depressionen kein Verschreiben
von Medikamenten vor.
Es ist zu einfach, den Hausärzten die Schuld zu
geben. Die Patienten wollen zum Teil auch un-
bedingt Medikamente. Die Hausärzte haben
mit den Verschreibungen nur angefangen, weil
es jahrzehntelang geheissen hat, viele Depres-
sionen blieben unentdeckt. Heute werden De-
pressionen überdiagnostiziert.

Was sind die Alternativen zu Medikamenten?
Ebenfalls helfen können Sport oder Psycho-
therapie. Kurzfristig ist der Nutzen dieser Mass-
nahmen vergleichbar mit Antidepressiva. Das
Medikament birgt jedoch die höchsten Risiken
für den Körper. Deshalb sollte es die letzte Wahl
sein – ausser die Störung ist so schwer, dass sich
das Risiko der Nebenwirkungen rechtfertigt.
Langfristig wirkt Psychotherapie besser als
Medikamente.

PHARMA. Die Wirksamkeit von Antidepressiva werde übertrieben, sagt der Zürcher Forscher


Michael Hengartner. Auch, weil viele Psychiater mit der Pharmaindustrie verbandelt seien.


«Langfristig wirkt


Psychotherapie besser


als Medikamente»


«Anti­


depressiva


werden


viel zu oft


und viel zu


schnell


verschrie­


ben.»


Michael Hengartner,
37, ist Psychologe
und Mediziner. Er ist
Dozent an der Uni
Zürich und an der
Zürcher Hochschule
für Angewandte
Wissenschaften.
Er hat mehrere
kritische Studien
über die unklare
Wirksamkeit von
Antidepressiva
publiziert.


36 Beobachter 19/2019

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