Beobachter - 13.09.2019

(nextflipdebug5) #1

A


ls er ihm die erste Ohrfeige verpasste, war
sein Sohn acht. «Es war nach einem auf­
reibenden Tag, auf dem Heimweg haben
die Kinder gequengelt und gestritten», erzählt
Matthias Roth*. Damals lebte der Architekt mit
seiner Familie in Nordafrika. Jetzt sitzt er in
einem nüchternen Büro der Berner Interven­
tionsstelle gegen häusliche Gewalt.
Ein grosser, schlanker Mann mit halblangen
Haaren. Er spricht langsam, schweigt lange. Mal
ist seine Stimme kräftig und bestimmt, mal
kaum hörbar. «Als wir zu Hause ankamen, gab
es ein Missverständnis zwischen mir und mei­
nem Sohn. Dann habe ich ihm einen ‹Chlapf›
gegeben.» Es blieb nicht bei dem einen. Über fünf
Jahre hinweg habe er seinen Sohn immer wieder
geschlagen, gestossen und hart gepackt. «Für
mich war es jedes Mal ein Schock. Und jedes Mal
dachte ich, dass es nicht wieder vorkommt.»
Seit neun Monaten besucht Matthias Roth das
Lernprogramm gegen Gewalt in Ehe, Familie und
Partnerschaft bei der Interventionsstelle. Er will
lernen, seine Ausbrüche in den Griff zu kriegen.
«Meine damalige Frau und ich hatten uns von
Anfang an auf eine gewaltfreie Erziehung ge­
einigt. Ich hätte die Hand dafür ins Feuer gelegt,
dass mir so etwas nie passiert», sagt Roth.


Psychische Folgen. Gewalt von Eltern gegen
Kinder ist weit verbreitet. Zwei von drei Kindern
in der Schweiz sind einer Form von körperlicher
Gewalt durch die Eltern ausgesetzt. Jedes fünfte
Kind wurde mindestens einmal geschlagen,
zeigt eine aktuelle Studie der Zürcher Hochschule
für Angewandte Wissenschaften (ZHAW).
Nicht nur die körperlichen Folgen sind gra­
vierend. Gewalt führt auch zu emotionalen Ver­
letzungen. Bei Kindern äussern sie sich in Form
von Niedergeschlagenheit, Gefühlen der Hilf­
losigkeit und des Kontrollverlusts, geringem
Selbstwertgefühl, Aggressionen, Ängstlichkeit
oder späterer Alkohol­ und Drogenabhängigkeit.
Aus der neurologischen Forschung weiss man
zudem, dass die Entwicklung der Hirnareale
geschädigt werden kann, in denen die Selbst­
kontrolle und das Empathievermögen sitzen.


Körperstrafen sind gemäss der UN­Kinder­
rechtskonvention nicht zulässig, auch gering­
fügige nicht. Doch anders als in vielen euro­
päischen Ländern gibt es in der Schweiz kein
Gesetz, das Gewalt in der Erziehung explizit
untersagt. Das Strafgesetz ahndet zwar einfache
Körperverletzungen und wiederholte Tätlich­
keiten an Kindern. Sogenannt einfache Tätlich­
keiten – also wenn keine physischen Verletzun­
gen feststellbar sind – werden von Amts wegen
aber nicht verfolgt.
Auch fahrlässigen Körperverletzungen an
Kindern gehen die Strafbehörden nur auf Antrag
hin nach. Das geschieht bloss in Ausnahme­
fällen, denn die Hürden sind hoch. Die Kinder
müssten ihre Eltern anzeigen.

Das Parlament bremst. Politische Vorstösse gab
es etliche, zudem rufen zahlreiche Institutionen
die Politik immer wieder zum Handeln auf.
Trotzdem lehnte das Parlament bisher eine
Verschärfung des Gesetzes ab – etwa mit der
Begründung, die aktuelle Gesetzgebung biete
den Kindern ausreichend Schutz.
Wie viel eine Verschärfung brächte, lassen
Zahlen aus Ländern erahnen, wo es ein Verbot
gibt. In Österreich etwa sind Ohrfeigen seit
30 Jahren verboten. 52,9 Prozent der Jugend­
lichen dort geben an, dass sie gewaltfrei erzogen
wurden – Weltrekord. In der Schweiz sind es
bloss 42,9 Prozent der Jugendlichen ohne
Migrationshintergrund.
«Ein Verbot hätte Signalwirkung», sagt die
Zürcher Familientherapeutin Britta Went. Sie
begleitete beim Elternnotruf viele Paare und
weiss: Die Eltern sind zwar besser informiert als
früher und wissen, dass man ein Kind mit Schlä­
gen nicht zurechtbiegen kann. Trotzdem gebe
es viele Übergriffe. «Im Zustand der Überforde­
rung wissen viele Eltern nicht, wie es anders
geht.» Meist aus dem Affekt heraus. «Die wenigs­
ten Eltern wenden Gewalt methodisch an.»
Familienvater Matthias Roth sagt es so: «Es
ist eine Spirale, in die ich dann hineingerate.
Wenn meine Geduld am Ende ist, alles schief­
läuft und ich unter Zeitdruck stehe. Ich werde

TEXT: SAMANTA SIEGFRIED


ERZIEHUNG. «Ab und zu ein Chlapf» kann nicht schaden, glauben viele Schweizer Eltern.


Sie irren. Ein Gewaltverbot hätte Signalwirkung, sagen Fachleute.


Die Sache


mit der Ohrfeige


62,1
Prozent der
Schweizer
Jugendlichen
haben einmal
elterliche
Gewalt erlebt.

53,7
Prozent
haben
Ohrfeigen
erhalten.

22,0
Prozent
erlebten
schwere
Gewalt
(Schlagen
mit einem
Gegenstand
oder mit
der Faust).

FOTO: GETTYIMAGES | QUELLE: ZHAW-STUDIE «ELTERLICHE ERZIEHUNG UNTER BESONDERER BERÜCKSICHTIGUNG ELTERLICHER GEWALTANWENDUNG IN DER SCHWEIZ» (JULI 2018)

48 Beobachter 19/2019 * Name geändert

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