Der Stern - 12.09.2019

(Sean Pound) #1
Die Welt weiß mittler-
weile von Kindern,
die an der mexikani-
schen Grenze durch
Trumps Hilfstruppen
von ihren Eltern
getrennt werden. Aber
was weiß sie von den
Kindern, die allein in die USA gelangen
und in der Wüste verschwinden?
„Archiv der verlorenen Kinder“ hat
Valeria Luiselli ihren Roman genannt,
in dem sie vom Marsch der Flüchtlings-
kinder erzählt: albtraumhaft – und
gefiltert durch die Schilderungen einer
New Yorker Patchworkfamilie auf
dem Weg in den Süden der USA.
Politisch, virtuos und sehr bewegend.

(Kunstmann, 25 Euro) (^22222)
ROMAN
Wie soll man in diesen
Tagen noch Diploma-
tie betreiben? Die
Frage schwebt über
Nora Bossongs
sprachgewaltigem
Roman „Schutzzone“.
Bossong erzählt von
der UN-Mitarbeiterin Mira, die sich
selbst irgendwo zwischen Genf, New
York und Burundi verloren hat. Ein
Gespenst, das in kühlen Hotelzimmern
und auf den Terrassen von Warlords
darum kämpft, nicht zynisch zu wer-
den. Oder mitschuldig. Bald geht es
um unsere Existenz überhaupt: Bleibt
nicht vieles unlösbar, untröstlich?
Große Fragen, eindrucksvoll beantwor-
tet. (Suhrkamp, 24 Euro) (^22222)
ROMAN
Es ist
nicht
über­
trieben:
Was ein
Hamburger Verlag als
„Das langweiligste Buch
der Welt“ veröffentlicht,
ist wahrlich sehr öde.
Andererseits macht es
auch gute Laune, die kurzen
Texte über Eisenbahn­
spurweiten, die Geschichte
der litauischen Monar­
chie oder das Wachstums­
muster der Europäischen
Stechpalme zu goutieren.
Richtig dosiert, soll
das Werk beim Einschlafen
helfen, aber klappt das,
wenn man ständig kichert?
(Atlantik, 14 Euro)
FOTO: CHRISTIAN ROTHE
seiner steilen Idee und der guten Intention
als Spitzentitel des Hanser-Verlags viel
Aufmerksamkeit für diese Saison erzeu-
gen. Das Buch selbst verdient sie nicht.
Es holpert durch und durch.
Die Geschichte des Mädchens ohne
Namen verliert sich in einer Welt ohne
Rahmen. Die Sprache: manchmal poetisch,
oft voller Stilblüten. Die Insel: möglicher-
weise im Mittelmeer. Die Gesellschaft:
irgendwie Boko Haram. Die Epoche: irgend-
wie im Heute. Die Erweckung der Protago-
nistin: dann doch durch einen Mann.
Handlung und Figuren aber haben kei-
nen Anker in Raum und Zeit und auch
nicht im Wahren oder Unwahren. Die sehr
wirkliche Wut über eine doch immer
wieder so männliche Welt findet in all
dieser Vagheit kein richtiges Ziel. Das ist
anstrengend. Und schade. Katharina Kluin
D
as Buch sollte eine Debatte aus-
lösen, so viel ist klar. „Miroloi“
handelt von der Erweckung einer
jungen Frau. Sie lebt als namen-
loses Findelkind in einem männ-
lichen Gewaltregime auf einer
ausgedachten Insel und beginnt dann
doch, frei zu denken, sich gegen die Unter-
drückung zu wehren.
Wäre es nach der Autorin Karen Köhler
gegangen, hätte diese Geschichte wahr-
scheinlich eine Debatte über die Ungleich-
heit der Geschlechter angeschoben, über
die Unterdrückung der Frauen in radikal-
islamischen Gesellschaften und darüber,
wie dünn das zivilisatorische Eis west-
licher Gesellschaften ist, wie gefährdet
unsere Ideale von Freiheit und Gleichheit
heute scheinen.
Stattdessen entfacht „Miroloi“ in den
deutschen Feuilletons gerade einen ganz
anderen Streit: eine Auseinandersetzung
darüber, wie leicht Literaturkritiker auf
geschicktes Marketing der Buchverlage
eingehen. Denn: „Miroloi“ konnte mit
Karen Köhlers Debütroman „Miroloi“ über eine junge Frau
in einem Unterdrücker-Regime sorgt für Streit
Ohne Namen, ohne Rahmen
Die Hamburgerin
Köhler, 45, hat auch
als Schauspielerin
und Drehbuchautorin
gearbeitet
„Miroloi“ von Karen Köhler, Hanser,
462 Seiten, 24 Euro (^22222)
1 2.9. 20 19 107
BUCH

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