Der Stern - 12.09.2019

(Sean Pound) #1

E


rinnern Sie sich noch an den Film
„Falling down“? Erstaunlich, dass
der noch nicht wieder neu aufgelegt
wurde. Dieses alttestamentarische
Verzweifeln des kleinen Mannes an
der Gesellschaft ist mir durchaus ver-
traut. Es ist das schwere Los des geselligen
Menschen, dass er durch sein Unter-
Leuten-Sein die Wahrschein-
lichkeit einer Zufallsbekannt-
schaft mit Idioten erhöht.
So machte ich unlängst
einen kleinen Abstecher an die
Ostsee, um dort – auf Empfeh-
lung – in einem Strandklub ein
wenig Zeit zu verbringen. Es
war ein Laden, dessen Publi-
kum so wirkte, als habe es zwar
genügend Ego, aber zu wenig
Sprit im Tank, um es bis nach
Kampen auf Sylt zu schaffen.
Als ich mich gerade beim Kell-
ner nach den Preisen für einen
der Strandkörbe erkundige,
schiebt sich ein Glatzkopf
Ende 50 dazwischen und zieht
sämtliche Aufmerksamkeit des
Garçons von mir ab. Der Kerl,
ausgestattet mit hellblauem
Hemd, Ray-Ban-Sonnenbrille
und Rolex, fährt über mich
hinweg, als würde ich Flyer
fürs Penny-Markt-Sommerfest
verteilen, und lässt keinen
Zweifel daran aufkommen,
dass jetzt erst einmal er einen
Strandkorb zu bekommen hat.
Erkennbar entgeistert stehe
ich daneben und schaue ihm
andächtig beim Regieren zu.
Mit leichter Zerknirschung
versucht der Servicemann das
Verhalten des haarlosen Ver-
drängers zu erklären: „Mja, tut mir leid.
Der lässt hier pro Jahr 10 000 Euro.“ Was
offensichtlich der jährliche Obolus ist,
den man zu entrichten hat, will man sich
am Strand einfach mal herrlich frei von
so lästigen Konventionen wie Höflichkeit
fühlen.
Drei (!) Mal habe ich mit mir gerungen,
ob ich ein Theater veranstalten soll – mich

dann aber entschieden, stattdessen ein
ausgedehntes Nickerchen zu machen.
Das Abrauschen simpler Umgangs-
formen ist auch andernorts zu beobachten.
Mussten Menschen früher zumindest
noch auf ihr Smartphone starren, um
einen in der Fußgängerzone über den Hau-
fen zu laufen, brauchen sie heutzutage
nicht einmal mehr das. Sie latschen mit

toten Augen auf einen zu – und immer häu-
figer bleibe ich einfach stehen, bis sie wie
ein verwirrter Saugroboter auf mich tref-
fen und sich nach einem mittelschweren
Systemabsturz neu orientieren müssen.
Vor allem der Straßenverkehr ist mit
seinen rollenden Wutkammern der ideale
Ort für das komplette Erliegen jeglicher
Zurückhaltung. Ich halte mich
selbst für höflich, lasse im Stra-
ßenverkehr auch gern mal an-
dere Pkw-Fahrer durch. Sollten
die sich allerdings für diese
höfliche Geste nicht bedanken,
bin ich direkt so in Rage, dass
ich ihnen im Zweifel auch 50
Kilometer hinterherfahre, um
sie in irgendeinem Industrie-
gebiet zu vermöbeln.
Der stete Wechsel zwischen
Fahrrad am einen und Auto-
mobil an einem anderen Tag
bringt mich in die bequeme
Situation, jedes Mal neu ent-
scheiden zu dürfen, welche
Verkehrsteilnehmer gerade die
„rücksichtslosen Idioten“ und
„zu doof zum Fahren“ sind.
Es ist ein Kreuz: Einerseits
kann man nicht jeden Tag auf
der Straße herumpöbeln. Jegli-
che Wut runterzuschlucken
und sich ein buddhistisches
Dauerlächeln überzustülpen
birgt jedoch die Gefahr, ir-
gendwann plötzlich und ohne
echten Anlass in einem Groß-
raumbüro auszurasten und es
mit dem Kopf eines Arbeits-
kollegen unterm Arm auf die
Titelseite einer Boulevardzei-
tung zu schaffen.
Also werde ich wohl bis auf
Weiteres dieses Heft hier als Kummer-
kasten missbrauchen.
Immer noch besser, als seinen Frust in
eine Wahlkabine zu tragen. 2

Wer häufig unter Menschen ist, lernt


viele richtig interessante Leute kennen – leider


allerdings auch einen Haufen Idioten


Ich, ich, ich!


62 1 2.9. 20 19

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Der Autor und Moderator Micky Beisenherz („Das Lachen der Anderen“, „ZDF Heute-Show“, „Extra 3“)
schreibt alle zwei Wochen im stern – und regelmäßig auch bei stern.de

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ILLUSTRATION: DIETER BRAUN/STERN; FOTO: DAVID MAUPILÉ
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