Frankfurter Allgemeine Zeitung - 14.09.2019

(Elle) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton SAMSTAG, 14. SEPTEMBER 2019·NR. 214·SEITE 11


Nicht von Beginn an, so erzählte Monika
Schoeller später, war sie entschlossen,
das ihr zufallende Erbe und die große da-
mit verbundene Aufgabe als die eigene
anzunehmen. Erst nach den Jahren eines
freien und in vielseitigen Wissensgebie-
ten vagabundierenden Studiums, nach
Volontariaten bei den Verlagen Artemis,
Winkler und der Arche hat sie dann ein
entschiedenes Interesse entwickelt für
S. Fischer, eines der traditionsreichsten
Verlagshäuser dieses Landes, und sich
seiner Geschicke angenommen – leise
und konsequent, mit großer Aufmerk-
samkeit und Sinn für seine Geschichte,
mit hoher Einsatzbereitschaft, viel Ge-
schick und einer leidenschaftlichen Lie-
be zu dieser Welt der Bücher, die bis heu-
te die ihre ist.
Vor fünfundvierzig Jahren übernahm
Monika Schoeller die Leitung der Frank-
furter S. Fischer Verlage von ihrem Va-
ter Georg von Holtzbrinck. Im Oktober
2002 zog sie sich aus der operativen Ar-
beit zurück, blieb aber Vorsitzende der
Geschäftsleitung. Ihre Begeisterung für
Literatur und ihr Engagement für die Zu-
kunft des literarischen Erbes sind unge-
brochen, ihrer Beharrlichkeit, ihrem
Weitblick und ihrem Verantwortungsbe-
wusstsein haben der Verlag und das lite-


rarische Leben unseres Landes weit
mehr zu verdanken, als sich hier andeu-
ten lässt.
Nur wenige Beispiele: Zu dem verlegeri-
schen Erbe, das Monika Schoeller als Ver-
lagsleiterin antrat, zählten unter anderem
Hugo von Hofmannsthal und Rudolf

Hirsch. Hirsch, der ehemalige Verlags-
direktor des S. Fischer Verlags, war nach
seinem Abschied aus der Geschäftsfüh-
rung zum Mitbegründer und Mitherausge-
ber der zweiundvierzigbändigen kriti-
schen Hofmannsthal-Ausgabe geworden,
die auf seine Initiative vor rund fünfzig
Jahren im Freien Deutschen Hochstift an-
gesiedelt wurde und heute – dank der kon-
tinuierlichen Unterstützung von Monika
Schoeller – kurz vor der Vollendung steht.
Gemeinsam mit der „Großen kommentier-
ten Frankfurter Ausgabe“ der Werke Tho-
mas Manns ist diese mutige Ermöglichung
der kritischen Ausgabe der Werke Hof-
mannsthals charakteristisch für die vor-
bildliche Haltung, mit der Monika Schoel-
ler gegenüber den toten wie den lebendi-
gen Autoren ihres Verlages Verantwor-
tung übernimmt.
Zu den vielen eindrucksvollen Entschei-
dungen Monika Schoellers gehört auch
die, das umfangreiche und hochkarätige
Archiv des 1886 von Samuel Fischer in
Berlin gegründeten Verlags seit 1986 suk-
zessive dem Deutschen Literaturarchiv in
Marbach als Geschenk zu überlassen. Und
dessen Erschließung und Erforschung
durch die zusätzliche Finanzierung von
Projektstellen und internationalen Stipen-
dien möglich zu machen und zu fördern.

Noch weit darüber hinaus ist Monika
Schoeller für ihr beispielhaftes kulturel-
les und soziales Engagement bekannt.
2002 rief sie die S. Fischer Stiftung ins Le-
ben, heute eine der wichtigsten ihrer Art
in Deutschland. Von Beginn an setzte die
Stiftung sich besonders ein für den „geis-
tigen Handelsverkehr“ in Gestalt von
Übersetzungen und Übersetzernetzwer-
ken. Der Austausch und die Verständi-
gung zwischen Kulturen und Sprachen
hat in Monika Schoeller stets eine starke
Anwältin gefunden: Goethe nannte das
Übersetzen „eines der wichtigsten und
würdigsten Geschäfte in dem allgemei-
nen Weltverkehr“. Die Arbeit der Stif-
tung begann mit Projekten zu Übertra-
gungen aus dem Russischen; bald folgte
das große Übersetzungsnetzwerk Tradu-
ki. Es gelten dabei – ganz wie für Goe-
thes Weltliteratur-Idee – literarisch-poli-
tische Ziele; der Förderung des Netz-
werks wird eine Förderung gegenseitigen
Verstehens zugetraut.
Eine zweite wichtige Initiative der Stif-
tung, die Traduki in diesem Sinne er-
gänzt, sind die seit 2012 mit verschiede-
nen Partnern realisierten Begegnungen
und Gespräche, die unter dem Titel „De-
bates on Europe“ den aktuellen Fragen
nach den Schwierigkeiten und Chancen

des europäischen Projekts nachgehen.
Mit ihrer S. Fischer Stiftung unterstützt
Monika Schoeller auch Kulturinstitutio-
nen bei wichtigen Projekten, sie fördert
wissenschaftliche Tagungen und umfang-
reiche Publikationsprojekte.
Und wer das Glück hat, Monika Schoel-
ler persönlich zu begegnen, weiß, dass sie
all dies mit größter Behutsamkeit tut, fei-
nem Taktgefühl und höchster persönli-
cher Zurückhaltung. Zu Monika Schoel-
lers siebzigstem Geburtstag erschien in ei-
ner Frankfurter Tageszeitung ein Beitrag
ihrer Freundin Silvia Bovenschen, dem die
Schriftstellerin den Titel „Ehre durch
Ruhmvermeidung“ gab. Zutreffender
kann man Monika Schoeller wohl nicht be-
schreiben, und auch die unverhohlene Zu-
neigung, die aus diesen Zeilen spricht, ist
jedem nachvollziehbar, der die Verlegerin
und Mäzenin kennt. Dass sie gern, und lie-
ber, im Verborgenen wirkt – und dies auch
in ihren Aktivitäten im Zeichen der Völ-
kerverständigung, die bei der Aufzählung
ihres Engagements nicht fehlen dürfen –,
macht sie zu einem ganz besonderen Men-
schen. Am morgigen Sonntag wird sie
achtzig Jahre alt.
Anne Bohnenkampist die Direktorin des Goethe-
Hauses Freies Deutsches Hochstift und lehrt Litera-
turwissenschaft an der Goethe-Universität in Frank-
furt am Main.

Foto Elina Ryland /
Nordiske Mediedager

In Berlin ist ein heftiger Streit um das
geplante Museum des 20. Jahrhunderts
entbrannt. Kulturstaatsministerin Mo-
nika Grütters hatte für das Projekt 200
Millionen Euro bewilligt bekommen.
Von Anfang an wurde bezweifelt, dass
diese Summe für die Realisierung des
Entwurfs von Herzog & de Meuron rei-
chen würde. Zudem hatten die Schwei-
zer Architekten ihre Pläne massiv über-
arbeiten und die Grundfläche des Mu-
seums verkleinern müssen, um nicht
zu dicht an die Matthäuskirche heran-
zurücken. Nun muss unter schwierigen
technischen Bedingungen ein weiteres
Geschoss in die Tiefe gebaut werden.
Medien und Experten hatten zuletzt be-
richtet, dass die Baukosten auf 480 Mil-
lionen, möglicherweise sogar 600 Mil-
lionen Euro steigen könnten. Grütters
weist das zurück; eine Verdreifachung
sei „aus der Luft gegriffen“, die Zahlen
„spekulativ“. Spekulativ ist allerdings
auch ihre Annahme, dass man es mit ei-
ner verdoppelten Summe schaffen kön-
ne. Grütters will am kommenden Mon-
tag im Haushaltsausschuss neueste
Kostenschätzungen vorstellen. Wer
das Museum unbedingt durchdrücken
will, wird beim Schätzen nach unten
schielen, wer den Sinn eines babylo-
nisch in immer tiefere Tiefen gegrabe-
nen Museums bezweifelt, eher die Risi-
ken betonen. Dass der Haushaltsaus-
schuss in der Stadt des BER-Desasters
ein Prestigeprojekt, dessen Kosten sich
schon vor Baubeginn mehr als verdop-
pelt haben, einfach nonchalant durch-
winkt, steht nicht zu erwarten. nma

D


ie Geschichte lag lange
schon in der Luft. Doch die
Frauen, die sie erzählten,
untereinander und Vertrau-
ten gegenüber, hatten
nicht genug Macht, sie tat-
sächlich ans Licht zu bringen. Dabei hätte
spätestens, als Anita Hill in der Senatsan-
hörung zur Ernennung von Clarence Tho-
mas als Richter am amerikanischen Su-
preme Court den Vorwurf sexueller Beläs-
tigung am Arbeitsplatz erhob und das Er-
nennungskomitee sich davon weder beein-
drucken ließ noch weitere Zeuginnen auf-
rief, die parat standen, klar gewesen sein
müssen: Es gibt hier ein ernsthaftes Pro-
blem, auch von Komplizenschaft in Fällen
sexualisierter Machtausübung. Das war



  1. Nichts geschah. Selbst 2006, als Tara-
    na Burke den Hashtag MeToo auf ihrer
    MySpace-Seite ins Leben rief, um erneut
    auf sexuelle Gewalt in Arbeitsverhältnis-
    sen aufmerksam zu machen, wurde daraus
    keine weltweite Bewegung. Das geschah
    erst elf Jahre später.
    Warum? Darauf gibt das Buch „She
    Said“ der späteren Pulitzerpreisträgerin-
    nen Jodi Kantor und Megan Twohey keine
    Antwort. Und doch erzählt es eine unbe-
    dingt lesenswerte Geschichte. Eine „true
    crime story“, die teilweise so spannend
    ist, als wüsste niemand, was kommt.
    Der Damm brach am 5. Oktober 2017.
    An jenem Tag veröffentlichte die „New
    York Times“ den ersten Artikel der beiden
    Reporterinnen über den Filmproduzenten
    Harvey Weinstein. Zahlreiche Frauen,
    mehrere Generationen ehemaliger Mitar-
    beiterinnen sowie bekannte und nicht so
    bekannte Schauspielerinnen, beschuldig-
    ten ihn der sexuellen Übergriffe, Nötigung
    bis hin zu Vergewaltigungsversuchen und
    Vergewaltigungen. Jodi Kantor und Me-
    gan Twohey gingen entsprechenden
    Tweets, Hinweisen und auch Gerüchten
    nach und leisteten langwierige Überzeu-
    gungs- und Überredungsarbeit, nicht nur
    bei den betroffenen Frauen, sondern auch
    etwa bei dem Buchhalter der Weinstein
    Company, Dokumente zugänglich zu ma-
    chen, Beweise zu liefern und auszusagen.
    Fünf Monate brauchten sie, bis sie genü-
    gend hieb- und stichfestes Material bei-
    sammen hatten, um eine seriöse Geschich-
    te zu publizieren. Zu dieser Geschichte ge-
    hörten die Aufdeckung der Verstrickung
    von Weinsteins Firmen, seiner juristi-
    schen Winkelzüge, der Machenschaften
    der Black-Cube-Manipulatoren, Beweise
    für die Zahlung von hohen Abfindungen,
    fast immer gepaart mit Schweigeabkom-
    men. Wie kann das sein? Wie können Ab-
    findungen, die vom Gesetz als Schadener-
    satz für erlittenes Leid gedacht sind, mit
    Opferknebelung verbunden werden? Das
    Rechtssystem favorisiert offenbar die Tä-
    ter, weil es ihnen ermöglicht, ihre Opfer
    zum Schweigen zu bringen.
    Auf den ersten folgten weitere Artikel
    mit noch mehr Beschuldigungen, noch
    mehr Namen in der „New York Times“ so-
    wie kurz darauf im Magazin „The New Yor-
    ker“. Und dann türmte sich eine Flut von
    Anschuldigungen gegen andere berühmte
    und auch nicht so berühmte Männer in
    den sozialen Medien. Tarana Burkes #Me-
    Too wanderte zu Twitter und nahm dort
    enorme Fahrt auf. In der Film- und Unter-
    haltungsindustrie verloren Männer ihren
    Job, viele versorgt mit märchenhaften Ab-
    findungen. Bill Cosby kam als Erster ins
    Gefängnis. Jeffrey Epstein, dessen krimi-
    nelle Energie unter dem Deckmantel phi-
    lanthropischer Aktivitäten offenbar die
    der anderen noch einmal in den Schatten
    stellte, hat sich inzwischen in der Untersu-
    chungshaft das Leben genommen. Harvey
    Weinstein, mit dem alles anfing, wartet in
    New York auf seinen Prozess, der im Janu-
    ar beginnen soll. Eine Erfolgsgeschichte,
    fraglos. Doch wie weit trägt sie?
    „She Said“ protokolliert Weinsteins Nie-
    dergang. Das Buch ist vor einigen Tagen in
    den Vereinigten Staaten herausgekommen
    (bei Penguin). Noch mal diese ekligen Ge-
    schichten vom Mann im Bademantel,
    muss das sein? Ja. Nicht so sehr, weil neue
    Schweinereien ans Licht kämen, als viel-
    mehr um in vollem Umfang zu ermessen,


worum es ging und was daraus geworden
ist. Und vor allem auch, weil es eine Ge-
schichte über den seriösen Journalismus
ist, über Zweifel, Nachhaken, Ausdauer,
Sorgfalt und über allem die Frage: Was
könnten die Ergebnisse der Recherche be-
weisen? Traf auf die recherchierten Fälle
die rechtliche Definition des „sexuell ha-
rassment“ zu? Fällt das, was in Hollywood
als „casting couch“ Tradition hat, in diese
juristische Kategorie? Ist die Alternative
„Sei sexuell gefügig, oder riskiere Vergel-
tung in Form von Arbeitsentzug“ bereits
Nötigung?
Tausende Interviews und Informatio-
nen waren die Grundlage der ersten Arti-
kels der beiden. Sie beruhten nicht auf Ge-
schichten vom Hörensagen, nicht auf üb-
ler Nachrede, sondern waren das Ergebnis
einer skrupulösen investigativen Anstren-
gung. Auch der Druck, endlich genügend
zweifelsfreies Material, Aussagen mit Na-
men dahinter zusammenzuhaben, um an
die Öffentlichkeit zu gehen, ist hier zu spü-
ren. Denn die „New York Times“ wusste
ab einem bestimmten Punkt, dass auch
der „New Yorker“ an der Geschichte dran
war. Kurz, „She Said“ ist eine Art „All the
President’s Men“ für unsere Zeit. Mit Hel-

dinnen statt Helden. „She Said“ – der Titel
verspricht, was das Buch hält. Nicht das
übliche „She Said – He Said“, mit dem Be-
richte von Opfern, gern von Frauen sofort
wieder in Zweifel gezogen werden. Nicht
„Aussage gegen Aussage“, jenes von An-
wälten immer wieder ins Feld geführte Ar-
gument, das im Kern bedeutet: besser
schweigen. Im Gegensatz dazu: „She Said“


  • was sie zu sagen hat, in jedem einzelnen
    Fall, ist das, was hier zählt.


S

exuelle Nötigung ist in den
Vereinigten Staaten zwar kein
krimineller Straftatbestand
wie Vergewaltigung. Aber ein
Verstoß gegen die Bürgerrech-
te und damit ein zivilrechtlich
relevantes Vergehen ist sie schon. Den-
noch sind sexuelle Übergriffe in vielen
Branchen offenbar nach wie vor alltäg-
lich. In der „New York Times“ liefen paral-
lel zur Entwicklung der Weinstein-Ge-
schichte Recherchen im Silicon Valley, im
Hotel- und Gaststättengewerbe, beim
Bau, in Minen und Reedereien. Jede In-
dustrie hat offenbar ihre eigene „Soziolo-
gie sexueller Nötigung“, ihre eigenen
Missbrauchsmuster. Hier geht es in erster
Linie um jene in Hollywood als Synonym

für die Filmindustrie – die Fälle ereigne-
ten sich ebenso in New York, London,
Park City oder auch Cannes und Venedig
–, aber nicht nur. Ein ganzes Kapitel ist
dem Fall von Christine Blasey Ford und
ihrer Beschuldigung des damaligen Kandi-
daten und heutigen Richters am Supreme
Court gewidmet. Die Geschichte wurde
von der „Washington Post“ ans Licht ge-
bracht, und in „She Said“ wird sie als Bei-
spiel des Einflusses der #MeToo-Bewe-
gung wie auch der Rückschläge, die den
anfänglichen Erfolgen folgten, darge-
stellt. Hat tatsächlich und nachhaltig eine
Veränderung in der Wahrnehmung sexua-
lisierter Macht- und Arbeitsstrukturen
stattgefunden? Spricht die Erfahrung von
Christine Blasey Ford nicht dagegen?
Oder war dies ein Fall, der tatsächlich zu
lang zurücklag, und die Beweislage ließ
keine andere Entscheidung als die zu, die
das Senatskomitee traf, nämlich: die Aus-
sage zu ignorieren? Lässt sich in einer
fragmentierten Gesellschaft überhaupt
noch ein gesellschaftlicher Konsens über
neue Regeln des Zusammenseins und Um-
gangs miteinander herstellen? Können
neue Vereinbarungen, ein neues Bewusst-
sein überhaupt noch greifen? Die Autorin-
nen stellen die meisten dieser Fragen.
Antworten liegen nicht bei ihnen. Nur
eine Hoffnung darauf, dass veränderte
Machtverhältnisse tatsächlich irgend-
wann greifen werden.

Z

iemlich sicher dürfte aller-
dings sein, dass ihr Buch ir-
gendwann verfilmt wird. Al-
lein die Szene, in der Wein-
stein nach zahlreichen Versu-
chen endlich Dean Baquet,
den Chefredakteur der „Times“, ans Tele-
fon bekommt und ihm mit einem Inter-
view in der „Washington Post“ droht!
Weinstein hatte immer wieder nach einer
Aussprache mit Baquet verlangt, statt
sich mit den Reporterinnen rumzuschla-
gen, einem Gespräch von wichtigem
Mann zu wichtigem Mann sozusagen. Ba-
quet aber hatte keine Notwendigkeit da-
für gesehen. Erst kurz vor der Veröffentli-
chung, in Erwartung von Weinsteins Stel-
lungnahme zu den geschilderten Ereignis-
sen, schaltet er sich ein. Und hängt Wein-
stein stilvoll ab, bevor er wieder an seine
Mitarbeiterinnen übergibt.
„All the President’s Men“ wie auch
kürzlich Steven Spielbergs Film über die
heroische Rolle der „Washington Post“-
Verlegerin Katherine Graham bei der Ver-
öffentlichung der Pentagon-Papiere leb-
ten auch vom romantisierenden Blick auf
die Dynamik der journalistischen Arbeits-
abläufe, insgesamt auf die Presse, jene
vierte Gewalt, die unter der Präsident-
schaft von Donald Trump als Fake News
verleumdet wird. Umso wichtiger dieses
Buch, selbst wenn es nur von Menschen
gelesen werden sollte, für die die „New
York Times“ nichts anderes ist als jene
hart arbeitende moderne Wahrheitsturbi-
ne ohne Kollegenneid und Vorgesetzten-
stress, als die sie bei Jodi Kantor und Me-
gan Twohey erscheint.
Wie jede gute Story hat auch diese eine
unerwartete Heldin. Es ist Rebecca Cor-
bett, Leiterin des Investigativressorts der
Zeitung. Sie beaufsichtigt, aber sie greift
nicht zu früh ein. Sie ist über alle Schritte
ihrer Redakteurinnen informiert, an al-
lem, was sie herausfinden, interessiert,
macht Vorschläge, gibt Ratschläge. Ge-
genstand einer Konferenz bei ihr ist zum
Beispiel die Frage: Wie könnte der erste
Satz lauten, mit dem ein mögliches Opfer
davon überzeugt werden könnte, über-
haupt zu sprechen? Das Ergebnis war die-
ser: „Ich kann nicht ändern, was Ihnen in
der Vergangenheit zugestoßen ist. Aber
gemeinsam sind wir vielleicht in der
Lage, Ihre Erfahrung zu benutzen, um an-
dere Menschen zu schützen.“
Rebecca Corbett ist es auch, die nächte-
lang einem Artikel ihrer Leute den letz-
ten Schliff verpasst. Unter all den Heldin-
nen, die in „She Said“ auftreten, ist sie
nicht die größte, weil sie nie in Gefahr
war. Aber die wichtigste vielleicht als
Frau mit Macht, die anderen Frauen den
Weg ebnet.^ VERENA LUEKEN

Fotos Getty, Elina Ryland/Nordiske Medied


M

it einem „skurrilen Hirnge-
spinst“ hatte es der anonyme Kri-
tiker im „Spiegel“ zu tun, einer „pedan-
tisch konstruierten Geschichte“ aus
dem „schrulligen Reich der Sprache“,
deren Autor sich dann auch noch durch
„akademische Verschrobenheit“ aus-
zeichnete und in seinem Werk „nicht
einmal Allegorie“ lieferte, auf was
auch immer. Und trotzdem, dass da et-
was Großes vor sich ging, ahnte der Kri-
tiker durchaus – schließlich lag das
Werk, dessen deutsche Übersetzung ge-
rade erscheinen sollte, damals schon
seit fünfzehn Jahren im englischen Ori-
ginal vor und begeisterte eine riesige
Leserschaft. Am morgigen Sonntag
jährt sich zum fünfzigsten Mal der Tag,
an dem der erste Band von Tolkiens
„Der Herr der Ringe“ auf Deutsch er-
schienen ist. Die deutschen Kritiker
zeigten sich gespalten: Die einen lob-
ten die Phantasie des Autors, der „merk-
würdige Abenteuer“ und „wundersame
alte Märchen“ an den Leser brachte,
der dann auch von der „völlig neu er-
dachten Sagenwelt lebhaft gefesselt
wird“, die anderen vermerkten „Pedan-
terie“, maßlose „Einbildungskraft“ und
unglaubliche „erzählerische Naivität“
des Autors. Und wenn sie sich der Fra-
ge stellten, was denn der „Herr der Rin-
ge“ mit unserer Welt zu tun habe, dann
fanden sie in dem dickleibigen Roman


  • wie Geno Hartlaub im „Deutschen
    Allgemeinen Sonntagsblatt“ – eine
    „Wiedergeburt der Phantasie, die unser
    daten- und faktenbesessenes Jahrhun-
    dert von ihrem Thron gestoßen und in
    die Unterwelt verbannt hat“, was eini-
    germaßen verwundert bei einem Au-
    tor, der von den selbsterdachten Daten
    und Fakten Mittelerdes bekanntlich
    nicht genug kriegen konnte. Seither
    sind wir, was die Tolkien-Philologie an-
    geht, weiter, nicht zuletzt hinsichtlich
    der inzwischen doch verbreiteten Ein-
    sicht, dass man sich einem großen Phi-
    lologen, der Romane schreibt, auch mit
    philologischem Besteck nähern sollte.
    Vor allem nehmen wir, seit Tom Ship-
    pey sein Standardwerk „Der Weg nach
    Mittelerde“ publiziert hat, Tolkiens Ver-
    dikt, man möge doch bitte keine Bezü-
    ge zwischen unserer Welt und jener Fro-
    dos suchen, nicht mehr ganz so ernst,
    so dass das Pendel gerade eher in die an-
    dere Richtung ausschlägt, wofür jüngst
    das Biopic „Tolkien“ ein prägnantes
    Beispiel ist. In einem aber möchte man
    den „Spiegel“-Kritiker geradezu pro-
    phetisch nennen. Sein Text schließt mit
    dem Satz: „Frodo, der Filmheld, wird
    kommen.“ spre


Für sein literarisches Schaffen, beson-
ders für den Roman „Winterbergs letz-
te Reise“ wird der tschechische Autor
Jaroslav Rudiš ausgezeichnet. Die Jury
würdigte die „originelle literarische In-
besitznahme eines geschichtsträchti-
gen Terrains“ in „Winterbergs letzte
Reise“, wo „Fahrplan und Schienen-
netz zu Nahtstellen eines zerrissenen
Kontinents“ werden. Der bisherige Cha-
misso-Preis war bis zu seiner Einstel-
lung 2017 die wichtigste literarische
Auszeichnung für Autoren, die auf
Deutsch schreiben und in einer ande-
ren Muttersprache aufgewachsen sind.
In diesem Jahr stifteten Dresdner För-
derer aus Wirtschaft und Zivilgesell-
schaft den mit 15 000 Euro dotierten
Chamisso-Preis/Hellerau und verliehen
ihn erstmals an die Autorin María Ceci-
lia Barbetta. Die Preisverleihung an
Rudiš erfolgt im Februar 2020. F.A.Z.

Dicke Berliner Luft
Kostenexplosion am Kulturforum

Frodos Erwachen


Jaroslav Rudiš
Erhält Chamisso-Preis/Hellerau

Vom Glück der Begegnung


Zum achtzigsten Geburtstag der Verlegerin und Mäzenin Monika Schoeller / Von Anne Bohnenkamp


Monika Schoeller Foto Barbara Klemm


Wahrheit und Würde


statt Knebelverträge


Gwyneth Paltrow gehört zu den Schlüsselfiguren im Weinstein-Fall, weil sie als eine der Ersten erzählte, was ihr widerfuhr. Foto ddp


Wozu die Presse gut ist:


DasBuch „She Said“


zeichnet die Recherche


nach, die zum Fall von


Harvey Weinstein


führte. Ein Lehrstück


des investigativen


Journalismus.


Jodi Kantor und Megan Twohey, deren Buch „She Said“ gerade erschienen ist, und Rebecca Corbett, die sie unterstützte

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