Frankfurter Allgemeine Zeitung - 14.09.2019

(Elle) #1

SEITE 12·SAMSTAG, 14. SEPTEMBER 2019·NR. 214 Literatur und Sachbuch FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Einrastloses Streben nach Bildung durch
Reisen und Forschungen in der ganzen
Welt – dafür stehen nach allgemeiner Auf-
fassung Leben und Werk von Alexander
von Humboldt, der heute vor 250 Jahren
geboren wurde. Der Hype um den Univer-
salgelehrten dauert schon eine Weile an
und hat sich in den vergangenen Dekaden
in zahllosen Schriften, Editionen und Aus-
stellungen niedergeschlagen. Gerade in
Zeiten von nationalistischer Engstirnig-
keit, Provinzialität und Fremdenfeindlich-
keit sticht Humboldt hervor als Repräsen-
tant eines Weltbürgertums, das sich souve-
rän zwischen den Sprachen, Kulturen und
einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen
bewegte. Versuche, dem „großen Entde-
cker fremder Welten“ an den Karren zu
fahren, ihm Verstrickungen in das kolonia-
le Projekt Europas zur Last zu legen und
zu behaupten, seine Forschungen etwa in
Lateinamerika hätten „vor allem das spa-
nische Königshaus und das auf Völker-
mord und Sklaverei basierende Kolonialre-
gime vor Ort interessiert“, liefen bisher
ins Leere und konnten dem Image der
Lichtgestalt kaum etwas anhaben.
Der Potsdamer Romanist Ottmar Ette
gehört weltweit zu den Granden der Hum-
boldt-Forschung. In einer Vielzahl von
kenntnisreichen Studien hat er sich zwar
gegen die Heroisierung des weitgereisten
Preußen verwahrt, zugleich jedoch aus sei-
ner Bewunderung für den kosmopoliti-
schen Gelehrten kein Hehl gemacht. Nun
hat der Suhrkamp Verlag anlässlich des
runden Geburtstags Ettes vor zehn Jahren
publiziertes Buch über Humboldt als Vor-
denker der Globalisierung noch einmal
aufgelegt. In ihm skizziert Ette eine intel-
lektuelle Biographie Humboldts, die ihn
als Visionär eines neuen Wissenschaftsan-
satzes ausweist, der das eurozentrische
Denken entschieden überwand und ihn
vielleicht zum ersten Autor machte, der
eine globalisierende Betrachtung der Welt
entwickelte.
Folgt man Ette, lassen sich die Hum-
boldtschen Begriffe von Welt und Wissen-
schaft am besten mit dem Konzept der
Wechselwirkung erfassen. In diesem Zu-
sammenhang zählt er neun Dimensionen
auf, die kennzeichnend für Humboldts
„multipolare Perspektive“ waren: eine
transdisziplinäre Ausrichtung, die sich
von einer interdisziplinären dadurch unter-
scheide, dass er den Dialog mit anderen
Disziplinen nicht vom Standpunkt eines
bestimmten Faches suchte; eine interkultu-
relle Ausrichtung, die „bewusst von einer
abendländischen-europäischen Wissens-
tradition als Grundlage ausging“; die Kon-
zeption einer kosmopolitischen Wissen-
schaft; eine „transareale“ Anlage, die ver-
schiedene Räume und Kulturen zusam-
mendenke; eine weltweite Vernetzung,
die nicht zuletzt durch eine umfassende
Korrespondenz etabliert und am Laufen
gehalten wurde; die Betonung der gesell-
schaftlichen Verantwortung und Bring-
schuld von Wissenschaft; ihre Popularisie-
rung und Demokratisierung; die Verknüp-
fung von Intermedialität, Transmedialität
und Ästhetik zu einer sinnlichen Wissen-
schaft, „die noch heute das Lesepublikum
in ihren Bann zu ziehen vermag“; schließ-
lich die Erprobung einer „fraktalen Geo-
metrie des Schreibens“, so dass in jedem
Teil das Ganze präsent sei.
Freilich sei Humboldts Œuvre, schreibt
Ette, durch eine Ästhetik des Scheiterns
charakterisiert. „Die Spitze des Chimbora-
zo hat er nie erreicht, in die Tiefen der
Höhle des Guácharo-Vogels ist er nie vor-
gedrungen: Der Bericht von seiner Reise
in die Neue Welt, das eigentliche Kern-
stück seines dreißigbändigen Reisewerks,

blieb ebenso Fragment wie das Werk sei-
nes Lebens, der ,Kosmos‘.“ Ette interpre-
tiert dieses „Scheitern“ jedoch als Tugend,
da es vor Augen führe, was ein „offenes“
Verständnis von Wissenschaft vermöge.
Das Einräumen und die Korrektur von
Fehlern war, fügt er hinzu, „von größter
Bedeutung für das Mobile (in) der Wissen-
schaft und zugleich unverzichtbarer Be-
standteil einer sich als zukunftsoffen be-
greifenden Epistemologie“.
Zugleich zeigt Ette in einer ausführli-
chen Rezeptions- und Werkgeschichte auf,
wie sich jede Epoche das Werk Humboldts
für ihre eigenen Zwecke zurechtgelegt hat.
Auf mehreren Seiten watscht er den Schrift-
steller Daniel Kehlmann ab, dessen Bestsel-
ler „Die Vermessung der Welt“ er als „leich-
te Kost rasch erzielter Effekte“ brand-
markt, in der längst verbraucht geglaubte
Stereotype über Humboldt fröhliche Ur-
ständ feiern. So kritisch er mit der „Kehl-
mannisierung“ Humboldts umspringt, so
unkritisch lobpreisend kommt sein nicht
leicht zu lesendes Buch bezüglich seines
Protagonisten daher. Und lädt vielleicht ge-
rade deshalb immer noch zu einer differen-
zierten Auseinandersetzung mit dessen
Werk ein. ANDREAS ECKERT

Z


wei Rapper bringen mit antisemi-
tischen Textzeilen einen Musik-
Preis zum Kollaps. Eine linke
Punkband soll im Bauhaus Des-
sau auftreten und wird aus Furcht vor
rechten Randalen wieder ausgeladen.
Eine Südtiroler Band beschwört die Lie-
be zur Heimat gegen „Gutmenschen und
Moralapostel“. Einer kanadischen Club-
musikerin wird koloniale Herablassung
vorgeworfen, weil sie eine indische Frei-
heitshymne als Sample benutzt. Eine Or-
ganisation ruft zum Boykott eines Berli-
ner Popfestivals auf, weil eine Künstlerin
mit staatlicher Unterstützung aus Israel
anreist. Ein österreichischer Schlagerstar
beklagt die „genderverseuchte Zeit“.
Und das sind nur Beispiele der letzten
drei, vier Jahre.
Eigentlich gilt Popmusik ja als Kunst-
form jugendlich-sentimentaler Affekte,
die sich mit zunehmendem Alter von
selbst erledigen. So hartnäckig sich diese
Ansicht auch hält, so war es aber noch
nie. In der Popmusik wurden immer
schon politische und soziale Konflikte
ausgehandelt, sexuelle Selbstbestim-
mung, ethnische Emanzipation, Jung ge-
gen Alt – derzeit geschieht das aber här-
ter denn je. Und mit umgedrehten Vorzei-
chen. Gleich zwei neue Bücher – das
eine, von Jens Balzer, ein ernster Essay,
das andere, von Michael Behrendt, ein
populäres Kompendium – versuchen des-
wegen zu ergründen, warum es so gekom-
men ist. Und was man aus den Skandalen
der letzten Zeit lernen kann, falls es mal
wieder so kracht wie zuletzt um Andreas
Gabalier und Frei.Wild, die Organisation
BDS und Feine Sahne Fischfilet – und
um die Rapper Kollegah und Farid Bang.
Deren Album „Jung, brutal und gut-
aussehend 3“ war im vergangenen Jahr
mit dem „Echo“ ausgezeichnet worden,
obwohl die beiden Rapper darauf Holo-
caust-Opfer verhöhnen – und sich eine
spät aufmerksam gewordene Öffentlich-
keit heftig erregte. Diesem Vorgang wid-
men sich beide neuen Bücher ausgiebig:
Der Berliner Journalist Jens Balzer
denkt in seinem Essay „Pop und Populis-
mus“ über „Verantwortung in der Mu-
sik“ nach und fordert seine Zunft – das
Feuilleton samt assoziierter Popkritik –
zu genauerem Hinsehen und größerer
Fachkenntnis auf. Michael Behrendt wie-
derum, promoviert über Rocklyrik und
früherer Chefredakteur Frankfurter
Stadtmagazine, zählt in „Provokation!“
umstrittene Songs der letzten hundert
Jahre auf, von Claire Waldoff bis Conchi-
ta Wurst. Er historisiert das Phänomen
sozusagen, wenn auch in griffigen For-
meln – und liefert abschließend eine Art
Ratgeber im Umgang mit Popmusik,
falls die zum Skandal wird wie im Fall

von Kollegah und Farid Bang und dem
„Echo“.
Es war ein einschneidendes Ereignis in
der jüngeren Geschichte der deutschen
Popmusik. Am Ende wollte niemand es
gewesen sein oder die Veranwortung da-
für übernehmen, dass hier ein antisemiti-
scher Rap ausgezeichnet wurde. Der
„Echo“, ein Preis, der nach Absatz verge-
ben wird und trotz „Ethikrat“ und öffentli-
cher Beteuerungen keine Haltung erken-
nen lässt: Was bleibt, ist die Erinnerung
an zwei feixende Rapper, die ihre Preisver-
leihung vor laufender Kamera als Tri-
umph und abermalige Verhöhnung all je-
ner inszenieren, die sich daran stießen.
„Im Pop spiegelt sich die politische Ge-
genwart der gesellschaftlichen Polarisie-

rung“, stellt Balzer fest. Die Skandale der
letzten Zeit folgen zu genau den Konflikt-
linien der Gegenwart: Populismus, Ras-
sismus, Sexismus, Homophobie, Antise-
mitismus. Balzer führt, als ähnlich um-
strittenes Feld, aber auch die Identitäts-
politik an, deren Akteure sich ja eigent-
lich gegen jene Zuschreibungen zur Wehr
setzen, welche in Rassismus und Sexis-
mus ihren Ausdruck finden. Was wieder-
um, unter dem Begriff der „kulturellen
Appropriation“, zu heftigen Auseinan-
dersetzungen geführt hat: Wer darf wes-
sen Lieder singen? Melodien zitieren?
Stile, Muster, Farben tragen?
„Ohne die grenzenlose Zirkulation
von Zeichen und die Vermischung von
kulturellen Traditionen ist Pop nicht

denkbar“, konstatiert Balzer, der sich da-
her mit der Identitätspolitik nicht an-
freunden will. Weil sie fixiere, was beweg-
lich bleiben müsse. Weil im Sample, in
der Umcodierung und Neusortierung vor-
handener Stile und Traditionen immer
neue emanzipatorische Kräfte freigesetzt
würden. Weil die Identitätspolitik „kultu-
relle Identität“ über künstlerische „Trans-
formation“ stelle: Wie im Fall der franzö-
sischen Produzentin Ramzi, die Sounds
unterschiedlichster Ethnien und Traditio-
nen kompilierte – was ihr im Frühjahr
dieses Jahres als „koloniale Ausbeutung“
zum Vorwurf gemacht wurde. Sie zog
ihre Platte zurück.
„Es gibt im Pop nichts Eigenes, was
nicht konstitutiv auf ein Anderes ver-
weist“, schreibt Balzer. Weswegen ein
identitätspolitischer Eingriff gegen das
Zitieren und Dekontextualisieren verken-
ne, was die Popmusik im Kern auszeich-
ne: Sie ist das ästhetische Labor sozialer
Utopie.
Dass sich die Stilmittel dieser „Hybridi-
tät“ (Balzer) wie Zitat, Kostümierung
oder Rekombination aber auch verein-
nahmen lassen, um das komplette Gegen-
teil eines sozialen Friedens zu stiften, ist
die prägende Erfahrung der vergangenen
Jahre. Rapper wie Bushido, Kollegah
und Farid Bang können ihre sexistischen,
homophoben und antisemitischen Zei-
len und Auftritte zur Pose erklären und
sich selbst zu Kunstfiguren sublimierter
Affekte, sie können sich also hinter einer
Kunstfreiheit verschanzen, die im Zwei-
fel ja alle nur schützen wollen. Wer woll-
te denn wie entscheiden, ob ein antisemi-
tischer, homophober, frauenfeindlicher
„Diss“ keine Rollenprosa ist?
Behrendt reagiert auf diese komplexe
Lage mit der kategoriellen Unterschei-
dung von „Urheber-Ich“ und „Song-Ich“
als Ausgangspunkt aller Analyse – wel-
che allerdings immer auch mit einkalku-
lieren sollte, dass Uneigentlichkeit be-
wusst zum Tabubruch eingesetzt werden
kann. Rapper wie Kritiker haben, gerade
im Fall Kollegah und Farid Bang, sich vor
allem auf die Gesetze des Battle-Raps be-
rufen, der die Eskalation widerlichster
Beschimpfungen sozusagen sportlich
sieht: Der Hass verbleibt symbolisch im
klar eingezirkelten Format, konstituiert
das Format überhaupt, reicht allerdings
auch nicht über das Format in die wirkli-
che Welt hinaus.
Balzer hat da stärkste Zweifel. Er er-
kennt in der (symbolischen) Grenzüber-
schreitung zwar die Regeln des Business
im Hiphop wieder – aber zugleich eben
auch eine Strategie gegen den politisch
korrekten Konsens einer auf Versöhnung
angelegten bürgerlichen Gesellschaft.
Und so zieht er eine Linie vom frauenver-
achtenden Straßenrap des frühen Bushi-
do zu AfD, Pegida und Identitärer Bewe-
gung von heute: „Die Aggro-Berlin-Rap-
per sowie später Kollegah und Farid
Bang sind nützliche Idioten eines neuen
reaktionären Mainstreams“, schreibt Bal-
zer: „So bildet der Gangsta-Rap in den
nuller Jahren gewissermaßen ein Ghetto
und ein Laboratorium der politischen In-
korrektheit von rechts; er bietet einen
klar umgrenzten Freiraum, indem reak-
tionäre Fantasien, Haltungen und Voka-
bulare ausprobiert werden können.“
Und so wie sich die Vertreter der Neu-
en Rechten zum Opfer von „Lügenpres-
se“ und linksgrün-versiffter Propaganda
stilisieren, wenn sie bei der Verbreitung
revisionistischer Ungeheuerlichkeiten

(Gaulands „Vogelschiss“, Höckes „Denk-
mal der Schande“) gestellt werden, so er-
klären sich Bushido, Kollegah und Farid
Bang, aber eben auch die Aktivisten der
anti-israelischen Boykottorganisation
BDS ständig zu Opfern: von Missver-
ständnissen, bösen Unterstellungen, Pro-
paganda. Alles nicht so gemeint, alles
falsch verstanden, aber dann doch wie-
der nachgelegt: „Dieser Zweischritt aus
Aggression und Viktimisierung ähnelt
ohne Frage den Strategien der deutschen
Rechtspopulisten“, so Balzer. Auf jeden
Übertritt, welcher die Grenzen des Sag-
baren und des Anstands weiter dehnt,
folgt der Rückzug in die Defensive – und
daraufhin schnell der nächste, noch grö-
ßere Schritt über die Grenzen hinweg. So
wird der Diskurs verlagert, so wird Poli-
tik gemacht.
Was hilft? Hinzuschauen. Vorbereitet
zu sein. Und sich auch für solche Genres
zu interessieren, die jenseits eigener Ge-
schmacksgrenzen liegen. Was in der Pop-
kritik – einer ganz eigenen Hölle der Di-
stinktionsbedürfnisse – nicht allen liegt.
Michael Behrendt denkt am Ende seines
Kompendiums über einen „Wächterpreis
der Musikpresse“ nach: „Was, wenn auch
die Musikpresse jenseits von ,Spex‘ & Co
häufiger als bisher nicht nur über die tol-
lsten, coolsten, spektakulärsten Bands
und Interpreten berichten würde, son-
dern auch über grenzwertige Künstler,
antidemokratische Subkulturen, proble-
matische kulturelle Strömungen?“ Und
auch Balzer fordert: „Die Popkritik muss
wach sein.“ Er stellt das zugleich selbst
unter Beweis, indem er in seinem Buch
nicht nur den kalkulierten oder ideologi-
schen Tabubruch in der Popmusik abhan-
delt, sondern auch zeigt, wie sensibel
und komplex sie dazu imstande ist, eine
ambivalente Form für sexuelle und ethni-
sche Selbstbestimmung zu finden.
Also trtfft in Balzers Buch der Holz-
vor-der-Hütten-Sänger Gabalier, der laut-
stark die „Genderverseuchung“ beklagt,
auf genderfluide Genies wie Planningto-
rock oder die Sängerin Anohni, die trans
ist und deren Werke sich aus permanen-
ter Selbstbefragung und der Dekonstruk-
tion aller Zuschreibungen speisen. Bal-
zer stellt fest, dass sich die Vertreter der
Neuen Rechten zwar politisch bei den
ambivalenten Methoden der kalkulier-
ten Mehrdeutigkeit und des Tabubruchs
bedienen, wie sie für die Popmusik ty-
pisch sind: Die Szene aber bleibe trotz-
dem die „erste Popkultur ohne Popmu-
sik“, ohne Stars, ohne Soundtracks, ohne
Konzerte. Kein Woodstock auf den Zie-
genwiesen von Schnellroda: Böse Men-
schen haben offenbar immer noch keine
Lieder. TOBIAS RÜTHER

Nicht etwa die Frage nach dem ganz gro-
ßen Glück, vielmehr die nach einer mög-
lichen Zufriedenheit oder eigentlich
doch nur: nach der Erträglichkeit des Da-
seins ist es, die Anna Weidenholzer um-
treibt. Dafür schaut die 1984 in Linz ge-
borene Autorin auf jene vermeintlich
unspektakulären Bereiche der Gesell-
schaft, auf jene vermeintlich mittelmäßi-
gen Gestalten, die man allzu schnell
übersieht, und, wie in ihrem dritten Ro-
man „Finde einem Schwan ein Boot“,
auf Geschichten, die erst einmal gar kei-
ne zu sein scheinen.
Der erzählerische Rahmen des Ro-
mans ist ein doppelter. Zum einen ein
räumlicher: zwei Mehrfamilienhäuser, ge-
trennt durch eine Wiese mit Wäschespin-
ne, aber doch so nah beieinander, dass
man sich gegenseitig in die Wohn- und
Schlafzimmerfenster schauen kann. Da
gibt es die Nachbarin, die notorisch den
Postboten kontrolliert, oder den alleinste-
henden Alten, dessen Einsamkeit so be-
drückend ist, dass man lieber wegguckt.
Und es gibt ein Paar wie Elisabeth und Pe-
ter, kinderlos, in den Dreißigern wohl, de-
ren Beziehung weder von großen Krisen
noch von bemerkenswerten Euphorieaus-
schlägen erschüttert wird, so dass die Fra-
ge nach der Bedingungslosigkeit genauso
wie nach der Unbedingtheit dieser Zwei-
samkeit durchaus angebracht scheint.
Explizit formulieren wird sie ihn zwar
nicht, aber der Zweifel tröpfelt stetig in
Elisabeths Gedanken, während sie
nachts wach liegt, den schlafenden Peter
neben sich – die Stunden von 1.18 Uhr
bis 5.58 Uhr bilden den zeitlichen Rah-
men des Romans. In verschiedenen, mal
jüngeren, mal weiter zurückliegenden
Szenen vergegenwärtigt Elisabeth sich
das Leben mit Peter, zu dem auch die

lose Freundschaft mit Karla und Heinz,
einem Paar von gegenüber, gehört, de-
ren Beziehung ähnlich dahinplätschert.
Für zwischenzeitliche Energieaufwallun-
gen sorgen einzig Peters ambitionierte
Bergtouren – Elisabeths Abneigung da-
gegen blendet er aus – oder Heinz’
handwerkliche Betätigungen, wenn er
etwa die Schrankwand im Wohnzimmer
so zurechtzimmert, dass der Käfig des
Chinchillas darin Platz findet. Über-
haupt, dieses Chinchilla! Ähnlichkeiten
des eingepferchten Nagers mit den übri-
gen Bewohnern dürfen nicht als ausge-
schlossen gelten.
Den Auftakt des Romans bildet ein dif-
fus bleibender Traum, vielleicht hat er
Elisabeth aufwachen lassen. Was aus den
sich ineinander verwandelnden Traum-
bildern in das Bewusstsein Elisabeths
hinübergleitet, sind zwei Wörter: die
„Wüste“ und die „Würste“, die im Traum
miteinander verwechselt werden. Ein
minimaler Unterschied, ein Verhören
womöglich, ein einzelner Buchstabe
führt zu Bedeutungen, zwischen denen
Welten liegen. Eben war vom Trockenle-
gen von Wüsten die Rede, dann heißt es:
Nein, nicht Wüste. Um Würste sei es
doch gegangen, die man habe herstellen
wollen. Auf unspektakuläre Weise lustig
mutet die Nähe ebenso wie die Verwechs-
lung an.

Was hat es auf sich mit dem Missver-
ständnis? Nicht nur mit demjenigen zwi-
schen Wüsten und Würsten, sondern mit
dem Missverständnis, dem Einander-
Missverstehen als solchem? Bei Weiden-
holzer könnte es Fluch genauso wie Se-
gen jedes Miteinanders sein. Allen vor-
an der Liebe, versteht sich. Kann sie viel-
leicht nur funktionieren, wenn man sich
gegenseitig falsch versteht? Der Titel
des Romans spielt eben darauf an: Auf
eine treu liebende Schwänin, die nicht
merkt, dass der Auserwählte kein Artge-
nosse, sondern ein Tretboot ist.
Anna Weidenholzer hat aber keines-
falls nur eine Geschichte über fragwürdi-
ge Paarbeziehungen geschrieben, son-
dern einen hochaktuellen Roman über
die unheilvollen mentalen und gesell-
schaftspolitischen Verschiebungen, die
dieser Tage stattfinden. Was für Öster-
reich gilt, das die in Wien lebende Wei-
denholzer vornehmlich in den Blick ge-
nommen haben dürfte, trifft gleicher-
maßen auf die Atmosphäre in Deutsch-
land zu.
Zunächst beinahe unmerklich lässt
Weidenholzer Szenen über Klimawan-
delleugner und Fremdenfeindlichkeit in
das von Elisabeth rekapitulierte Gesche-
hen einsickern, ganz so, wie das Ressen-
timent unauffällig, aber beharrlich in
die Gesellschaft sickert. Was bedeutet es
schon, wenn die ohnehin enervierende
Nachbarin, die über den Postboten
wacht, an den Mülltonnen ihre Verant-
wortung für schmelzende Polkappen ab-
streitet – sie habe schließlich noch nie
einen Eisbären getötet. Muss man sich
wirklich darüber empören, dass Heinz
mangels anderer beruflicher Perspekti-
ven bei einem Wachdienst unter-
schreibt, der für Ordnung auf den Stra-

ßen sorgen will? Was soll man über Pe-
ter denken, dessen Pedanterie und Spie-
ßigkeit genauso wie seine Leidenschaft
fürs Bergsteigen man immer schwer er-
träglich fand und der nun hin und wie-
der irritierende Bemerkungen fallen
lässt? Vielleicht will er ja nur die Nach-
barin oder den Freund vom Wachdienst
nicht brüskieren?
Weidenholzer muss nicht kommentie-
ren, sie lässt die Figuren für sich spre-
chen. Wie Besucher eines Theaterstücks


  • und ähnlich, wie in den späten Weima-


rer Jahren das Publikum durch Horváths
vom Alltag abgelauschten Bildungsjar-
gon erhellt wurde – wohnen wir einem
Geschehen bei, das wir bald nur noch
mit einiger Mühe für ein absurdes halten
können. Und plötzlich scheint selbst die
Traumszene vom Anfang auf bittere Wei-
se real, scheint die Rede von trocken-
gelegten Wüsten und vom Wurstmachen
an Erderwärmung und aus dem Ruder
gelaufene Fleischindustrie zu gemah-
nen.
Von dramaturgischer Konsequenz ist,
dass schließlich die Professorin ihren
Auftritt hat, eine Person, die bis dato in
der trostlosen Bar in der Nachbarschaft
entweder allein am Tresen saß oder über
die in Abwesenheit gemunkelt wurde.
Wie eine vergessene, ewig stumme Figur
tritt sie an die Rampe und beginnt, über
die Konformitätsexperimente von Solo-
mon Asch zu erzählen, mit denen der
polnisch-amerikanische Psychologe in
den fünfziger Jahren zeigte, wie eklatant
die Mehrheitsmeinung – so offenkundig
falsch sie sein mag – Urteile einzelner be-
einflusst.
Nach ihrer Rede zahlt die Professorin,
wie immer mit perfekt abgezählten Mün-
zen, und verlässt die Kneipe mit dem
Hinweis, dass es spät geworden sei und
man, sei der Horizont dunkel, so
schlecht sehe, was darunterliege. Ledig-
lich um einen Kommentar zu ihrem be-
vorstehenden Nachhauseweg wird es
sich dabei gewiss nicht handeln. Zu hof-
fen bleibt umso mehr, dass Anna Wei-
denholzers luzidem, eigenwilligem und
bei aller Ernsthaftigkeit auf subtile Wei-
se witzigem Roman trotz seines zurück-
genommenen, wenig auftrumpfenden
Tons die ihm gebührende Aufmerksam-
keit zuteilwird. WIEBKE POROMBKA

Ottmar Ette: „Alexander
von Humboldt und
die Globalisierung“.

Suhrkamp Verlag, Berlin



  1. 476 S., br., 14,– €.


Jens Balzer:
„Pop und Populismus“.
Über Verantwortung
in der Musik.

Edition Körber-Stiftung,
Hamburg 2019.
208 S., geb., 17,– €.

Michael Behrendt:
„Provokation!“ Songs,
die für Zündstoff sorgten.

wbg/Theiss, Darmstadt 2019.
296 S., br., 20,– €.

Anna Weidenholzer: „Finde
einem Schwan ein Boot“.
Roman.

Verlag Matthes & Seitz,
Berlin 2019.
212 S., geb., 20,– €.

Gut verschanzt hinter der Kunstfreiheit


Sinnlich


sei die


Wissenschaft


Scheitern, aber weltläufig:


Ottmar Ette preist


Alexander von Humboldt


Selbstbefragung statt kalkulierter Tabubruch: Anohni auf der Bühne Foto Mauritius


Niemand hat vor, einen Eisbären zu töten


Anna Weidenholzers „Finde einem Schwan ein Boot“ handelt von fragwürdigen Paarbeziehungen und finsteren Aussichten.


Anna Weidenholzer Foto Katsey


In der Popmusik sind


immer schon politische


und soziale Konflikte


ausgehandelt worden.


Derzeit geschieht das


aber härter denn je.


Zwei neue Bücher


ergründen, warum


das so ist.

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