Frankfurter Allgemeine Zeitung - 14.09.2019

(Elle) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton SAMSTAG, 14. SEPTEMBER 2019·NR. 214·SEITE 13


D


er beinah allwissende
Mann, der seine Augen
hinter einem Helm ver-
birgt, hat genug gesehen:
„No more!“, sagt er, also:
Nie wieder, bedrängt und
bedroht von Zeitungsseiten und Internet-
meldungen, die davon handeln, dass zu
viele sterben mussten, die so sind wie er.
Der Mann ist ein Mutant, das heißt, er ge-
hört einer neuen Spezies an,homo supe-
rior, deren Erblinie von unserem Stamm-
baum abzweigt. Aufgrund genetischer Be-
sonderheiten steht diese neue Art in ei-
nem annähernd magischen Verhältnis zur
Natur, jeweils individuell verschieden: Ei-
ner kann Magnetfelder formen, eine ande-
re das Wetter willkürlich ändern, ein wei-
terer regeneriert seinen Leib nach Verlet-
zungen schneller, als Gewebe sich sonst
erneuert.
Nicht alle Mutanten sind von menschli-
cher Gestalt; der mächtigste ist eine Insel,
ein vollentwickeltes Ökosystem namens
Krakoa, das, wo immer auf der Erde man
einen Ableger davon pflanzt, nichtlokal
mit sich selbst verbunden bleibt: Wer von
Krakoa anerkannt ist, kann einen krakoa-
nischen Blumenbogen in Jerusalem durch-
schreiten und erscheint im selben Mo-
ment an einem der vielen anderen Enden
der Vielverbundenheit, in Amerika, Euro-
pa oder auf dem Inselhauptkörper. Mutan-
ten sind mehr als wir, das macht uns
Angst, also behandeln wir sie, als wären
sie weniger als wir. Der Mann mit dem
Helm muss über uns Schreckliches wis-
sen: „Sieh, was sie getan haben, was sie
immer tun. Sieh, wie das immer endet.
Sie haben so viele von uns ermordet, dass
sich die Welt daran gewöhnt hat.“ Das
wird als Text und Bild erzählt im vierten
Heft der auf sechs Ausgaben angelegten
Comicheftserie „House of X“, die, ver-
schränkt mit der Parallelreihe „Powers of
X“ (bei der das „X“ nicht wie der Buchsta-
be ausgesprochen wird, sondern als römi-
sche Zahl: „Powers of Ten“, Zehnerpoten-
zen), im Juli des laufenden Jahres begon-
nen hat und im Oktober enden wird. Zu
Weihnachten soll ein Buch erscheinen, in
dem die gesamte Geschichte, verfasst von
Jonathan Hickman, gezeichnet von Pepe
Larraz und R. B. Silva, als bruchlose Ein-
heit präsentiert wird; es gibt aber sehr
gute Gründe, stattdessen die Hefte zu le-
sen.
Erfunden haben die Mutanten und ihre
wichtigste Untergemeinschaft, die
„X-Men“, die der Mann im Helm, Charles
Xavier, als Weltverbesserungs-Eingreif-
truppe leitet, der Autor Stan Lee und der
Zeichner Jack Kirby in den frühen sechzi-
ger Jahren für den Comicverlag Marvel.
Seinerzeit glichen die X-Men eher einer
weißen Kleinstadt-High-School-Klasse
als dem nach innen zerrissenen und von
außen bedrohten Kollektiv von Figuren,
denen man heute in Comics, Kinofilmen
und Fernsehserien wie „Legion“ und
„The Gifted“ dabei zusehen kann, wie sie
„eine Welt beschützen, die sie fürchtet
und hasst“.
In den Siebzigern und Achtzigern er-
neuerte der Comicschriftsteller Chris
Claremont die Herkunftsmuster der
X-Men. Sie wurden komplizierter, vielfäl-
tiger; jemand aus einem amerikanischen


Ureinwohner-Reservat kam hinzu, eine
Afrikanerin, ein in der Sowjetunion sozia-
listisch erzogener Russe, eine junge Jüdin
aus dem aufstiegswilligen städtisch-ameri-
kanischen Kleinbürgertum, ein Homose-
xueller, eine Menschmaschine und so
fort.
Vieles davon liest sich im Rückblick,
als hätte Claremont vorausgeahnt, wie in
unseren Tagen der Begriff „Identität“
gegen seinen alten bürgerlichen Sinn ge-
dreht werden würde. Der bestand ja dar-
in, dass man die Staatsbürgerin oder den
Staatsbürger für politische und rechtliche
Zwecke „identifizieren“, also seine oder
ihre „Identität feststellen“ konnte, weil
man dem Individuum unverwechselbare,
unteilbare Attribute zuschrieb und sie an
ihm ablas: Fingerabdrücke, eine persön-
liche Biographie. „Identität“ war somit
das, was von allen anderen trennte. Heute
aber soll „Identität“ mal offensiv, mal in
Notwehr, von rechten „Identitären“ bis zu
linken Gemeinschaften mit „identity poli-
tics“, alles das sein, was mich gewissen an-
deren in meinem Stamm, meinemTribe
angleicht und „uns“ vom Rest der Mensch-
heit scheidet. Den Widerspruch aus bür-
gerlicher These und tribalistischer Anti-
these hat Claremont in seinen X-Men-Co-
mics zu einer seltsamen Synthese geführt,
indem er sich seine „mutants“ als eine
Gruppe dachte, die von allen anderen
Gruppen vor allem darin verschieden ist,
dass die Unterschiede zwischen den ihr
Zugehörigen mindestens so groß sind wie
zwischen der Gesamtgruppe und allen an-
deren Gruppen.
Politisch spaltet sich diese Gemein-
schaft in verschiedene Strömungen. Die
erste betreibt Separatismus, Absetzung
von der Menschheit (dafür steht Erik
Lehnsherr alias Magneto). Die zweite
zielt auf einen Universalismus, der die Ge-
meinsamkeiten zwischen Menschen und
Mutanten sozial organisieren will (dafür
steht Charles Xavier alias Professor X).
Die dritte verfolgt ein Vorherrschafts-
streben mit teils terroristischen Mitteln
(dafür steht En Sabah Nur alias Apoca-
lypse, teilweise auch wieder Magneto).
Alle drei nun – das ist die gegenüber
der bisherigen X-Men-Geschichte neue
Ausgangslage für „House of X“ und
„Powers of X“ – sind gescheitert, aus
soziologischen, biologischen, auch techni-
schen Gründen. Das erklärt in den beiden
neuen Serien eine Figur namens Moira X,
die in älteren X-Men-Comics als Moira
MacTaggert eine wesentlich bescheidene-
re Rolle spielt (sie ist Molekularbiologin).
Ihr Plan, der alles ändern soll, läuft auf
eine Neubestimmung des Begriffs der
„Schicksalsgemeinschaft“ hinaus, die
auch mit der Frage zu tun hat, was die po-
litische Rechte eigentlich meint, wenn sie
„unsere Rasse bewahren“ will – und die
Linke, wenn sie „unsere Kinder“ vor den
Folgeschäden unserer falschen Lebens-
weise schützen will.
Diesem Thema gemäß entfaltet sich
die Handlung der Doppelserie über gro-
ße, gar kosmische Distanzen, und über
tausend Jahre erzählter Zeit. Eine politi-
sche Verhandlung mit Chinesen und Ame-
rikanern in unserer Zeit, eine Hetzjagd
auf Unterdrückte durch Maschinen in hun-
dert Jahren, ein Gespräch eines irdischen

Botschafters mit einer interstellaren Su-
perintelligenz in einem Jahrtausend: Äu-
ßerst abwechslungsreiche Szenarien, die
hier wie Teile eines Uhrwerks ineinander-
greifen, verschaffen R. B. Silva und Pepe
Larraz Gelegenheit, grandiose Räume, Fi-
guren und Schlachtengemälde zu erschaf-
fen. Deren Pracht steht in faszinierendem
Spannungsverhältnis zu den Infodia-
grammen, typographischen Experimen-
ten (Krakoa hat eine eigene Schrift) und
sonstigen digitalen Neuerungen, mit de-
nen dieser Comic sich den Sehgewohnhei-
ten des elektronisch vernetzten Gegen-
wartspublikums stellt.
Das Internet generiert ja fortlaufend
neue Proportionen zwischen Foto, Illus-
tration, Bewegtbild, Ton und Text. Der
Umgang vieler Menschen damit ist der-
zeit bis zur Verwahrlosung autodidak-
tisch; nicht nur die Rechtschreibung lei-
det darunter, sondern auch das durch
Druck auf Papier vorgeformte Verhältnis
zwischen Evidenzmedialem (Bilder,
Klang) und Argumentförmigem (Spra-
che, Sätze). Das Comicheft kann mit sei-
ner zweifachen Serialität (Mikro: Bild
und Text zu Bild und Text; Makro: Heft zu
Heft zu Album zu Buch) den Verfall von
Lese- und Betrachtekompetenzen zumin-
dest stören. Es zwingt nämlich dazu, den
eigenen Blick, das eigene Schauen, Le-
sen, Blättern zu erkennen und zu steuern,
Rhythmen zu etablieren, Verstand im Ver-
stehen zu üben. Auf reinen Effektfeldern
wie „Suggestion“ und „Überwältigung“
bleibt es allerdings hoffnungslos hinter
dem Kino zurück, das die Vorstellungen
davon, welche Geschichten man im Super-
helden-Genre erzählen kann, durch
flächendeckendes Filmbombardement
einem weltweit kommerziell hypererfolg-
reichen Verwertungsregime unterworfen
hat. Disney, der Konzern, dem die Film-
rechte an fast allem gehören, was in Mar-
vel-Comics je Bild und Wort war, wird die-
ses Jahr voraussichtlich als erstes Unter-
nehmen der Branche die Kassenerfolgs-
marke von zehn Milliarden Dollar errei-
chen. Mit der Streamingplattform Dis-
ney+ kann dieselbe Firma wohl bald auch
im Internet die Konkurrenz nötigen, sich
an seine Stil- und Inhaltsvorgaben anzu-
passen oder unterzugehen.
Anpassung oder Untergang: Das sind
Kategorien wie aus „House of X“ und
„Powers of X“ – oder aus dem Erwerbs-
leben der meisten Menschen: Robotik ent-
wertet gerade Körperkraft, Informations-
technik sortiert die langweiligeren Spiel-
arten menschlicher Hirnarbeit aus der
Produktion (Kopfrechnen, Listen verwal-
ten.. .). Gibt es etwas, könnten sich die
davon Abgehängten fragen, das mit dem
Berufsleben das anstellt, was Claremont
mit den Identitäten der X-Men getan hat:
so viele verschiedene Tätigkeitsprofile
wie Individuen, jede und jeder eine eige-
ne Gattung? Wenn das nicht gedacht und
gewagt wird, weil es nicht zu unserer Wirt-
schaftsweise passt, könnten wir womög-
lich in Stammes- und sonstige Verteilungs-
kämpfe zurücksinken, neben denen die
Kriege in den Comics Kinderei wären.
Das sollten alle Individuen und Kollekti-
ve verhindern, die genug von der Ge-
schichte wissen, um zu beschließen: nie
wieder. DIETMAR DATH

Die ferne Zukunft liegt im Dunkeln, spricht nicht mehr unsere Sprache und wird von
Leuten erlebt und gestaltet, die wir vielleicht nicht einmal mehr als Menschen erken-
nen würden: Szene aus „Powers of X“ Foto Marvel Comics

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