Frankfurter Allgemeine Zeitung - 14.09.2019

(Elle) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Wirtschaft SAMSTAG, 14. SEPTEMBER 2019·NR. 214·SEITE 19


Wer auf Besuch im Nachbarland


ist, reibt sich die Augen – nun auch


einige Eidgenossen.Seite 20


Kommende Woche findet die


Debatte über den Haushalt statt.


Wie geht es der Wirtschaft?Seite 22


Der Zulieferer soll Autoteile ohne


Prüfungausgeliefert haben,


behauptet ein Ingenieur.Seite 28


Warum ist die Schweiz so teuer? Goldene Jahre der Niederlande Betrugsvorwürfe gegen Bosch


D


ieHoffnung, dass ein demokrati-
scher Präsident Donald Trumps
protektionistische Wirtschaftspolitik
zurückdrehen würde, erstirbt mit jeder
Fernsehdebatte. Beim alten Freihan-
delsgegner Bernie Sanders wundert
man sich nicht. Er wird nun links über-
holt von der in der Gunst der Wähler
aufsteigenden Elizabeth Warren. Sie
verlangt von allen Handelspartnern
Umweltauflagen, Sozialstandards und
Löhne auf amerikanischem Niveau.
Zu Verhandlungen über Freihandelsab-
kommen will sie Gewerkschafter und
Aktivisten hinzuziehen. Wer da noch
neue Freihandelsabkommen erwartet,
ist naiv. Der in Umfragen führende Joe
Biden bleibt gewohnt unscharf, lässt
aber den Willen erkennen, sich nach
politischen Winden zu richten. Die De-
mokraten kritisieren zwar Trumps
Handelspolitik. Doch die Kritik richtet
sich nicht gegen sein Ziel, Amerika vor
Konkurrenz zu schützen. Sie wendet
sich gegen das erratische Vorgehen,
das Bündnispartner verprellt, statt sie
für einen Kampf gegen China zu gewin-
nen. Keiner der Bewerber für die Präsi-
dentschaftskandidatur hat die TV-De-
batte genutzt, eine Abschaffung der
Zölle zu versprechen. Trump und die
Demokraten bilden beim Handel lei-
der eine große Koalition.

D


as Klimakabinett der Bundesre-
gierung will nächste Woche zwei
Entscheidungen treffen, deren Folgen
das Land sehr lange prägen werden.
Zum einen wird die Koalition sich
wohl darauf einigen, den Ausstoß kli-
maschädlicher Gase wie Kohlendi-
oxid mit einem Preis zu versehen. Der
funktioniert nach einem einfachen
und gerechten Grundsatz: Wer viel
emittiert, muss viel bezahlen. Allein
das schon wäre ein großer Fortschritt.
Doch hängt die Tragweite des Sys-
temwechsels davon ab, wie der neue
CO 2 -Preis konstruiert wird. Es konkur-
rieren zwei Modelle: Beide wollen das-
selbe erreichen, setzen aber sehr unter-
schiedlich an. Im Fall von Steuern und
Abgaben legt der Staat den Preis der
Emissionen fest. Dahinter steht die
Hoffnung, dass Verbraucher auf höhe-
re Kosten mit weniger Nachfrage nach
Öl und Gas reagieren und so die Emis-
sionen um das erwartete Maß sinken.
Jedoch weiß keiner, ob die Verbrau-
cher sich danach richten und weniger
heizen oder mit dem Auto fahren.
Auch ist es vermessen zu glauben, Be-
amte könnten den zur Minderung
„richtigen“ CO 2 - Preis festlegen.
Das andere Modell, der Handel,
setzt direkt an der Menge der noch zu-
lässigen Emissionen an. Indem die Re-
gierung dafür jedes Jahr begrenzte
Nutzungsrechte verkauft, steuert sie
die Menge. Der Preis dafür ergibt sich
durch Nachfrage und Angebot. Wer
schnell in saubere Technologien inves-
tiert und weniger emittiert, muss weni-
ger Zertifikate teuer einkaufen.
Die Entscheidung über das „richti-
ge“ System ist nicht trivial. Deshalb
scheuen die meisten Ökonomen eine
Empfehlung. In der Politik greifen be-
kannte Muster: Parteien, die dem
Staat mehr Gestaltungsmacht zubilli-
gen, SPD, Grüne, Linke, sind für eine
Steuer oder Abgabe auf CO 2 -Emissio-
nen. Andere wie CDU/CSU und FDP
neigen eher dem marktbasierten Sys-
tem des Emissionshandels zu.
Der Blick ins Ausland hilft nicht
viel weiter. In Ländern wie China,
Amerika oder Kanada werden Han-
delssysteme getestet, andere wie die
Schweiz, Norwegen, Japan oder Chile
arbeiten mit Steuern oder Abgaben.
EU-Nachbarn nutzen Mischmodelle,
auch zur Ergänzung des europäischen
Systems des Emissionshandels.
Das deckt 45 Prozent der EU-wei-
ten CO 2 -Emissionen ab. Das sind vor
allem die der Energiewirtschaft und
Industrie. Es fehlen jene 55 Prozent
der Emissionen, die im Verkehr, in Ge-
bäuden und der Landwirtschaft anfal-
len. Für die hat die EU genaue Minde-
rungsziele vorgegeben, nur ist es den
Ländern überlassen, wie sie die erfül-
len. Wenn sie, wie in Deutschland ab-
sehbar, die Ziele verfehlen, wird es
teuer. Schon plant die Regierung für
einen Milliardenbetrag überschüssige
Emissionsrechte anderer Staaten auf-
zukaufen, weil sie die Ziele 2020 ver-
fehlt. Auch deshalb drängt die Zeit,

nicht nur wegen rechtsverbindlicher
internationaler Klimaschutzverträge.
Das Beste wäre deshalb, den Emissi-
onshandel auf die unregulierten Berei-
che auszudehnen. Das wäre auch sinn-
voll, denn nationale Alleingänge hel-
fen wenig beim Schutz des Weltkli-
mas. Doch braucht schon eine europa-
weite Einigung viel Zeit. Die fehlt.
Das spricht vor der Hand für eine
Steuer- oder Abgabenlösung. Doch
Vorsicht mitquick and dirty. Der ein-
mal beschrittene Weg wäre wohl
kaum umzukehren, die spätere Über-
tragung auf ein EU-weites Handelssys-
tem fraglich. Niemand kann bei einer
Steuer garantieren, dass das Geld

nicht für andere Zwecke verwandt
wird. Wie schwer es ist, eine einmal
eingeführte Steuer abzuschaffen,
zeigt das Gezerre um den Solidaritäts-
zuschlag. Neben ordnungspolitischen
Erwägungen stellt sich die Frage nach
der passgenauen Steuerung. Da der
CO 2 -Aufschlag Energieträger verteu-
ern soll, müsste er je nach dem Markt-
preis von Öl oder Gas steigen oder sin-
ken – der Staat müsste ständig bei den
Verbraucherpreisen nachsteuern.
Das berührt die drittwichtigste Fra-
ge im Zusammenhang mit dem
CO 2 -Preis: Was geschieht mit den Mil-
liarden, die die öffentliche Hand
durch Steuern und Abgaben oder
durch das Verkaufen der Emissions-
rechte kassiert? Alle Parteien wollen
die Gelder an die zahlenden Verbrau-
cher und Betriebe rückerstatten. SPD
und Grüne haben in Aussicht gestellt,
eine „Klimadividende“ in bar an je-
den Bürger zurückzuzahlen. Davon
sollten sie allein wegen der Bürokra-
tie die Finger lassen. Notwendig wäre
es, die Stromkosten zu mindern, die
leidige und klimapolitisch verfehlte
Ökostromumlage zu senken oder ganz
umzufinanzieren. Es ist widersinnig,
weitgehend CO 2 -frei erzeugten Öko-
strom durch Umlagen zu verteuern
und im Wettbewerb mit den CO 2 -Trä-
gern Öl und Gas schlechter zu stellen.
Die Versuchung wird groß sein, aus
den Einnahmen allerlei zweitrangige
Wohltaten wie Abwrackprämien für
Ölheizungen, Mehrwertsteuerreduzie-
rung auf Bahntickets und Mieterstrom-
projekte zu finanzieren oder Zuschlä-
ge auf Billigflugtickets zu erheben.
Die Parteien sollten besser auf Sym-
bolpolitik verzichten und sich auf den
Aufbau eines konsistenten, nachhaltig
klimafreundlichen Steuerungssystems
konzentrieren. Das Modell liegt auf
dem Tisch: Ein nationaler Emissions-
handel für Gebäude und Verkehr, der
möglichst spätestens ab 2030 europa-
weit ausgedehnt wird.

N


ach drei Tagen Haushaltsdebatte
musste man glauben, die große
Koalition richte alle Kraft auf Investi-
tionen in die „Menschheitsherausfor-
derung Klimaschutz“ (Merkel) und die
digitale Zukunft. Am Freitag, als die öf-
fentliche Aufmerksamkeit erlahmt
war, sah man sich eines Besseren be-
lehrt, denn da stand endlich der größte
Batzen Geld auf der Tagesordnung:
der Rentenzuschuss, der 2020 erstmals
locker die 100-Milliarden-Euro-Marke
überspringt. Zum Aufwachsen des Ren-
tenpostens haben Union und SPD
durch üppige Rentenpakete einiges bei-
getragen, dabei werden die zusätzli-
chen Leistungen für Mütter, Vorruhe-
stand und mehr hauptsächlich aus den
Beiträgen der Rentenversicherung fi-
nanziert. Der Haushaltsansatz aber
dürfte noch weiter steigen, sobald die
große Koalition ihren Kompromiss zur
Grundrente gefunden hat, die viele Be-
zieher kleiner Renten besserstellen
soll. „Selbstverständlich“ werde der Zu-
schuss weiter steigen, schließlich „ge-
ben wir Sicherheit“, verteidigte SPD-
Staatssekretärin Hagedorn als Vertre-
terin des Finanzministers diese Politik.
Solange sich gegen solch vermeintli-
che Selbstverständlichkeit kaum Wi-
derspruch regt, muss man um die Zu-
kunft des Landes fürchten.

FRANKFURT,13. September. Die deut-
sche Automobilindustrie muss aufpassen,
dass sie sich nicht völlig auseinanderdivi-
diert. Nach dem überraschenden Rück-
tritt ihres Verbandspräsidenten am Don-
nerstag herrscht eine Mischung aus Ent-
setzen, Schuldzuweisungen und dem Ver-
such, nach vorne zu blicken. Bernhard
Mattes hatte seinen Rücktritt vom Vorsitz
des Verbandes der Automobilindustrie
(VDA) zum Jahresende ohne Angaben
von Gründen verkündet. Mittlerweile ver-
dichten sich die Hinweise, dass er einen
Vertrauensverlust und Loyalitätsbruch
verspürt hat und diesen nicht hinnehmen
wollte. Nach Informationen der F.A.Z.
hat sich ein namhafter Headhunter auf
die Suche nach einem Nachfolger für Mat-
tes gemacht, ohne dass dieser davon wuss-
te. Als Mattes dies erfahren habe, habe er
die Konsequenz gezogen. Mit seiner Moti-
vation habe das nichts zu tun, er sei auch
nicht entnervt, heißt es aus Kreisen der
Mitglieder. Er werde seine Termine wei-
terhin bis Jahresende wahrnehmen.
Wer sein Nachfolger werden soll, ist of-
fen, die Suche hat natürlich schon begon-
nen. Das Amt ist stark politisch ausgerich-
tet, man muss aber auch die Belange der
Unternehmen durchdringen. Als Soll-
bruchstelle im Verband gilt das Verhält-
nis von Zulieferern und Herstellern.
Schon gibt es Stimmen, die vor einem
Auseinanderfallen des Verbands warnen,
auch, weil die Konzerne den Lobbyismus
in Berlin und Brüssel immer stärker di-
rekt an sich ziehen.
Vorstand und Präsidium des VDA wur-
den am Mittwoch von Mattes in Kenntnis
gesetzt, allein schon, da sich nahezu alle
relevanten Personen in Frankfurt befan-
den. Sowohl von den Mitgliedern des Vor-
stands als auch von denen des Präsidiums
wird jede Beteiligung an der Intrige zu-
rückgewiesen. Es wird aber auch nicht be-
stritten, dass es den Auftrag gab. Gerüch-
ten zufolge führt die Spur zu Volkswagen,
wo der Vorstandsvorsitzende Herbert
Diess und Cheflobbyist Thomas Steg als
Kritiker von Mattes gelten. Wolfsburg
weist den Verdacht entschieden zurück.


Im Verband rumort es seit Monaten. Es
gibt eine Frontstellung zwischen VW auf
der einen, BMW in der Mitte und Daim-
ler, Opel und Ford auf der anderen Seite.
Im Kern geht es darum, ob alle Kraft in
batterieelektrische Fahrzeuge gelegt wer-
den oder ob die Branche nach außen hin
einen technologieoffenen Ansatz vertre-
ten soll. BMW ist darüber hinaus nachhal-
tig verstimmt, weil der Konzern in den
VW-Diesel-Skandal hineingezogen wur-
de, obwohl er nichts verbrochen hat. Mat-
tes selbst wird vorgehalten, er sei als Ver-
bandspräsident zu leise und scheue die
Konfrontation. Seine Befürworter entgeg-
nen, mit seiner sachlich-sympathischen
Art habe er nach dem Diesel-Skandal die
Beziehungen zur Politik normalisiert.
Inmitten dieser explosiven Stimmung
muss die Branche eine Antwort auf die
Frage finden, ob es im Jahr 2021 wieder
eine Internationale Automobil-Ausstel-
lung geben soll. Und wenn ja, wo. Nach In-
formationen der F.A.Z. gibt es zwischen
dem veranstaltenden Verband der Auto-
mobilindustrie und den Städten Frankfurt

und Berlin eine Art Reservierung. Die
Messe Köln hat sich offenbar ins Spiel ge-
bracht mit einem neuen Konzept und ver-
weist auf die erfolgreiche Entwicklung der
Messe Gamescom. Innerhalb des VDA
wird derweil an einem Konzept gearbei-
tet, welches den Wandel der Messen und
die Unlust der Hersteller an sündhaft teu-
ren Ausstellungen berücksichtigt. Dem-
nach sollen die Stände grundsätzlich klei-
ner werden, als Beispiel gelten etwa die
3000 Quadratmeter von BMW in diesem
Jahr. An deren Seite sollen „Events“ statt-
finden, also Diskussionsforen, interaktive
Attraktionen oder vielleicht auch ein Pop-
konzert. Der mit dem Automobil verbun-
dene Faktor Emotion, darüber herrscht Ei-
nigkeit, darf dabei nicht aufgegeben wer-
den.
Wie es heißt, sollen die Standortalterna-
tiven bis Jahresende geprüft werden. Inso-
fern kommt für die Stadt Frankfurt der
Streit mit deren Oberbürgermeister Peter
Feldmann zur Unzeit. Der VDA hatte ihn
nicht als Redner zur Eröffnung der IAA vor-
gesehen. Dort sprachen Mattes, der hessi-

sche Ministerpräsident Volker Bouffier,
der amerikanische Chef von Waymo und
Bundeskanzlerin Angela Merkel. Vier sei-
en genug, hieß es. Vor zwei Jahren durfte
Feldmann freilich noch sprechen. Feld-
mann vermutet, er sei wegen seiner kriti-
schen Haltung zum Auto ausgeladen wor-
den. Im VDA heißt es indes, man habe wo-
chenlang versucht, mit dem Büro des Frank-
furter Oberbürgermeisters Kontakt aufzu-
nehmen, und keine Antwort erhalten. Man
habe schlicht den Ablauf straffen wollen
und Feldmann eine Rede an anderer Stelle
angeboten, etwa während des Empfangs
des VDA-Präsidenten am Mittwochabend.
Mit Berlin als Standort hatte der VDA
schon vor Jahren geliebäugelt, doch hat
die Hauptstadt Gegner in den Gremien,
weil sie als besonders autofeindlich und
schlecht organisiert gilt. Die Entschei-
dung soll Anfang kommenden Jahres fal-
len. Dann allerdings wird der neue VDA-
Präsident im Amt sein. Und wer weiß,
was dann gilt.(Machtspiele im obersten
Autolobbyverband, Seite 28; Rhein-
Main-Zeitung, Seite 37.)

dc./mas.BERLIN, 13. September. Die
Bundesregierung wird im kommenden
Jahr erstmals mehr als 100 Milliarden
Euro aus Steuern an die gesetzliche Ren-
tenversicherung überweisen. Im Entwurf
für den Arbeits- und Sozialetat 2020, den
Sozialminister Hubertus Heil (SPD) am
Freitag im Bundestag vorstellte, summie-
ren sich die Zuschüsse und Zuweisungen
aus dem Bundeshaushalt auf 101,8 Milli-
arden Euro. Das sind 3,7 Milliarden Euro
mehr als in diesem Jahr.
Gleichzeitig steigen die Überweisungen
an die Rentenkasse damit stärker als der
Bundeshaushalt insgesamt, denn dessen
Ausgabenvolumen wächst dem Entwurf
zufolge um 3,4 Milliarden auf 359,8 Milli-
arden Euro. Neben geringeren Ausgaben
für Inneres, Bau und Heimat sowie für Bil-
dung und Forschung tragen vor allem die
nochmals sinkenden Zinsausgaben dazu
bei, den Ausgabenanstieg im Sozialetat zu
finanzieren. Die Ausgaben für die Bundes-


schuld hatten sich gegenüber dem Höchst-
stand von 2008 schon auf weniger als 20
Milliarden Euro halbiert. Zum Vergleich:
Diese Entlastung entspricht den gesamten
Soli-Einnahmen. Für nächstes Jahr sind
noch Zinsausgaben von 16,6 Milliarden
Euro eingeplant – tatsächlich aber werden
es noch deutlich weniger sein. Denn wie
aus Auflistungen des Finanzministeriums
abgeleitet werden kann, dürften die Zins-
ausgaben schon dieses Jahr bei nur 13 Mil-
liarden Euro liegen, bei sinkender Ten-
denz. Nur in Monaten, in denen Zahlun-
gen für ältere, höher verzinsliche Papiere
anstehen, zahlt der Bund noch Zinsen, in
anderen kassiert er Geld für die Schulden.
Der gesamte Etat des Arbeits- und Sozi-
alministeriums wächst dem Entwurf zu-
folge um 3,3 Milliarden auf 148,6 Milliar-
den Euro. Das entspricht einem Anteil
von knapp 41 Prozent am Bundeshaus-
halt. Dem neuen Finanzplan für die kom-
menden Jahre zufolge wird dieser Anteil

bis 2023 auf 44 Prozent steigen. Der An-
teil sämtlicher Sozialausgaben am Bun-
deshaushalt, einschließlich Gesundheits-
versorgung und Familienleistungen, soll
von 51,1 Prozent im Jahr 2020 auf rund
53 Prozent im Jahr 2023 steigen.
Die Planung enthält allerdings noch
nicht die Grundrente für langjährig be-
schäftigte Geringverdiener, die in der Re-
gierungskoalition derzeit noch umstritten
ist und die 2021 kommen soll. Im zugehöri-
gen Gesetzentwurf von Sozialminister
Heil, der eine Aufstockung gesetzlicher
Renten ohne vorgeschaltete Bedürftig-
keitsprüfung vorsieht, ist dafür ein Betrag
angesetzt, der schrittweise auf knapp 5
Milliarden Euro je Jahr steigen soll. Da
Steuerfinanzierung vereinbart ist, würde
das die Zuweisungen aus dem Bundesetat
an die Rentenkasse zusätzlich erhöhen.
Heil deutete am Freitag einerseits eine
Bereitschaft an, im Koalitionsstreit über
die Bedürftigkeitsprüfung nach Kompro-

missen zu suchen. „Ich bin gerne bereit,
dass wir über die Zielgenauigkeit meines
Vorschlags reden und das miteinander
klären“, sagte er. Zugleich zog er aber
eine harte Grenze. „Die Rente ist keine
Fürsorgeleistung“, sagte er. Eine Bedürf-
tigkeitsprüfung nach Art der Grundsiche-
rung im Alter könne es daher für die neue
Grundrente nicht geben. Im Koalitions-
vertrag hatten Union und SPD verein-
bart: „Voraussetzung für den Bezug der
Grundrente ist eine Bedürftigkeitsprü-
fung entsprechend der Grundsicherung.“
Vor allem die CSU stellte am Freitag
heraus, dass sie diese Vereinbarung wei-
terhin im Auge hat. Es müsse „in der
Grundsicherung einen Unterschied ma-
chen“, ob jemand lange Beitragszeiten
vorzuweisen habe oder nicht, sagte CSU-
Sozialexperte Stephan Stracke. Statt Geld
„mit der Gießkanne“ zu verteilen, müss-
ten sich die Zuschläge der Grundrente
„am tatsächlichen Bedarf orientieren“.

Rundgang vor dem Abgang:Bernhard Mattes an der Seite von Bundeskanzlerin Angela Merkel auf der IAA Foto EPA


Besser als Steuern und
Abgaben auf CO 2 wäre
zunächst ein nationaler
Emissionshandel.

Rentenkasse bekommt so viel Steuergeld wie nie


Sozialausgaben wachsen stärker als der Gesamthaushalt / Heil zeigt sich gesprächsbereit in Sachen Grundrente


Wo sind die Freihändler?


Von Winand von Petersdorff


Nächste IAA soll nach Frankfurt oder Berlin


Das Klimakabinett und die Systemfrage


Von Andreas Mihm


tko.FRANKFURT, 13. September.Die
letzte Sitzreihe ist unter Flugreisenden oft
unbeliebt, dahinter sind Toiletten, Flugbe-
gleiter klappern in der Bordküche, das
Aussteigen durch die Tür vorn dauert von
dort am längsten. In den A320neo-Flug-
zeugen der Deutschen Lufthansa muss
nun vorerst kein Kunde mehr in der letz-
ten Reihe sitzen – es darf sogar keiner
mehr dorthin. Aus Sicherheitsgründen
bleibt Reihe 32 leer. Nur zwei Flugbeglei-
ter dürfen Platz nehmen statt auf Sonder-
sitzen noch weiter im Heck. Der Grund:
Wenn zu viele Personen hinten sitzen,
könnte das Flugzeug unter sehr speziellen
Umständen am Heck zu schwer sein.
Die europäische Luftfahrtbehörde
EASA hat Ende Juli einen Sicherheitshin-
weis, Lufttüchtigkeitsanweisung genannt,
veröffentlicht und Fluggesellschaften an-
gewiesen, binnen 30 Tagen Vorkehrungen
zu treffen. In dem EASA-Dokument heißt
es für Laien eher kryptisch, dass Tests mit


dem A320neo eine geringere Leistungsfä-
higkeit des Schutzes gegen einen zu hohen
Anstellwinkel des Flugzeugs gezeigt hät-
ten – aber nur bei bestimmten Einrichtun-
gen der Flugzeugkabine und wenn seltene
Manöver geflogen werden. Dazu wird ein
forsches Durchstarten nach einem abge-
brochenen Landevorgang gezählt.
Einerseits weist die EASA darauf hin,
dass es im realen Flugbetrieb noch nie zu
dem beschriebenen Problem gekommen
sei, andererseits hat die Behörde auf Er-
kenntnisse aus Simulatortests mit der An-
weisung reagiert, die bei Lufthansa zum
Sperren der letzten Reihe führt. „Als Ge-
genmaßnahme wird es nun eine Ein-
schränkung der hinteren Schwerpunkt-
grenze geben, je nach Gewicht um bis zu 4
Prozent. Als Ad-hoc-Maßnahme wird die
Lufthansa die letzte Sitzreihe der
A320neo künftig blocken“, sagte ein Spre-
cher. Er sprach von einer „unschönen Ein-
schränkung“. Für jeden A320neo-Flug

können sechs Tickets und somit 3 Prozent
der Kapazität weniger verkauft werden.
Der Konzern hat 20 Exemplare des Typs
in der Flotte, weitere 64 sind bestellt.
Alle Beteiligten sind derweil bemüht,
das Problem nicht zu große Wellen schla-
gen zu lassen. Denn der Begriff Anstell-
winkel, der angibt, wie stark sich ein Flug-
zeug gegen anströmende Luft aufrichtet,
spielt auch in den Diskussionen um die
Boeing 737 Max eine Rolle. Allerdings ist
der Sachverhalt ein anderer. Es geht nicht
darum, dass aufgrund falscher Sensorda-
ten möglicherweise die Flugnase nach un-
ten gedrückt wird. Sie könnte sich hier in
seltenen Fällen heben. Von Lufthansa
heißt es, in Simulationen des Durchstart-
manövers bei Airbus sei bei spezifischer
Beladung, niedriger Höhe und bestimm-
ten Flugmodi beobachtet worden, dass ein
intensiver Steuerbefehl ein „betontes An-
steigen der Flugzeuglängsachse“ hervorru-
fen könne. Laut EASA könne das aber

bloß zu einer „höheren Arbeitsbelastung
der Flugbesatzung führen“.
Die Gewichtsverteilung in Flugzeugen
ist in der Konstruktion und im Betrieb re-
gelmäßig Thema. So gab es schon Vorga-
ben, damit ein erst halb beladener Flieger
nicht am Boden aus dem Gleichgewicht ge-
raten kann. Nun soll der 2014 erstmals ge-
startete A320neo für alle Eventualitäten
gerüstet werden. Ältere A320 sind nicht
betroffen. Das Fachmagazin „Aviation
Week“ zitierte einen Airbus-Sprecher,
man arbeite mit Airlines daran, die beste
Lösung für den Betrieb zu finden. In die
neue Version hatte Lufthansa zwei Reihen
mehr einbauen lassen, um 180 statt 168
Passagiere befördern zu können. Platz
wurde auch dadurch gewonnen, dass die
hinteren Toiletten und die Bordküche wei-
ter ins Heck verschoben wurden. In Bran-
chenkreisen wird gehofft, dass ein Soft-
ware-Update für die Flugzeugsteuerung
die Beschränkung wieder unnötig macht.

Rentenhaushalt


Von Heike Göbel


Lufthansa muss letzte Reihe im A320neo leer lassen


Sicherheitshinweis der EASA: Flugzeug kann in Extremsituationen am Heck zu schwer sein


Die Autobranche zerlegt


sich. Ihr Präsident tritt


wegen Loyalitätsbruch


zurück. Und was wird


nun aus der Messe?


Von Holger Appel

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