Frankfurter Allgemeine Zeitung - 14.09.2019

(Elle) #1

SEITE 2·SAMSTAG, 14. SEPTEMBER 2019·NR. 214 F P M Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


M


itder Ordnung im Unterhaus
stand es schon nicht mehr zum
Besten, als Parlamentspräsident Ber-
cow – der Herr mit selbst für englische
Verhältnisse ziemlich erstaunlichen
Hemden – noch so fröhlich „order, or-
der!“ rief, dass politisch ahnungslose
Beobachter meinen konnten, er wolle
im Pub zwei Bier bestellen. Weil nun
aber auch dieser Lotse von Bord geht,
droht Westminster sich endgültig so
vollständig in seine Elementarteilchen
zu zerlegen, dass Guy Fawkes seine hel-
le Freude daran hätte.
Die Engländer brechen derzeit der-
maßen gründlich mit ihren Traditio-
nen und Gepflogenheiten, dass man
sich fragen muss, was vom Britischen
übrig bleibt, wenn Little Britain end-
lich die Freiheit in Armut erringt.
Zum Glück ist wenigstens noch nicht
der ortsübliche Sprachwitz über die
Themse gegangen, ohne den der sich
immer noch steigernde Irrwitz des Bre-
xits nicht einmal mehr in Worte zu fas-
sen wäre. In der dunkelsten Stunde
hilft einfach nur noch schwarzer Hu-
mor. Manche Redewendung weist so-
gar auf noch nicht bedachte Hand-
lungsoptionen hin. Gab Boris Johnson
nicht zu Protokoll, er liege lieber tot in
einem Graben („dead in a ditch“), als
in Brüssel um eine weitere Verschie-
bung des Brexits zu bitten? Dann soll-
te man ihm diesen Wunsch doch ein-
fach erfüllen.
Wer meint, das gehe zu weit, sei dar-
an erinnert, dass zuerst in Downing
Street von einem Kettensägenmassa-
ker gesprochen wurde. Die Abgeordne-
ten aller Parteien nahmen diese Dro-
hung sehr ernst, wie die Parlaments-
flucht zeigt, die von den Witzbolden in
London „Parlamentsurlaub“ genannt
wird. Den wollte immerhin ein Enkel
Churchills nicht antreten, ohne zuvor

noch seinen Parteifeind Rees-Mogg ei-
nen „absoluten Betrüger“ genannt zu
haben. Ganz konkret zieh er ihn des
Gewürz-Dopings. Er hielt diesem Bre-
xiteer-Snob vor, zu einem Mittel zu
greifen, mit dem man in England lah-
me Klepper wieder in feurige Rösser
verwandelte, jedenfalls kurzzeitig:
Man verabreichte ihnen eine Ingwer-
wurzel, allerdings nicht oral. Der deut-
sche Tierfreund entwickelt da schon
beim Lesen Phantomschmerzen. Wir
sind solch brennende Schärfe einfach
nicht gewohnt; wie auch, wir waren ja
nie Kolonialmacht in Indien.
Bei uns ist der Ingwer nicht einmal
in den Debatten über die AfD aufge-
taucht, obwohl er die Abwehrkräfte
stärken soll und auch der Name Gau-
land bei nicht wenigen Zeitgenossen
die Gäule durchgehen lässt (etwa so
wie der Name Blücher in Mel Brooks’
„Young Frankenstein“). Soll man nun
hoffen, dass wenigstens die Grünen
auf die Wunderwurzel zurückgreifen,
um ihren innerparteilichen Diskurs zu
würzen? Da kann man lange warten!
Özdemir würde über Hofreiter doch
höchstens sagen, der habe Haare wie
Schnittlauch. Denn „Der ist noch grün
hinter den Ohren!“ wäre erstens bei
den Ökos keine Beleidigung und zwei-
tens bei dieser Frisur schwer zu über-
prüfen. Und mit was würde Hofreiter
dann nach Özdemir werfen? Mit Knob-
lauchzehen? Doch allenfalls mit einem
„Wohl Tomaten auf den Augen!“. Zum
Tänzeln wie Gingerol eine Mähre
brächte solch welkes Gemäre das Publi-
kum nicht.
Leider sind die auch sprachlich pi-
kanteren Zeiten vorbei, in denen etwa
der damalige CSU-Generalsekretär Do-
brindt den Koalitionspartner FDP eine
„Gurkentruppe“ hieß. Heutzutage wür-
de er selbst die Grünen doch höchstens
„meine süßen kleinen Cornichons“
nennen. Die CSU ist unter Söder den
Grünen so nahe gerückt, dass kein Sa-
latblatt mehr zwischen beide passt.
Noch erstaunlicher finden wir, dass
der amerikanische Präsident Trump
noch nicht durch den Gemüsegarten
trampelt – bei den Unmengen von Ka-
rottensaft, die er trinken muss, um die-
se gesunde Gesichtsfarbe zu bekom-
men. Angesichts der vielen unfähigen
Berater, die er nach und nach zu entsor-
gen hat, sollte er vielleicht einmal dar-
über nachdenken, ob eine Brandro-
dung seines Kabinetts nicht die günsti-
gere Lösung wäre. Andererseits ist
Heuern und Feuern das Einzige, was
Trump wirklich zu können scheint,
und ein bisschen Spaß muss für einen
Präsidenten auch zwischen den Golf-
runden drin sein. Mit Leuten wie Bol-
ton will man aber nicht einmal einen
Krieg gegen Iran führen. Widerspricht
dieser faule Apfel dem Präsidenten
doch sogar noch nach seiner Abset-
zung! Wir rechnen daher immer noch
fest mit einem Tweet Trumps, in dem
der letzte Gruß an Bolton lautet: Gin-
ger yourself! bko.

Draghi fordert Amerika heraus
Zur jüngsten Zinsentscheidung der Europäischen Zen-
tralbank (EZB) schreibt die Zeitung „La Repubblica“
aus Rom:
„Mario Draghi bereitet seinen Abgang von der Büh-
ne mit einer Antikrisenoffensive vor, mit der er sich die
Zornesblitze Donald Trumps einfängt. Der Euro wird
schwächer und nähert sich der Parität mit dem Dollar:
eine Hilfe für die deutschen und italienischen Exporte,
eine Herausforderung für ,Made in USA‘. Das Weiße
Haus donnert gegen die eigene Federal Reserve und
wirft ihr vor, nicht so aggressiv wie die EZB zu sein. Es
könnte eher früher als später einen neuen Handels-
krieg auslösen, mit Zöllen auf deutsche Autos und italie-
nische Weine. Der Tweet des Präsidenten klingt schon
sehr bedrohlich. Das letzte Manöver Draghis ist inspi-
riert durch das in den Vereinigten Staaten selbst erfun-
dene ,Handbuch der Schocktherapie‘. Es war der dama-
lige Fed-Chef Ben Bernanke, der die große Krise be-
kämpfte, indem er die Zinsen auf null herunterbrach
und massiv Staatsanleihen kaufte, um Geld in eine dar-

niederliegende Wirtschaft zu pumpen. Heute geht es
der Eurozone schlecht, das durchschnittliche Wachs-
tum hat sich auf ein Prozent verlangsamt. Deutschland,
anstatt die Lokomotive zu machen, liegt unter dem
Durchschnitt und ist schon in einer Rezession.“

Die Medizin verkommt zum Gift
Die „Neue Zürcher Zeitung“ sieht die Entscheidung
der EZB sehr kritisch, die Zinsen noch weiter zu sen-
ken:
„Wilder Aktionismus ist meist ein Zeichen der Ohn-
macht. Das gilt besonders für die Europäische Zentral-
bank (EZB). Was die Währungsbehörde am Donners-
tag an Maßnahmen präsentierte, darf mit Fug als Aktio-
nismus bezeichnet werden. Einmal mehr fühlt man sich
beim Blick auf Europas Geldpolitik an Paracelsus erin-
nert. Der Schweizer Naturphilosoph erkannte schon im


  1. Jahrhundert, dass die Dosis entscheidet, ob ein Mit-
    tel zum Gift wird. Eine kleine Schmerztablette kann
    heilsame Wirkung haben, das Schlucken einer ganzen
    Packung aber zum Tod führen. Bei der Geldpolitik im


Euro-Raum ist es ähnlich. Deren wohltätige Wirkung
nimmt zusehends ab, je aggressiver sie eingesetzt wird;
es profitieren bald nur noch die Aktienanleger, Hausbe-
sitzer, Schuldner. Die Volkswirtschaft als Ganzes leidet
hingegen unter den Nebenfolgen. Die anfänglich heilsa-
me Medizin verkommt zum Gift.“

Zinswende am Sankt-Nimmerleins-Tag
„Die Presse“ aus Wien kommentiert die Geldpolitik
der EZB so:
„Mario Draghi hat es also wieder einmal getan. Er
hat wieder an der Zinsschraube gedreht. Das erste Mal
seit dem März 2016. Allerdings nicht so, wie das noch
vor einigen Monaten erwartet wurde. Denn es kommt
nicht zur von vielen Ökonomen seit Längerem geforder-
ten Zinswende. Im Gegenteil. Die Europäische Zentral-
bank senkt ihren Einlagenzins von minus 0,4 auf minus
0,5 Prozent. Geschäftsbanken müssen künftig also
noch mehr bezahlen, wenn sie Geld über Nacht bei der
EZB parken. Das soll die Kreditvergabe steigern, hof-
fen die Zentralbanker. Zudem will die EZB monatlich

wieder 20 Milliarden Euro in den Kauf von Anleihen
stecken. Das erst im vergangenen Dezember gestoppte
Programm wird wieder aufgenommen. Die Zinswende
ist somit auch offiziell auf den Sankt-Nimmerleins-Tag
verschoben.“

Ein schwieriges Erbe für Lagarde
Die „Süddeutsche Zeitung“ (München) überlegt, wel-
che Handlungsmöglichkeiten Draghis Nachfolgerin an
der Spitze der EZB noch hat:
„Was ist, wenn Donald Trumps Handelskrieg die
Welt wirklich in eine tiefe Rezession stürzt? Dann müss-
te man die Wirtschaft durch Zinssenkungen ankurbeln


  • das geht aber nicht, wenn die Zinsen schon bei null lie-
    gen. Christine Lagarde, die bisherige Chefin des Inter-
    nationalen Währungsfonds, tritt kein leichtes Erbe an.
    Sie muss die Geldpolitik vorsichtig normalisieren, wäh-
    rend die globale Konjunktur zu schwächeln droht. Falls
    ihr das gelingt, ist Mario Draghis Werk vollendet, den
    Euro zu retten und Europas Wirtschaft wieder in ruhi-
    ge Bahnen zu führen. Aber nur dann.“


FRAKTUR


STIMMEN DER ANDEREN


Ingwer


FRANKFURT, 13. September


D


ie SPD befindet sich gerade auf
einer Reise zu sich selbst. Seit an-
derthalb Wochen touren die Kan-
didaten für den Parteivorsitz kreuz und
quer durch Deutschland, sie besuchen
Landeshauptstädte, aber auch die Pro-
vinz. Die Hallen waren bislang immer
voll, vereinzelt muss umgebucht wer-
den, damit alle interessierten SPD-An-
hänger die sieben Duos und den Einzel-
kandidaten erleben können. Die Kandida-
ten gehen freundlich miteinander um,
stimmen einander häufig zu und nicken
aufmerksam, wenn der oder die andere
spricht. Jeder Eindruck eines gehässigen
und grausamen Umgangs, wie ihn die
Vorsitzenden Schulz und Nahles auch
von Parteifreunden erleben mussten, soll
tunlichst vermieden werden.
Aber natürlich geht es bei aller Freund-
lichkeit um einiges, unter anderem auch
darum, wer wen jenseits der Regionalkon-
ferenzen für sich gewinnen kann. Das
Team aus Saskia Esken und Norbert Wal-
ter-Borjans hat dabei nun einen Erfolg er-
rungen: Der Bundesvorstand der Jusos
hat einstimmig beschlossen, das Team zu
unterstützen. Die Verteilungsgerechtig-
keit sei die Gretchenfrage der Erneue-
rung der SPD, heißt es in einer Mittei-
lung der Jugendorganisation der Partei.
Esken und Walter-Borjans setzten sich
für einen „handlungsfähigen und am Ge-
meinwohl orientierten Staat“ ein. Das
wollten die Jusos auch. Auf den Regional-
konferenzen steht das Thema soziale Ge-
rechtigkeit im Mittelpunkt, da kann Wal-
ter-Borjans, durch dessen CD-Ankauf
mehr als sieben Milliarden Euro Steuer-
nachzahlungen an den Staat flossen,
punkten. Bei den Regionalkonferenzen
spricht er davon, dass das „Diktat der Au-
tobosse“ gebrochen werden müsse. Auch
das kommt gut an. Von Enteignungen zu
reden, wie sie der Juso-Vorsitzende Ke-
vin Kühnert ins Gespräch brachte, ist sei-
ne Sache aber nicht. Trotzdem sagte Küh-
nert nun dem Sender n-tv: „Die stehen
beide für eine glaubwürdige Politik, weil
sie nicht nur behaupten, etwas anders zu
machen, sondern jeweils schon unter Be-
weis gestellt haben, dass sie es auch unter
Druck und in der Verantwortung tatsäch-
lich tun. Das braucht die SPD jetzt.“
Walter-Borjans hat es mit seinen Steu-
er-CDs unter den Jungsozialisten zu eini-
ger Anerkennung gebracht. Zwar sind die
Jusos weit entfernt von ihrer einstigen
Schulz-Zug-Euphorie, doch trifft Walter-
Borjans mit seinen Forderungen den ju-
gendlichen Nerv – auch wenn er nächste
Woche 67 Jahre alt wird. Seine Partnerin
Saskia Esken stammt aus Baden-Würt-
temberg und ist in der Partei kaum be-
kannt;, aber die Jusos konnten sich
schnell auch an ihre Seite stellen, weil sie
gegen die Uploadfilter im Zusammen-

hang mit der europäischen Urheber-
rechtsreform gekämpft hat.
Schon vor einigen Tagen hatte sich
Juso-Chef Kühnert für das Duo ausge-
sprochen, jetzt sein ganzer Verband, dem
immerhin rund 80 000 Mitglieder (von
etwa 426 000 SPD-Mitgliedern insge-
samt) angehören. Natürlich ist das Vo-
tum der Spitze des Juso-Verbandes nicht
bindend, aber Kühnerts Einfluss ist wei-
terhin groß.
Es ist erstaunlich, dass ausgerechnet
die Jusos sich festgelegt haben. Denn
überall in der SPD wird betont, dass die
Basis diesmal über den oder die neuen
Parteivorsitzenden entscheiden werde,
kein Gremium und kein enger Führungs-
zirkel. Auch aus diesem Grund haben
sich viele Landesverbände noch nicht
festgelegt, und es ist fraglich, ob sie das
überhaupt noch tun werden. So ist es
etwa bei der nordrhein-westfälischen
SPD, dem Landesverband, aus dem Wal-
ter-Borjans stammt. Taktisch geschickt,
haben er und Esken sich erst sehr spät ins
Rennen um den Parteivorsitz eingeschal-
tet. Da blieb keine Zeit mehr, die benötig-
ten fünf Unterbezirke oder den einen Be-
zirk zur Unterstützung zu gewinnen. Des-
wegen machte Walter-Borjans es für sei-
ne Kandidatur zur Voraussetzung, vom
Landesverband unterstützt zu werden.
Das dürfte einen anderen NRW-Kandida-
ten, den Gesundheitspolitiker Karl Lau-
terbach, geärgert haben. Gleichwohl, der
Landesverband sprach sich für Walter-
Borjans/Esken aus, um dem Duo eine
Chance zu geben. Der frühere Finanzmi-
nister hatte seinen Willen bekommen.
Die Festlegung der Jusos hat auch Küh-
nert entlastet. Lange ließ er Spekulatio-
nen laufen, er werde womöglich selbst
für den Parteivorsitz kandidieren. Erst
kurz vor Ende der Bewerbungsfrist teilte
er in einem Video mit, dass er nicht antre-
ten werde, auch weil es dann auf ein Du-
ell zwischen ihm und Bundesfinanzminis-
ter Olaf Scholz hinausgelaufen wäre.
Eine nicht ganz bescheidene, aber auch
nicht ganz falsche Einschätzung.
Bei den Regionalkonferenzen sind die
Jusos stark vertreten. Sie kommen zahl-
reich und melden sich in der Zuschauer-
fragerunde oft zu Wort. Am Freitag wur-
de eine E-Mail bekannt, in der die Juso-
Spitze ihren Funktionären Tipps für Fra-
gen gibt, inklusive Formulierungsvor-
schlägen zu Themen wie Hartz IV, Klima-
wandel und Feminismus. Gegenüber der
Nachrichtenagentur AFP nannte eine
Juso-Sprecherin das ein „normales politi-
sches Vorgehen“. Auf jeden Fall lassen
die kritischenJuso-Fragen an die übri-
gen Duos das Team Walter-Borjans/Es-
ken glänzen. Etwa als im hessischen
Friedberg ein junger Mann Michael Roth
fragte, wie er ernsthaft behaupten kön-
ne, als Parteivorsitzender alles anders
machen zu wollen, wo der doch schon
seit 1998 im Bundestag sitze und seit eini-
ger Zeit Staatsminister im Auswärtigen
Amt sei. Das Team aus Roth und Christi-
na Kampmann sieht sich in der Rolle der
Jungen und Frischen. Roth antwortete
auf den Vorwurf, für den Kompromiss
beim Paragraphen 219a, der das Werbe-
verbot für Abtreibungen regelt, gestimmt
zu haben mit dem Hinweis, in einer Ko-
alition müsse man auch Kompromisse
schließen und loyal zur Fraktionsfüh-
rung stehen. Damit überzeugt er die Ju-
sos freilich nicht. Walter-Borjans sagt
stattdessen: „Wir brauchen wieder eine
SPD, die in eigenen Visionen denkt und
nicht in Kompromissen.“

BERLIN, 13. September.Am Freitag hat
die grüne Bundestagsfraktion ein Papier
zum sozial-ökologischen Wandel der Auto-
mobilindustrie veröffentlicht. Parallel zur
Internationalen Automobil-Ausstellung
war der Zeitpunkt keineswegs überra-
schend. Dass der Fraktionsvorsitzende und
der Vorsitzende des Verkehrsausschusses
die Ideen gemeinsam entwickelt haben, ist
an sich ebenfalls selbstverständlich. Doch
Anton Hofreiter und Cem Özdemir treten
am 24. September in einer Kampfabstim-
mung gegeneinander an. Es geht um den
Fraktionsvorsitz. Hofreiter und die Ko-Vor-
sitzende Katrin Göring-Eckardt galten als
konkurrenzlos, bis am vergangenen Wo-
chenende Özdemir und die Abgeordnete
Kirsten Kappert-Gonther ihre Hüte in den
Ring warfen.
Das Papier ist natürlich deutlich älter,
seit Wochen arbeiten die Autoren daran.
Dass die Veröffentlichung mitten in den
Wettbewerb fiel, kam den strategischen
Köpfen in der Partei und Fraktion trotz-
dem zupass. Viele Grüne äußern in diesen
Tagen die Hoffnung, das Verfahren möge
fair vonstattengehen, keine alten Wunden
aufreißen oder Grabenkämpfe wiederbele-
ben. In der Fraktionssitzung am Montag
gab es den eindringlichen Appell, man
möge sich mit Stimmungsmache für oder
gegen einen der Kandidaten in der Öffent-
lichkeit zurückhalten, sonst helfe man nur
dem politischen Gegner. Die Grünen wis-
sen, dass einer der wichtigsten Gründe für
ihre Erfolge in Wahlen und Umfragen in
der Geschlossenheit der Partei liegt.
Eigentlich gehört ja die Streitlust zur grü-
nen DNA. In den vergangenen zwei Jahren
war davon nicht viel zu merken. Inhaltli-
che Differenzen wurden intern gelöst, die
wenigen Querschüsse, die es gab, schnell
und geschickt abgefangen. Nach außen
war es ein Bild fast perfekter Harmonie.
Und nun ist wieder von „Machtkampf“ die
Rede. Die Öffentlichkeit schaut genau da-
bei zu, wie bemüht langsam Özdemir wäh-
rend Göring-Eckardts Rede im Bundestag
klatscht. Mit Özdemirs Kampfansage sind
auf einmal all die alten Geschichten aus
der Zeit wieder da, als er die Partei führte.
Wie Simone Peter, die Ko-Vorsitzende, bei
einer Veranstaltung um Ruhe bat, sich die

Stimmen senkten, nur Özdemir laut blieb.
Wie man in der Fraktionssitzung die Be-
denken gegen Waffenlieferungen an die
Kurden im Nordirak erörtert hatte und Öz-
demir vor die Presse trat und sagte, „mit
der Yogamatte unterm Arm“ sei der IS
nicht zu besiegen. Mit diesen Geschichten
droht auch die schlechte Laune aus dieser
Zeit zurückzukommen – und das ausge-
rechnet in einer Zeit, in der die Umfragen
leicht zurückgehen und die Landtagswah-
len in Sachsen und Brandenburg etwas
schlechter ausgefallen sind als erhofft.
Es sind schwierige Startbedingungen für
Özdemir und Kappert-Gonther, die in die-
sen Tagen viele Gespräche führen wollen
und hoffen, die Mehrheit der Abgeordne-
ten zu überzeugen. Sie treten nicht als
Team an, sondern getrennt voneinander.
Ob zuerst der Frauenplatz und dann der
freie Platz – bei den Grünen gibt es keinen
Männerplatz – gewählt wird oder anders-
herum, wird in diesen Tagen festgelegt.
Doch strategisch müssen sie als Team den-
ken, denn es ist sehr unwahrscheinlich,
dass die Fraktion zwei Linke oder zwei Rea-
los an ihre Spitze wählt. Göring-Eckardt
und Özdemir gehören zu den Realos, wo-
bei für Özdemir zuweilen der Zusatztitel
„Oberrealo“ verwendet wird. Hofreiter
und Kappert-Gonther sind Linke, Kap-
pert-Gonther sogar eine der Koordinato-
ren dieses Flügels. Von den 67 Abgeordne-
ten wird etwa die Hälfte zu den Realos ge-
zählt, knapp 30 gehören der Linken an,
eine Handvoll sind flügellos.
Unter den Realos hat Özdemir ein paar
enge Vertraute. Sie teilen seine Kritik an
den amtierenden Vorsitzenden: zu wenig
Führung, zu wenig Schwung, die Fraktion
bleibe hinter ihren Möglichkeiten zurück.
Schon vor zwei Jahren waren die Ergebnis-
se schlecht: Göring-Eckardt erhielt damals
67,7 Prozent der Stimmen, Hofreiter 66,
Prozent. Er sei der beste Mann und müsse
daher nach vorne: begnadeter Redner, bei
der Basis beliebt, Garant für volle Bierzel-
te, anschlussfähig an unterschiedliche Mi-
lieus. Die Abgeordnete Manuela Rottmann
hat sich als eine der wenigen offen dazu be-
kannt: Die Kandidatur von Özdemir und
Kappert-Gonther sei „eine Chance für die
Fraktion“, sagte sie dem Redaktionsnetz-

werk Deutschland. Genau jetzt sei „der
richtige Zeitpunkt, um den Kurs zu über-
prüfen“. Kappert-Gonther hat bei den Rea-
los zwar keine Freunde, doch in den zwei
Jahren, die sie im Bundestag sitzt und sich
mit Gesundheits- und Drogenpolitik be-
schäftigte, hat sie sich auch noch keine
Feinde gemacht.
Doch es gibt auch Realos, die in Özde-
mir vor allem einen Störenfried sehen, der
seine Interessen über das Wohl der Partei
stellt. Manche haben noch alte Rechnun-
gen mit ihm offen. Bei den Linken kann
das Duo der Herausforderer wohl kaum ei-
nen Stich machen. Özdemir ist wegen sei-
ner Positionen für viele ein rotes Tuch. Die
Linken befürchten ohnehin schon, durch
die Realo-Doppelspitze der Partei margina-
lisiert zu werden, auch wenn sich Robert
Habeck und Annalena Baerbock alle Mühe
geben, immer wieder links zu blinken.
Kaum jemand traut Kappert-Gonther zu,
gegen den dominanten Özdemir linke Posi-
tionen durchzusetzen.
Unabhängig von der Flügel-Arithmetik
kalkulieren einige auch ganz kühl und kom-
men zum Ergebnis, dass es besser wäre,
wenn alles bliebe, wie es ist. Die Gründe
sind unterschiedlich. Einerseits fachlich:
Weder Özdemir noch Kappert-Gonther be-
setzen das Öko- und Klima-Thema. Sie
könnten also nicht mit der Bundesregie-
rung über das Klimapaket verhandeln, das
bald vorgelegt wird. Außerdem atmosphä-
risch: Ein Wettbewerb mit der Parteispitze
um Aufmerksamkeit würde am Ende allen
schaden. Und drittens sitzt eine ganze Rei-
he von ehrgeizigen Kandidatinnen in den
Startlöchern, die den Fraktionsvorsitz in
zwei Jahren anstreben, aber jetzt aus unter-
schiedlichen Gründen noch nicht danach
greifen wollten. Sie können nicht wollen,
dass nun jemand anderes vor ihnen ein-
schert.
Göring-Eckardt und Hofreiter legen
aber nicht nur die Hände in den Schoß, son-
dern nehmen die Herausforderung ernst.
Die Erinnerung an die Überraschung bei
der Unionsfraktion, wo Ralph Brinkhaus
wider Erwarten plötzlich Chef war, ist
noch sehr lebendig. Am Freitag warben die
beiden in einem Brief an die Abgeordne-
ten für ihren Kurs.

mwe.BERLIN, 13. September. Die ameri-
kanische Regierung geht davon aus, dass
Moskau den Mord an dem vor drei Wo-
chen in Berlin erschossenen georgischen
Staatsbürger Selimchan Changoschwili
veranlasst hat. „Die Vereinigten Staaten
glauben, dass Russland für diese Ermor-
dung verantwortlich ist“, sagte ein Regie-
rungsmitarbeiter der Zeitung „Wall Street
Journal“. Der vierzig Jahre alte Tsche-
tschene mit georgischer Staatsbürger-
schaft war in einem Park in Berlin mit
drei Schüssen gezielt getötet worden. Der
mutmaßliche Täter, ein Russe, konnte
von der Polizei gefasst werden. Sein Pass

war auf den Namen „Wadim Andreje-
witsch Sokolow“ ausgestellt; es handelt
sich anscheinend um eine falsche Identi-
tät in einem echten Reisepass. Das Schen-
gen-Visum wurde von der französischen
Botschaft in Moskau ausgestellt.
„Eine falsche Identität mit einem ech-
ten Reisepass kann nur von den Behör-
den in Russland geliefert werden“, wird
der amerikanische Regierungsmitarbei-
ter zitiert. Der Kreml hatte bestritten, in
den Fall verwickelt zu sein. Laut amerika-
nischer Regierungskreise war der Tatver-
dächtige kurz vor dem Mord in Berlin aus
einem russischen Gefängnis entlassen

worden; er soll dort wegen Mordes einge-
sessen haben.
Der getötete Changoschwili hatte im
zweiten Tschetschenien-Krieg gegen
Russland gekämpft. In Georgien hatte er
mehrere Mordanschläge überlebt. An-
fang 2017 hatte er, nach einem Auf-
enthalt in der Ukraine, in Deutschland
Asyl beantragt, sein Verfahren war nicht
abgeschlossen. Die Bundesanwaltschaft
hat den Fall bislang nicht an sich gezo-
gen. Sie kann nur ermitteln, wenn es
einen Anfangsverdacht auf geheimdienst-
liche Agententätigkeit oder Staatsterro-
rismus gibt.

Die Angst vor den alten Gräben


Wie groß sind Özdemirs Chancen auf den Fraktionsvorsitz? / Von Helene Bubrowski


Macht müde Gäule munter:Wunder-
mittel für Mensch und Tier
Zeichnung Wilhelm Busch

Offen, freundlich,


parteiisch


Washington: Moskau steckt hinter Mord in Berlin


Tatverdächtiger soll wegen Mordes in Russland inhaftiert gewesen sein


Den Herausforderer im Nacken:Hofreiter – hinter ihm Özdemir und Göring-Eckardt Foto dpa


Die Kandidaten für


denSPD-Vorsitz


achten bei ihrer


Vorstellungstour auf


ein Bild der Harmonie.


Nur die Jusos folgen


einer eigenen Agenda.


Von Mona Jaeger


Kandidaten der Jugend:Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken Foto dpa

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