Frankfurter Allgemeine Zeitung - 14.09.2019

(Elle) #1

SEITE 6·SAMSTAG, 14. SEPTEMBER 2019·NR. 214 Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Politik


MOSKAU,13. September. Mal wurde
die Tür aufgesägt, mal hatten Ermittler
einen Zweitschlüssel: Die Razzien vom
Donnerstag an mehr als 200 Adressen in
ganz Russland, so die Zahl der Stiftung
zum Kampf gegen Korruption des füh-
renden Oppositionellen Aleksej Nawal-
nyj, gelten als beispiellos in Russlands
jüngerer Geschichte. Sie erfassten 41 der
45 Büros Nawalnyjs. Diese sogenannten
Stäbe entstanden in der Kampagne für
die Präsidentenwahl 2018, um Unterstüt-
zer für Nawalnyjs Kandidatur zu sam-
meln. Die wurde ihm verwehrt, doch vie-
le Stäbe blieben, für Korruptionsrecher-
chen, Protestorganisation, als Anlaufstel-
le für politische Aktivität abseits des
Kremls.
Auch Privatwohnungen von Nawal-
nyjs Mitstreitern und deren Verwandten
wurden durchsucht. In Nowosibirsk
brachte Stabsleiter Sergej Bojko, der bei
den Bürgermeisterwahlen am Sonntag
18 Prozent erzielte, Festplatten mit einer
Drohne in Sicherheit. Die per Internetvi-
deo gefeierte Aktion dürfte Bojko und
seinem nicht mit dem Stab verbundenen
Bruder die nächste Razzia vom Freitag-
morgen eingetragen haben. Besonders
hatten es die Einsatzkräfte auf Compu-
ter, Smartphones und Kameras abgese-
hen. Die Geräte erhalten die Betroffe-
nen, wenn überhaupt, erst nach langer
Zeit zurück. Viele Konten wurden fak-
tisch gesperrt. Formale Grundlage ist ein
im August eingeleitetes Ermittlungsver-
fahren um Geldwäsche bei Nawalnyjs


Stiftung; die Summe wurde zunächst auf
knapp 14 Millionen Euro beziffert, mitt-
lerweile geht es um gut eine Million
Euro, mit diesem Betrag werden die Kon-
ten belastet.
Mit Nawalnyjs Stiftung hängen die Stä-
be formal nicht zusammen. Aber Forma-
litäten zählen kaum: Auch zwei Büros
der unabhängigen Wahlbeobachter von
Golos und eines der Partei Jabloko wur-
den durchsucht. Das Ziel derjenigen, die
die Aktion angeordnet haben – Nawalnyj
tippte auf Präsident Wladimir Putin per-
sönlich – ist offenkundig, die Arbeit der
Widersacher zu lähmen. Das Muster ist
bekannt: Zuletzt war Nawalnyj bei einer
Razzia vor den Regionalwahlen vom ver-
gangenen Sonntag die Ausrüstung seiner
Moskauer Zentrale abgenommen wor-
den. Stunden, bevor er mit seiner don-
nerstagabendlichen Youtube-Sendung
Hundertausende Russen dazu aufrufen
wollte, bei den Wahlen seinen Empfeh-
lungen zu folgen, um Siege der Machtpar-
tei „Einiges Russland“ zu vereiteln.
Dass das Ausmaß der Verfolgung ge-
wachsen ist, bezeugt, dass sich die Macht-
haber nun bedroht sehen. Nawalnyjs
„kluges Abstimmen“ hatte nicht nur bei
der Wahl zur Moskauer Stadtverordne-
tenversammlung, sondern auch in ande-
ren Regionen Erfolg. Es sei in 31 Wahl-
kampagnen angewendet worden, teilte
Nawalnyj nun mit; vor fünf Jahren habe
„Einiges Russland“ in den Wahlen 643
von 762 Mandaten errungen, nun 537
von 778, wobei seine empfohlenen Kan-
didaten 145 Mandate errungen hätten.

Nawalnyjs Rezept bezieht Vertreter der
üblicherweise handzahmen Systemoppo-
sition ein, formt aus unterschiedlichen
Akteuren einen Block gegen „Einiges
Russland“ – und ist gerade deshalb so be-
drohlich für das Machtlager, dessen Be-
liebtheit in der wirtschaftlichen und poli-
tischen Stagnation eingebrochen ist. Zu-
dem dürfte der Kreml die Gefahr sehen,
dass Unzufriedene, die bisher annah-
men, ihre Stimmen würden nichts bewir-
ken, sehen, wie ihr Protest die Mächtigen
erreichen kann. So hat Nawalnyj die un-
echten Wahlen in Putins imitierter De-
mokratie gekapert. In Sankt Petersburg,
wo Hunderten Kandidaten des Machtla-
gers bei Kommunalwahlen Niederlagen
drohen, scheinen nur noch Fälschungen
zu helfen: Sonntag wurde gewählt, ausge-
zählt wird offiziell immer noch, Fälle
von Gewalt gegen Wahlbeobachter und
Mitglieder der Wahlkommission werden
nicht verfolgt.
In Moskau haben die – auch dank Na-
walnyjs Empfehlungen – erfolgreichen
Kandidaten der Kommunisten in einer
Erklärung gefordert, die „politischen Re-
pressionen“ im Zuge der Protestwelle ge-
gen den Ausschluss unabhängiger Kandi-
daten zur Wahl zu beenden. Nawalnyj
gab nun als Ziel an, sein Empfehlungssys-
tem bekannter zu machen. Dafür warb er
um Spenden für neues Gerät und drohte
den jungen Ermittlern „in Masken“, die
sich bei den Razzien benähmen „wie Ok-
kupanten gegen Partisanen“: Sie würden
noch erleben, dass sie sich strafrechtlich
für ihre Taten verantworten müssten.

RISCHON LEZION/JERUSALEM,



  1. September


D


er schwarze Lindwurm windet
sich auf hellem Fleisch, so groß
wie eine Hand. Ron Katz erhebt
sich und blickt über die Schulter, um das
Werk auf seinem Rücken zum ersten Mal
zu sehen. Vergeblich. Seine Mutter
schaut zu, wie die Tätowiererin eine Fo-
lie über den Drachen klebt. Auf Russisch
fallen anerkennende Worte. Das „Art
Magic“-Studio läuft nicht schlecht, der
Laden ist voll hier in Klein-Moskau, je-
nem Teil von Rischon LeZion, wo die
Kioske Odessa heißen und das Restau-
rant Vostok. Wo Benjamin Netanjahu
am Ortseingang mit seinem Konterfei
und in kyrillischen Buchstaben wirbt:
„Nur Likud, nur Netanjahu“.
Als Jana Katz vor 25 Jahren aus dem
Ural nach Israel kam, da wollte sie „weg
von zu Hause, so weit wie möglich“. Sie
habe nichts erwartet, als sie von der Mög-
lichkeit der Einwanderung nach Israel
hörte, während gerade die Sowjetunion
unterging. „Ich war 19 und wollte frei
sein.“ Dass sich Israel als solch ein reli-
giöses Land darstellen würde, hätte sie
nicht gedacht. „Italien ist auch sehr religi-
ös, aber dort greift die Kirche nicht so in
den Alltag ein und in die Schulen.“ In Is-
rael stehen auch in den vermeintlich
weltlichen Schulen mehrere Stunden pro
Woche Bibelstudien auf dem Lehrplan.
Drei Kinder hat Jana Katz in Israel ge-
boren. Ron ist mit der Schule fertig, hat
jetzt eine Tätowierung und will mal se-
hen, was er macht. Seine Mutter sagt, die
Technologie habe sich entwickelt in Isra-
el, die Außenbeziehungen auch. „Aber
es ist ein teures Land, wenn ich Israel
mit Bulgarien vergleiche, dann ist es
dort viel günstiger bei ähnlichem Ange-
bot.“ Was also tun gegen Ultraorthodo-
xie und hohe Preise? „Wir brauchen ei-
nen Putin hier“, sagt Jana Katz. Was zu
lautstarkem Einspruch ihres Sohnes
führt, der das Wort „Diktator“ fallen
lässt. Sie wechseln wieder ins Russische,
bis die Tätowiererin bittet, die Angele-
genheit doch bitte draußen zu bespre-
chen. Sie werde ohnehin nicht wählen,
sie sei Künstlerin.
Draußen lehnt Jana Katz am Gelän-
der vor der Straße. „In Russland hast du
einen Putin, und in Israel gibt es 120 Pu-
tins, die alle entscheiden wollen, du
weißt doch: Zwei Juden, drei Meinun-
gen.“ Wenn am Dienstag Israels Parla-
ment und dessen 120 Abgeordnete ge-
wählt werden, dann stimme sie jeden-
falls nicht wieder für Netanjahu. Eher
für Avigdor Lieberman, der sei hart und
stark. Lieberman stammt aus Moldau,
seine Partei Yisrael Beitenu wird seit Jah-
ren vor allem von russischsprachigen
Einwanderern gewählt. Die allerdings
werden alt, und die in Israel geborenen
Nachfahren wählen auch andere Partei-
en. Ron Katz sagt, Lieberman sei ein Lüg-
ner. Vor vier Jahren versprach Lieber-


man, den Hamas-Chef binnen 48 Stun-
den zu töten. „Hat er dann nicht ge-
macht.“ Wahrscheinlich werde er gar
nicht wählen, sagt Ron Katz. Es lohne
nicht. „Irgendwo wird Politik gemacht,
und irgendwo anders leben wir.“
Und ihr Leben ist nicht so schlecht.
Das Schweinefleisch holt Familie Katz
aus dem Supermarkt „Karl Berg“ um die
Ecke, „wo es unsere Sachen gibt“. Und
wenn sie wollen, dann können sie neben-
an ins „Fitnessland“ gehen, dessen Besit-
zer Oleg vor zwanzig Jahren aus Khers-
hon bei Odessa einwanderte, weil er
„mal allein sein und weg von der Familie
wollte“. 500 Kunden habe er, sagt Oleg,
von denen spreche die Hälfte Russisch.
Vor zehn Jahren heiratete er seine Tania,
die hinter dem Tresen steht. Im Internet
hatten sie sich kennengelernt. Tania
kommt aus Kiew. „Ich bin gar nicht jü-
disch“, sagt sie.
Auch im Hause Katz wird der Schab-
bes nicht begangen. „Aber wir feiern
Rosh Hashana – und Novij God“: das jü-
dische und das russische Neujahr. Als
Lieberman im Sommer die Koalitionsver-
handlungen platzen ließ, angeblich weil
er den Einfluss der Ultraorthodoxie zu-
rückdrängen wollte, traf dies nicht nur
bei russischsprachigen Israelis auf offe-
ne Ohren. Lieberman wirbt für eine „na-
tionalistische säkulare Einheitsregie-
rung“. Dieser Losung folgt neuerdings
auch die größte Oppositionspartei Blau-
Weiß. Dass der Opportunist Lieberman
schon in vielen Koalitionen mit den Got-
tesfürchtigen gesessen hat und gesetzge-
berisch über zwanzig Jahre nichts gegen
die Ultraorthodoxie unternommen hat,
scheint nebensächlich. Jana Katz er-
zählt, wie sehr es sie ärgere, dass Hun-
derttausende Einwanderer aus Russland
vom Oberrabbinat nicht als vollwertige
Juden anerkannt würden. Das Rabbinat
ist ultraorthodox besetzt, und es be-
stimmt auch über Eheschließungen. Jana
Katz musste deshalb in Zypern heiraten.
„Die Religiösen sollen aufhören, uns im
Nacken zu sitzen“, sagt sie.
Es ist nicht nur die Frage nach Religi-
on und Säkularismus, die im israelischen
Wahlkampf aufgebracht wird. Bislang ko-
alierte Lieberman mit rechten und
rechtsextremen Parteien. Jetzt inszeniert
er sich als Königsmacher. Ohne seine
Partei gelänge es weder dem Likud noch
der Blau-Weiß-Partei, einen rechten be-
ziehungsweise Mitte-links-Block zu bil-
den. Ob Netanjahu bleibt oder geht: Lie-
berman hat für beide Fälle vorgesorgt
und bleibt Zünglein an der Waage. Um-
fragen sehen ihn bei zehn Knesset-Sit-
zen. Von 6,3 Millionen Wahlberechtig-

ten sprechen 770 000 Russisch. Sie könn-
ten den Wahlausgang entscheiden. Und
so kämpft auch Netanjahu um die „russi-
sche Stimme“. Am Donnerstag flog er
nach Sotschi, um den russischen Präsi-
denten zu treffen. Drei Stunden ließ Wla-
dimir Putin ihn warten.
Es sind vor allem Netanjahu und Lie-
berman, die um russischsprachige Wäh-
ler buhlen. Vierzig Prozent hätten zu-
letzt Lieberman gewählt, dreißig Prozent
Netanjahu, sagt der Demograph Yjat-
scheslaw Konstantinow. Das letzte Drit-
tel wähle von links bis rechts verstreut.
Janna Frankin kam mit zehn aus Mos-
kau nach Israel, Stas aus Taschkent, als er
16 war. Der Naturstein ihres Mehrfamili-
enhauses am Stadtrand von Jerusalem
hat sich über die Jahrzehnte dunkel ver-
färbt. Aber die Wohnung haben sie innen
edel renoviert. In Moskau hatten Jannas
Eltern einen kleinen Verlag. Sie wander-
ten aus, als dort die Wirtschaft zusam-
menbrach. In Israel arbeitete der Vater als
Vermesser für die Stadtverwaltung. Nicht
gerade das, was er sich erträumt habe.
„Mein Vater ist nostalgisch, denkt viel an
Russland“, sagt Janna Frankin, „aber ich
will nicht mehr zurück.“ In Israel machte
sie ihren Schulabschluss, studierte später
Statistik und arbeitet jetzt als Datenwis-
senschaftlerin für die Sozialbehörde – ein
Muster-Lebenslauf. Aber zu Hause wird
weiter Russisch gesprochen, ihre vier Jah-
re alte Tochter schicken sie in einen russi-
schen Kindergarten. „Ich will, dass unse-
re Tochter die reiche russische Kultur auf-
nehmen kann“, sagt Janna Frankin.
Stas Frankin sagt, neunzig Prozent des
Freundeskreises seien russisch-israe-
lisch. Seine Frau ist die Schwester eines
guten Freundes. Stas ist Historiker, und
über Umwege als Reinigungskraft, Si-
cherheitsmann und Koch gibt er heute
Führungen in der Holocaust-Gedenkstät-
te Yad Vashem: vor allem für deutsch-rus-
sische Juden.
„Wir haben ein gutes Leben“, sagt Jan-
na. Die Wohnung haben sie von den El-
tern geerbt, alles ist abgezahlt. Doch vor
der Zukunft haben sie doch manchmal
Sorgen. Eine langfristige Strategie habe
die Regierung nicht erkennen lassen.
Und manchmal überlege sie schon, wann
ein guter Zeitpunkt sei, die Wohnung zu
verkaufen, bevor die Preise wieder in den
Keller fallen, weil der Zuzug der Ultraor-
thodoxen so stark zunimmt. Drei von vier
Kindergärten im Viertel sind schon ultra-
orthodox. Aber es gibt auch russische Ge-
schäfte, die ohne Probleme Schwein ver-
kaufen. „Es ist eine russisch-israelische
Gemeinschaft, das ist uns wichtig,“ sagt
Stas. „Wir sind Jerusalemer.“

Der Protest erreicht die Mächtigen


Wieso der Kreml so hart gegen Nawalnyjs Anhänger vorgeht / Von Friedrich Schmidt


Im Land der 120 Putins


Mehr als zehn Prozent


derWahlberechtigten in


Israel sprechen


Russisch. Der Einfluss


der orthodoxen Juden


bereitet ihnen Sorgen –


für Netanjahu ist das


keine gute Nachricht.


Von Jochen Stahnke


Netanjahu und Putin:Likud-Wahlplakat in Tel Aviv Foto AFP


Zu „Verpasste Größe“ (F.A.Z. vom 30. Au-
gust): Unter den vielen treffenden Kom-
mentaren zur britischen Krise aus der Fe-
der der F.A.Z. wie auch von kundigen Gäs-
ten ragt der Kommentar „Verpasste Grö-
ße“ deshalb heraus, weil er auch die Köni-
gin ins Spiel bringt und die problemati-
sche Rolle benennt, die sie in der briti-
schen Krise spielt; schon in der Über-
schrift kommt dieser Aspekt unmissver-
ständlich zum Ausdruck. Warum hat die
Königin nicht nein gesagt, als man von ihr
die Ernennung eines Abgeordneten zum
Premierminister verlangte, der nicht vom
Volk, auch nicht vom Parlament, sondern
nur von Mitgliedern seiner Partei auf den
Schild gehoben worden ist?
Warum hat sie nicht nein gesagt, als die-
ser von ihr die Beurlaubung des Parla-
ments verlangte? Ein Bubenstreich gegen
die Demokratie. Die Unterschrift der Kö-

nigin wird entwertet, sie selbst lächerlich
gemacht. Warum wehrt sie sich nicht dage-
gen? Auf die von monarchistisch gesinn-
ten Briten und auch von verständnisvollen
Ausländern immer wieder zu hörende Ant-
wort „Sie muss sich so verhalten“ wird
man fragen dürfen: Warum? Warum fragt
die Königin nicht, bevor sie unterschreibt:
„Wo steht es, dass ich das unterschreiben
muss?“ So würde sie die wunde Stelle im
politischen Leben ihres Landes offenle-
gen. Stattdessen beteiligt sie sich durch
ihre Unterschrift an dem Kampf, den der
Hasardeur gegen das eigene Parlament
führt. In historischen Zeiten hat das Parla-
ment dem König seine bisherigen Rechte
entwunden, Elisabeth II. macht es jetzt
umgekehrt.
PROFESSOR DR ENGELBERT PLASSMANN,
BOCHUM

Warum hat die Königin nicht nein gesagt?


Zum Leitartikel „Auf dem Holzweg“ von
Julia Löhr in der F.A.Z. vom 5. September:
In dem mit vielen und größtenteils richti-
gen Aspekten der Multifunktionalität des
Waldes beleuchteten Leitartikel fehlt aller-
dings noch ein entscheidender Gesichts-
punkt bei der Frage „Quo vadis, Wald?“.
Wir haben in Deutschland rund zwei Mil-
lionen Waldeigentümer. Die Durch-
schnittsfläche pro Eigentümer beträgt un-
gefähr 2,4 Hektar. Die meisten Waldeigen-
tümer haben sich auch deswegen zur Be-
wirtschaftung ihrer Flächen forstwirt-
schaftlichen Zusammenschlüssen (man
kann sie auch als Dienstleistungszentren
im ländlichen Raum bezeichnen) ange-
schlossen, was wegen der dann größeren
Wirtschaftseinheiten durchaus Sinn
macht.
Bei aller Betrachtung muss man zudem
noch wissen, dass ungefähr ein Drittel der
Holzeinschlagsmenge zur Deckung von be-
trieblichen Zwangsabgaben (Steuern, Be-
rufsgenossenschaft, vielerorts Wasser-
und Bodenverbände) benötigt werden.
Aufgrund des Zusammenbruchs auf dem
Holzmarkt mit entsprechendem massiven
Verfall des Holzpreises ist absehbar, dass
die Liquidität für die Vorfinanzierung von
sämtlichen forstlichen Maßnahmen zuneh-
mend in den großen und nahezu wertlos
gewordenen Poltermengen steckt, die im
Wald lagern und wegen der anhaltenden
Verstopfung auf dem nationalen und ver-

mehrt nun auch noch auf dem internatio-
nalen Holzmarkt nicht abgefahren werden
können. Das wiegt umso mehr, weil gigan-
tische Aufgaben bei der Wiederbewal-
dung und der Verbesserung der Infrastruk-
tur im ländlichen Raum auf den Waldbesit-
zer zukommen.
Ist die Liquidität aufgezehrt, helfen nur
Kredite oder die Reduktion des wirtschaft-
lichen Handelns. Folglich braucht man
sich dann auch nicht zu wundern, wenn
viele Waldeigentümer, die in der Vergan-
genheit zum großen Teil bis zur letzten Fa-
ser ihres Herzens ihren Wald gepflegt und
gehegt haben und auf deren Rücken jetzt
mit einer gewissen Respektlosigkeit der
unsägliche Zank ausgetragen wird über
die richtige Behandlung des Waldes, ob er
nun sich selbst überlassen oder wieder
nachhaltig und multifunktional bewirt-
schaftet werden soll, aufgeben und resig-
nieren! Die großen Chancen des Klein-
privatwaldes liegen aber in der Vielfalt
der Besitzgrößen, der Besitzer und ihrer
Bewirtschaftungsart. Diese Vielfalt auf-
grund breit gestreuten Eigentums kann
auch zur Bandbreite und zu Biodiversität
führen! Hierauf jedenfalls sollte die Poli-
tik ebenfalls ihr Augenmerk richten und
die finanzielle sowie steuerliche Förde-
rung auf dieses Klientel besonders be-
rücksichtigen.
MARK VON BUSSE, VIZEPRÄSIDENT UND EH-
RENMITGLIED DES DEUTSCHEN FORSTVER-
EINS E.V. (DFV), FRIEDLAND

Zum Interview mit Alexander Gauland
(F.A.Z. vom 9. September): Eines muss
man dem Interviewer lassen: Er war sehr
gut vorbereitet, kannte die Fakten und hat
offensichtlich die Bücher von Gauland ge-
lesen. Nur: Falls es die Absicht gewesen
sein sollte, Gauland zu dem Geständnis zu
zwingen, dass er nicht bürgerlich sei, dann
ist das gründlich in die Hose gegangen. Ei-
nem Rhetoriker wie Gauland mit Fakten
und Zitaten zu kommen ist aussichtslos.
Zumindest, wenn man rhetorisch nicht in
der gleichen Liga spielt. So hat leider der
Interviewer nur als Stichwortgeber fun-
giert und Gauland ein Forum für seine
Selbstdarstellung geboten. Ich frage mich,
warum versucht wird, die Vertreter der
AfD zu irgendwelchen (ethischen und poli-
tischen) Geständnissen zu zwingen. Viel-
leicht wäre es erfolgversprechender, die
AfD mit den politischen und gesellschaftli-
chen Fakten zu konfrontieren.
THOMAS TRINTER, FRANKFURT AM MAIN

Zu „Wer das Sagen hat in Großbritannien“
(F.A.Z. vom 4. September): Der ausge-
zeichnete Artikel Ihrer Korrespondentin
Gina Thomas hat mich zu folgendem Ge-
dankengang angeregt: Ein Ausscheiden
aus der EU bedeutet, dass man einen Ver-
trag kündigt, den man zuvor geschlossen
hat, dem Vertragswerk ist man gemein-
sam mit anderen beigetreten. Man kann
meiner Meinung nach nicht so ohne weite-
res aus einem solchen Bündnis (Vertrags-
werk) ausscheiden ohne vertragliche Ab-

machungen, Fristen, nachherige Verhält-
nisse und so weiter. Alles andere wäre ein
Vertragsbruch – und will Großbritannien
wirklich vertragsbrüchig gegenüber der
EU, also eigentlich Freunden (befreunde-
ten Staaten, einem befreundeten Staaten-
bündnis) werden? Das wäre ja noch
schlimmer als Trump, der ohne Abspra-
chen aus dem Vereinigte Staaten-Europa-
Iran-Abkommen (also nicht nur mit Freun-
den) ausgestiegen ist.
HARALD WISSELINCK, FRANKFURT AM MAIN

Zu „Jetzt erst recht zur IAA“(F.A.Z. vom



  1. September): Mit Ihrem Leitartikel und
    Ihren appetitlichen „Technik und Motor“-
    Seiten zur IAA haben Sie heute den Vogel
    abgeschossen! Auch wegen solcher Beiträ-
    ge ist die F.A.Z. immer ein Genuss.
    Als BMW X3-Fahrer, hatte ich eigent-
    lich nicht vor, die IAA zu besuchen – nach
    der Lektüre Ihres kenntnisreichen, so gar
    nicht politisch korrekten Leitartikels
    (heutzutage ist das Automobil in den Me-
    dien zu verteufeln!) werde ich gerade „mit
    Fleiß“ nach Frankfurt kommen und freue
    mich auf schöne Autos und spannende In-
    novationen. Und noch eine Bitte: Lassen
    Sie sich in Ihrer autofreundlichen Haltung
    nicht unterkriegen, wohl bald ein Allein-
    stellungsmerkmal der F.A.Z.
    DR. PAUL GEORG FISCHER, AUGSBURG


Mit Fakten aussichtslos


Der Beitrag „So viel Kompost war nie im
Roman“ von Uwe Ebbinghaus (F.A.Z.
vom 7. September) über die Longlist des
Deutschen Buchpreises mit dem Grund-
thema „Dorf“ hat mich sehr beeindruckt.
Ich bin selbst in einem Dorf in Schleswig-
Holstein während und nach dem Kriege
(Jahrgang 1936) groß geworden und kann
daher vieles nachvollziehen. Leider fehlt
in diesem Zusammenhang die Erwähnung
von Dörte Hansens neuestem Roman „Mit-
tagsstunde“. Auch sie befasst sich mit dem
Schicksal eines kleinen Bauerndorfs und
schildert in sehr eindrucksvoller Weise die
Entwicklung und letztlich das Sterben die-
ses kleinen Dorfes nach dem Zweiten Welt-
krieg.
Ich habe selten eine so spannende und
wirklichkeitsnahe Schilderung gelesen.
Sie zeugt von einer großen Beobachtungs-
gabe und hervorragender Recherche. Bei
aller Traurigkeit über den langsamen Nie-
dergang eines früher sicher sehr properen
Bauerndorfs mit „Tante-Emma-Laden“,
Bäcker, Kirche und Einheitsklassen-Schu-
le bleiben die älteren Bewohner fröhlich
und gelassen, fügen sich aber in das Unaus-
weichliche bis zum bitteren Ende.
HANNSJÖRN BOËS, BUCHHOLZ

Zu „Jetzt erst recht zur IAA“ (F.A.Z. vom



  1. September): Mit welcher Geschwin-
    digkeit das Thema des anthropogenen Kli-
    mawandels Fahrt aufgenommen hat, ist
    enorm. Insofern sind Stimmen wie von
    Holger Appel selten und wichtig, bevor
    die öffentliche Meinung und deren Aus-
    flüsse in der Politik endgültig in Hysterie
    abzugleiten beginnen. Hier ist der einzige
    Punkt, indem ich Herrn Appel widerspre-
    che oder zumindest ein weiteres entschei-
    dendes Moment ergänzen muss: Die
    Selbstzerstörung hat ihren Kern dort, wo
    die Menschen ihre Kernkompetenz, das
    Aufzeigen von Ursache und Wirkung und
    der ihnen zugrundeliegenden Fakten, ver-


lassen haben und anfingen ihre Argumen-
tation mit Moral zu begründen. Hierbei
verlieren faktenbedingte Kausalitäten völ-
lig an Relevanz. Neueste wissenschaftli-
chen Studien beweisen, dass der Mensch
zu einer starken Selbstüberschätzung sei-
nes Wissens neigt. Er urteilt über Dinge,
von denen er eigentlich keine Ahnung
hat, er glaubt es nur. Die Politik nimmt
die daraus resultierenden Meinungen nur
allzu gern auf. Insofern lässt mich diese
toxische Mischung aus Moral und Halb-
wissen nichts Gutes für Deutschland und
seine Autoindustrie erwarten.
DR. SVEN HANSEN HÖCHSTÄDT,
ST. JOHANN IN TIROL, ÖSTERREICH

Zu „Die Meisterpflicht kommt zurück“ in
der F.A.Z. vom 10. September: Leider ist
es symptomatisch für die Erosion politi-
scher Nachhaltigkeit, mit welcher Non-
chalance inzwischen auch führende
CDU-Politiker ordnungspolitische Grund-
sätze tagespolitischem Opportunismus
opfern und versuchen, mit kleinteiligen
Regulierungen heute diese und morgen
jene Partikularinteressen zu bedienen.
Warum lassen sich Altmaier und Linne-
mann, die sich sonst gern auf Ludwig Er-
hard berufen, für die Wiedereinführung
des Meisterzwangs bei zwölf Gewerken
von Handwerkslobbyisten instrumentali-
sieren, um diesen – entgegen Erhards
Grundsätzen und den Empfehlungen der
Monopolkommission – lästige Wettbewer-
ber vom Leib zu halten? Haben sie verges-
sen, welche positiven Wirkungen die Ab-
schaffung des Meisterzwangs für 53 von

94 Handwerksberufen unter Gerhard
Schröder 2004 für den Arbeitsmarkt und
die Verbraucher gebracht hat? Oder sind
sie aus Hyperaktivität bereits blind dafür
geworden, dass Deutschland gerade jetzt
angesichts negativer Konjunktursignale
mehr Deregulierung statt mehr Regulie-
rung, mehr freien Wettbewerb statt Mo-
nopole braucht, um einen Anstieg von
Verbraucherpreisen, Arbeitslosigkeit
und Schwarzarbeit zu verhindern?
Es stünde Altmaier und Linnemann
gut zu Gesicht, bei Start-ups nicht nur an
Hightech zu denken, sondern auch an
handwerklich begabte Menschen, viel-
fach mit Migrationshintergrund, die sich
mit einem selbständigen Gewerbe Auf-
stieg und Unabhängigkeit erarbeiten und
ihre Berufsfreiheit verwirklichen wollen.
DR. HARTMUT KNIGGE, CELLE

Erfreulich, dass Sie Alexander Gauland
mit hartnäckigen Fragen zur angeblichen
Bürgerlichkeit der AfD zu Leibe rücken
(F.A.Z. vom 9. September). Seine Antwor-
ten sind entlarvend simpel: „Bürgerlich“
sei derjenige, der ein „bürgerliches“ El-
ternhaus habe und einen „bürgerlichen“
Beruf. Was das konkret bedeutet, erklärt
der AfD-Grande nicht. Aus guten Grund:
Denn Bürger sind Menschen, die das Sys-
tem, in dem sie leben, erhalten wollen:
Meinungs- und Pressefreiheit, eine unab-
hängige Justiz, eine gepflegte Diskussions-
kultur, Offenheit gegenüber Andersden-
kenden oder die europäische Zusammen-
arbeit. Diese und andere Errungenschaf-
ten tritt die AfD mit Füßen – deshalb ist
sie das Gegenteil von „bürgerlich“. Und
Gauland weiß das natürlich. Seiner Hunde-
krawatte und seines Sakkos entkleidet, ist
er ein verbitterter Ex-Bürger, der für eine
Prise Rampenlicht den erklärten Feinden
der Republik den Weg ebnen will.
STEFAN BERGMANN, WANGEN IM ALLGÄU

Quo vadis, Wald?


Briefe an die Herausgeber


Zu „Die Meistermacher“ von Heike Gö-
bel zur Wiedereinführung des Meister-
zwangs für bestimmte Handwerksberufe
(F.A.Z. vom 10. September): Das neolibe-
rale Insistieren auf „Marktoffenheit“
schert sich weder um die Erhaltung von
in Jahrhunderten entwickelten hand-
werklichen Fertigkeiten und Standards
noch um die legitimen Qualitätsansprü-
che der Kunden. Es ist absurd, die Her-
stellung von Musikinstrumenten wie
etwa Orgeln Menschen zu überlassen,

die keine kontrollierbare berufliche Qua-
lifikation vorweisen können und deshalb
gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu
Dumpingpreisen irgendwelchen „mittel-
ständischen“ Geschäftemachern anzubie-
ten. Aber das sind offenbar genau die Ar-
beitsstrukturen, die Sie sich vorstellen.
Dass dabei eine ganze Handwerkskultur
verfällt und die Produkte immer minder-
wertiger werden, ist Ihnen offenbar
gleichgültig.
SUSANNE ROETHER, FRANKFURT AM MAIN

Das Porträt „Der Schleifer“ im Wirtschafts-
teil der F.A.Z. vom 30. August sollte man
sich aus drei Gründen an die Wand hän-
gen: Erstens, weil Herr Kinya Terada uns
zeigt, dass man der Autor seines Lebens
dadurch wird, indem man es wagt, den be-
quemen Pfad zu verlassen, wenn der inne-
re Kompass in eine andere Richtung zeigt;
zweitens wegen des Porträtfotos von
Frank Röth, das die Entschlusskraft von
Herrn Terada zeigt, wie er im bildlichen
Sinne dabei ist, an seiner Biographie zu
schleifen; drittens, weil der Artikel uns dar-
an erinnern soll, einen Abstecher in die
Frankfurter Kleinmarkthalle zu unterneh-
men, um Herrn Teradas Sushi zu essen.
BERNHARD EICHELBRÖNNER, MÜNCHEN

Verbitterter Gauland


Bis zum bitteren Ende


Vertragsbrüchiges Großbritannien


Autofreundlich Toxische Mischung aus Moral und Halbwissen


Nicht nur an Hightech denken


Handwerkskultur


Entschlusskraft


X
Von den vielen Zuschriften,die uns täglich erreichen
und die uns wertvolle Anregungen für unsere Arbeit
geben, können wir nur einen kleinen Teil veröffent-
lichen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob sie Kritik
oder Zustimmung enthalten. Oft müssen wir kürzen,
denn möglichst viele Leser sollen zu Wort kommen.
Wir lesen alle Briefe sorgfältig und beachten sie, auch
wenn wir sie nicht beantworten können.
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