Neue Zürcher Zeitung - 13.09.2019

(Romina) #1

Freitag, 13. September 2019 ∙Nr.212∙240.Jg. AZ 8021Zürich∙Fr.5.20 ∙€5.


Rauchen und Dampfen: Heinrich Villiger wehrt sich für die Zigarre – E-Zigaretten sind trügerisch Seite 14, 15, 57


EZB flutet Europa


mit noch mehr Geld


Draghi fordert energisch stärkeren Einsatz der Politik


Die Europäische Zentralbank


lanciert ein neues


Massnahmenpaket zur


Stimulierung der Inflation. Sie


verschärft die Negativzinsen und


reaktiviert dieWertpapierkäufe,


diesmal ohne zeitliches Limit.


MICHAEL RASCH, FRANKFURT


Mario Draghi hat kurz vor Ablauf sei-
ner Amtszeit Ende Oktober noch ein-
mal seine Macht demonstriert. Der Prä-
sident der Europäischen Zentralbank
(EZB) drückte im EZB-Rat ein gros-
ses Massnahmenpaket durch, mit dem
er dieKonjunktur und die Inflation
im Euro-Raum ankurbeln will. Gegen
Teile desPakets gab es deutlichenWi-
derstand von diversenRatsmitgliedern,
vor allem gegen dieReaktivierung der
Anleihekäufe. Mit der starken Reaktion
auf eine bisher undramatischeKonjunk-


turverlangsamung hat Draghi dasFüh-
rungsgremium derEZBin einer wich-
tigen geldpolitischenFrage tief gespal-
ten. Seiner Nachfolgerin ChristineLa-
garde sind auf lange Sicht die Hände
gebunden. Der Italiener zementiert da-
durch vorerst sein Erbe einer stets aus-
serordentlich lockeren Geldpolitik.


Mit der Brechstange


Die Mehrheit im EZB-Rat hielt es an-
gesichts einer zuletzt klarenKonjunk-
turverlangsamung und einer nicht dra-
matisch niedrigen, aber doch klar unter
dem Ziel der EZB liegenden Inflation
offenkundig für notwendig,Wirtschafts-
wachstum undTeuerung einmal mehr


mit der Brechstange anzukurbeln. In-
wieweit eine noch expansivere Geld-
politik an der Nullzinsgrenze wirksam
undsinnvoll ist,gilt unter Experten
allerdings als umstritten.
Bereits imVorfeld der Sitzung hatten
sich selbst Ökonomen, die sonst stark
auf der Linie von Draghi argumentieren,
skeptisch gegenüber einer noch laxeren
Politik und derWiederaufnahme von
Anleihekäufen gezeigt. Ein Grund da-
für ist,dass es für die weltweitniedrige
Inflation auch strukturelle Gründe gibt,
nämlich die Digitalisierung vielerWirt-
schaftsprozesse, die Alterung der Ge-
sellschaften sowie den stärkerenWett-
bewerb durch die Globalisierung.

Anleihekäufeohne Laufzeitende


Im Einzelnen lässt die EZB zwar den
Ha uptrefinanzierungssatz, den eigent-
lichen Leitzins, bei 0 Prozent. Sie senkt
aber den Einlagensatz von –0,4 auf –0,
Prozent. Diesen Zins bezahlenBanken,
wenn sie bei der Notenbank überschüs-
siges Geld parkieren. Er wird deshalb
auch als Strafzins bezeichnet. NachBe-
rechnungen des deutschenBankenver-
bandeskosteten die bisherigen Negativ-
zinsen dieBanken im Euro-Raum jedes
Jahr rund7, 5 Milliarden Euro. Um die
Lasten für dieBanken abzuschwächen,
führt die EZB einen Staffelzins ein, wie
es ihn auch in der Schweiz seit mehre-
ren Jahren gibt. ImRahmen dieserAus-
gleichsmassnahme erhalten dieBanken
Freibeträge, auf die siekeine Negativ-
zinsen entrichten müssen.
Darüber hinaus startet die EZB er-
neut ein Anleihekaufprogramm. Sie
will ab1. NovemberWertpapiere über
monatlich 20 Milliarden Euro erwerben.
Das Programm soll zur Unterstützung
der expansiven Geldpolitik so lange
wie nötig laufen und erst kurz vor dem
Beginn des nächsten Zinserhöhungs-
zyklus enden. Bereits von 2015 bis 20 18
hatte die ZentralbankWertpapiere über
2,6 Billionen Euro erworben, davon
rund 2,1 Billionen Euro Staatsanleihen.
Damit setzte sie sich demVorwurf aus,
unter dem Deckmantel derKonjunktur-
belebung eine verbotene Staatsfinanzie-
rung zu betreiben.Geld- undFiskalpoli-
tik rücken durch die Kaufprogramme
jedenfalls noch enger zusammen, als sie
es ohnehin schon sind.
Auf dieFrage einesJournalisten, ob
er mit seinemRuf nach mehr fiskali-
scher Unterstützung eine Botschaft an
die Politik sende,antwortete Draghi:
«Ja, definitiv.» Zuvor hatte er mehrfach
beklagt, dass nicht nur die EZB etwas
für die Stimulierung derWirtschaft tun
müsse, sondern auch die Unterstützung
der Politik durch Strukturreformen und
zusätzliche Investitionsprogramme nö-
tig sei,soweit sich die Mitgliedstaaten
diese leistenkönnten. Mit den Inves-
titionen zielte Draghi mit Sicherheit
vor allem auf Berlin. In der deutschen
Hauptstadtkönnte man die Botschaft
auch als Drohung verstehen, wonach
di e EZB die Negativzinsen so lange
beibehalten und mit der elektronischen
Notenpresse Geld erzeugen werde, bis
die Politik endlichreagiert undKon-
junkturprogramme auflegt.

Zins senkung
Kommentar:Aktionismus ist ein
Zeichen der Ohnmacht. Seite 11

Staffelzins:Wiedie EZBBanken
entlasten will. Seite 23

60 JAHRE ENGAGEMENT FÜR ITAL IENISCHE OLDTIMER


Ein Motorenflüsterer


sagt Addio


WOCHENENDE,SEITE 45–


Das Oberste Gericht der USA


stützt Trumps restriktive Asylpolitik


Die meisten Migranten an der Südgrenze dürfen vorläufig keine Gesuche mehr stel len


SAMUEL MISTELI

Der Supreme Court hat der amerika-
nischenRegierung am Mittwoch einen
Sieg bei ihrem Kampf um dieVerschär-
fung des Asylrechts beschert.Das Ge-
richt liess eineRegelung zu, die es für
die meisten Migranten an der Südgrenze
unmöglich machen soll, um Asyl zu er-
suchen. Die Massnahmesiehtvor,dass
Migranten, die auf demWeg nach Nor-
den ein anderesLand durchquert haben,
ohne dort Asyl zu beantragen, in den
USA nicht mehr um Schutz ersuchen
können.Ausgenommen sind Asylsu-
chende, deren Gesuchin ei nem anderen
Land abgelehnt wurde oder die Opfer
von Menschenhandel wurden.DieRege-
lung ist einer der bis anhinradikalsten
Versuche derRegierungTrump, die Zahl
der Asylgesuche zureduzieren. Sie trifft
vor allem Zentralamerikaner, die auf
dem Weg nach Norden Mexiko durch-
queren. Gemäss den neuenRegeln wür-
den fast alle von ihnen das Anrecht v er-
lieren, in den USAumAsyl zu ersuchen.
Der Rechtsstreit um die verschärf-
ten Regeln ist noch nicht abgeschlos-
sen. Weitere Klagen sind hängig. Doch
bis derFall definitiv entschieden wird,
werden Monate vergehen. Bis dahin

dürfen dieRegeln in Kraft treten.Für
die Regierung ist es der zweite Erfolg
vor dem Supreme Court in kurzer Zeit.
Im Juli hatte das Gericht zugelassen,
dass dieRegierung 2,5 Milliarden Dol-
lar aus demVerteidigungsbudget für
den Bau vonBarrieren an der Grenze
zu Mexiko einsetzt.

Die Eindämmung der Migration ist
eines der wichtigsten Ziele derRegie-
rungTrump. Für den Präsidenten wird
es auch eines der zentralenThemen im
Wahlkampf vom nächstenJahr sein.
Im laufendenFiskaljahr (seit Oktober
2018) wurden über 800000 Migrantin-
nen und Migranten an der Südgrenze
festgenommen.Sie stammen grossmehr-
heitlich aus Honduras, Guatemala und
El Salvador. Die Zahl derFestgenom-
menen war imFrühjahr in die Höhe ge-
schnellt, in den vergangenen drei Mona-
ten ist sie aber deutlich zurückgegangen.
Diese Entwicklung dürfte hauptsächlich

auf Massnahmen der mexikanischen
Regierung zurückzuführen sein.Trump
hatte ihr im April mit Strafzöllen ge-
droht, falls Mexiko die Grenze zu Gua-
temala nicht stärker sichere. Daraufhin
entsandte die Regierung des Linksnatio-
nalistenAndrés Manuel López Obrador
Nationalgardisten an die mexikanische
Südgrenze und erhöhte die Zahl der
Festnahmen undRückführungen.
Der Entscheid des Supreme Court
bedeutet auch, dass Mexiko und Gua-
temala faktisch zu sicheren Dritt-
staaten erklärt werden – was ein er-
klärtes Ziel der amerikanischenRegie-
rung ist.Washington hat in den vergan-
genen Monaten diplomatischen Druck
aufgesetzt, um Mexiko und Guatemala
zur Unterzeichnung entsprechender
Abkommen zu bewegen. Mexiko wei-
gert sich jedoch bis jetzt. Ein Abkom-
men mit Guatemala,das der abtretende
Präsident Jimmy Morales in Eigen-
regie unterzeichnete, befindet sich in
der Schwebe. Der designierte Nachfol-
ger von Morales lehnt es ab. Die meis-
ten Asylexperten halten es für abwegig,
Mexiko und Guatemala zu sicheren
Drittstaatenzuerklären. Beide Staaten
verfügen über ein nur rudimentäres und
un terfinanziertes Asylwesen.

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Cavaliere Costantini hat seinen letztenFerrari abgehorcht. ANNICK RAMP/NZZ

Asylmissbrauch
hat Folgen
Kommentar auf Seite 11

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