Neue Zürcher Zeitung - 13.09.2019

(Romina) #1

10 MEINUNG &DEBATTE Freitag, 13. September 2019


GOHAR DASHTI

FOTO-TABLEAU

Die Natur


erobert die Häuser 5/


Was istRealität, und was ist Phantasie?
In der Serie «Home» der iranischenFotografin
GoharDashti ist dies gar nicht so leicht zu
erkennen.Dashti hat für diese Arbeit verlassene
Häuser inTeheran fotografiert, deren Bewohner
wegen des ersten Golfkrieges (1980–1988)
flüchten mussten. Inzwischen haben Pflanzen
dieRäume erobert: DieTüren stehen zwar
weit offen, an einDurchkommen ist jedoch
nur schwer zu denken. Nur der Kamin im
hinterenRaum gibt noch einen Hinweis darauf,
dass dieseRäume für die früheren Bewohner
einmal Gemütlichkeit und Sicherheit bedeute-
ten. Doch dasVertraute lässt sich nur noch
ahnen. In einem Interview sagteDashti, ihre
Fotos stellten auch traditionelleVorstellungen
von einem Zuhause infrage. Ist es an einen
Ort gebunden, oder tragen wir es in uns selbst?
Wiesicher kann ein Zuhause inRegionen sein,
in denen es Krieg und Zerstörung gibt?
Und ist ein Haus noch unser Zuhause,
auch wenn dort längst neue Menschen leben
oder es sogar unbewohnbar geworden ist?
Die Natur, das istDashtisAussage, wird
den Menschen immer überleben. Menschen
dagegen sind auf dieser Erde nur kurzzeitige
Besucher.

Belegarztsystem


Persönliche Versorgung


auch künftig garantieren


Gastkommentar
von ATUL SUKTHANKAR

UnsereGesundheitsversorgung ist auf einem
hervorragenden Stand.Patientinnen undPatien-
ten profitieren von einemhohen Qualitätsniveau
und einer zeitgerechtenVersorgung. Allerdings
steigen dieKosten, was auf der politischen
Ebene den Handlungsdruck erhöht. Die Ent-
wicklung birgt die akute Gefahr, dassauch un-
reife Lösungsvorschläge auf denTischkommen.
So werden zum einen funktionierendeTeile der
medizinischenVersorgunggefährdet und zum
anderen eine Kaskade weitererKorrekturein-
griffe ausgelöst.
Eine solche Entwicklung zeigt sich zurzeit im
Kanton Zürich. Die vorgesehene Änderung des
Spitalplanungs- undFinanzierungsgesetzes ris-
kiert, die hochstehende medizinischeVersorgung
zu beeinträchtigen. Die Qualität des Gesundheits-
standortsZürich wirdinMitleidenschaft gezogen.
Wie dieVernehmlassung zeigt, hat dies ein gros-
serTeil der medizinischenLeistungserbringer und
der politischenParteien erkannt. Der Gesetzes-
vorschlag wird von breiten Kreisen als zu inter-
ventionistisch kritisiert.Esist nun an der neuen
Zürcher Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli,
die richtigen Schlüsseaus der Kritik zu ziehen.
Heute operieren sowohl in öffentlichen als
auch in privaten Spitälern viele Spezialisten,die
eine eigene Praxis betreiben und viel Erfahrung
in ihremFachgebiet besitzen. Als selbständige
Kleinunternehmer übernehmen BelegärzteVer-
antwortung für ihrePatientinnen undPatienten


  • und zwarüber den ganzen Behandlungspro-
    zess.Von den Leistungen der Belegärzte profi-
    tieren alle. Nicht die Privatversicherten, sondern
    die Grundversicherten machen die Mehrheit der
    Patientinnen undPatientenvon Belegärzten aus.
    Das neue Gesetz sieht eine «uneingeschränkte
    Weisungsbefugnis» des Spitals vor. DieRevision
    wäre ein klarer Bruch mit dem bewährten Beleg-
    arztsystem. Spitälerkönnten gemäss Gesetzesent-
    wurf ihre Leistungsaufträge nicht mehr mit frei-
    schaffenden Belegärzten erfüllen.Alle operieren-
    den Ärzte müssten quasi in einem anstellungs-
    ähnlichenVerhältnis zum Spital stehen.Für die
    Patientinnen undPatienten hätte dies einschnei-
    dendeKonsequenzen. Siekönnten inöffentlichen
    Listenspitälern bei Operationen nicht mehr auf
    den BelegarztihresVertrauens setzen.
    Doch die Belegärzte garantieren mit ihrer
    Person und ihrem persönlichenRuf eine quali-
    tativ hochstehende Behandlung.Sie ziehen die
    erforderlichenFachleute bei und sorgen für den


raschen Zugang zu notwendigen Eingriffen. So
werden quälendeWartezeiten vermieden. Und
der einzelne Mensch ist nicht einer Bürokratie
ausgeliefert. Es wird ihm nicht einfach im Spital
ein Arzt zugeteilt. DieseWahlfreiheit gilt unab-
hängig vomVersicherungsstatus auch für Grund-
versicherte. Belegärzte sind allein ihrenPatien-
tinnen undPatienten verpflichtet und unabhän-
gig von den Interessen der einzelnen Spitäler.Die
Patientinnen undPatientenkönnen sich darauf
verlassen, dass sich ihr Arzt desVertrauens im
Spital für sie einsetzen wird. Mit dem Belegarzt-
system haben sie eine echteWahlfreiheit. Diese
Vorteile wissen diePatientinnen undPatienten
sehr zu schätzen.
Angesichts derKostensteigerungen im Ge-
sundheitswesen sind alleAkteure gefragt. Und es
ist richtig, wenn Gesundheitsbehörden und Kran-
kenkassen überbordende Honorare von Ärzten
kritisieren. Überall gibt es schwarze Schafe.Vie-
les ist jedoch bereits gewonnen, wenn die Ärzte-
schaft selbst dieTr ansparenz erhöht.Dazu ge-
hört die offeneKommunikationvon Qualitäts-
kriterien.Wer jedoch meint, mit der Zerstörung
der persönlichenVertrauensbeziehung zwischen
Arzt undPatient liessesich Geld sparen, ist auf
dem Holzweg.
Die Schweiz braucht auch in Zukunft erfah-
rene Spezialisten, die als Belegärzte in Spitälern
operieren.Ausserhalb der städtischen Zentren
können Spitäler oft nur dank Belegärzten gewisse
medizinische Leistungen aufhohem Niveau über-
haupt anbieten.Wirddas Belegarztsystem abge-
schafft, sinken die medizinische Qualität und die
persönliche Betreuung.Die neueRegelung be-
trifft nicht primär Privatpatienten. Betroffen von
der Einschränkung der freien Arztwahl bei Spi-
talbehandlungen sind ganz besonders Grundver-
sicherte.Während Privatversicherte in einVer-
tragsspital ausweichenkönnen, ist den Grund-
versicherten dieserWegoft verwehrt.
Das bewährte und guteingespielte Belegarzt-
system würde stillschweigend geopfert. Und die
Spitäler selbst würden gegenüber dem Kanton
stark an Handlungsfähigkeit verlieren. Insgesamt
sind dieVorschläge sehr zentralistisch und be-
deuten einen grossen Schritt in Richtung Staats-
medizin.Mitderneuen Regelung wird mit Sicher-
heit nichts gespart – im Gegenteil: Abnehmende
medizinische Qualität sowie langeWartezeiten
kommen die ganze Gesellschaft teuer zu stehen
und sind denPatientinnen undPatienten schlicht
nicht zuzumuten.

Atul Sukthankarist Präsident der Zürcher Belegärzte.

Richterliche Unabhängigkeit


Justizrat als Alternative


Gastkommentar
von MICHELE LUMINATI


Der Bundesgerichtsentscheid zurAuslieferung
vonüber 40 000 Datensätzen von UBS-Kun-
den an die französischen Steuerbehörden liess
dieKontroverse über die richterliche Unabhän-
gigkeit und das Richterwahlsystem neu entflam-
men:Istein Bundesrichter nur dann unabhängig,
wenn er gegen «seine» politischePartei entschei-
det? Oder gehört er abgewählt, weil er nicht den
Erwartungen seinerPartei entspricht?Weder die
Bundesverfassung noch dieVerfassungslehrehel-
fen hier weiter. Sie gewährleisten zwar die äus-
sere Unabhängigkeit (v.a.durch Organisations-
undVerfahrensregeln), begnügen sich aber bezüg-
lich der inneren Unabhängigkeit mit demVerweis
auf dieWichtigkeit der Richterpersönlichkeit, die,
neben fachlichen Qualifikationen, auch noch über
Charakterstärke, Lebenserfahrung undgesundem
Menschenverstand verfügen müsse.
JedesJustizsystem muss versuchen, dieFrage
zu beantworten, wie die innereFreiheit des Rich-
ters extern zu gewährleisten sei. In der Schweiz
wird dieVerantwortlichkeit dafür einer politi-
schen Blackbox übertragen, die nach einem frei-
willigenParteienproporz Bundesgerichtsstellen
an parteipolitisch gebundene Kandidaten ver-
teilt. Ein anderes Modell, das in vielen europäi-
schen Staaten existiert, sieht eine staatliche Zu-
lassungsprüfung und eine Beamtenlaufbahn vor.
AlsWahl- undAufsichtsbehörde amtiert ein un-
abhängigerJustizrat, dessen Besetzung teils vom
Parlament, teils von derRegierung und von der
Richterschaft selber bestimmt wird. Gewisse Kan-
tone (Tessin,Freiburg, Wallis) haben sich daran
orientiert; in diese Richtung geht auch dieJus-
tizinitiative, welche die Bestimmung der Kandi-
daten durch eine vom Bundesrat ernannte unab-
hängigeFachkommission vorsieht und anschlies-
send die Besetzung der Bundesrichterstellen
durch ein Losverfahren vornehmen möchte. Ein-
mal gewählt, würden die Bundesrichter bis höchs-
tens fünfJahre über das ordentlicheRentenalter
im Amt bleibenkönnen.
Bis Anfang des 20.Jahrhunderts war das Bun-
desgerichtvon «Politiker-Richtern» dominiert –
von Richtern, die übereine juristischeAusbildung
verfügtenund auch juristisch tätig gewesen waren,
aber vor ihrerWahl vorwiegend politische Ämter
bekleidet hatten. Sie wurden allmählich von den
«Juristen-Richtern» abgelöst,die zwar stets einer
politischenPartei angehörten, aber hauptsächlich
eine juristische Karriere absolviert hatten.Partei-
lose Richter gab es kaum. In den letztenJahrzehn-
ten ist es zu einer weitgehenden Standardisierung
derJustizkarriere (unter Beibehaltung derPartei-
anbindung) gekommen,so dass man von «Richter-
Richtern»redenkönnte:Von den zurzeit amtie-


renden 38 Bundesrichtern sind, bis auf zwei (die
aus derAdvokatur stammen),alle nach einer
hauptsächlich an Gerichten oder an höherenVer-
waltungsämtern verbrachten Karriere ins Bundes-
gericht gewählt worden.
Diese faktische Professionalisierung ist auch
mit derFormierung einer organisierten Rich-
terschaft verknüpft. Bedingt durch die föderale
Struktur und dasFehlen einer richterlichen Beam-
tenkarriere, konnte sich hierzulandekeine «Rich-
terzunft» entwickeln. In den letztenJahren aber
lassen sich mehrere, für eine Berufsorganisation
typische Elemente aufzählen: Neben der zuneh-
mend wichtigenRolleder Richtervereinigung sind
diesv. a. die eigeneJustizzeitschriftund die Rich-
terakademie, mit dem Bestreben, derenAusbil-
dungsgang zurWahlvoraussetzung für Richter-
posten zu etablieren. Dies geht einher mit der
Zunahme einerJustizialisierung derPolitik (z.B.
HaagerTr ibunal oderRolle derVerfassungs-
gerichte). Im Gegenzug nimmt auch diePolitisie-
rung derJustiz zu. In der Schweiz hat sich durch
die zunehmende Bedeutung desVölkerrechts und
v. a. durch die EMRK das Bundesgericht zu einem
faktischenVerfassungsgericht gewandelt, was
auch zu einem veränderten (erstarkten) Selbst-
bewusstsein der Richterschaft geführt hat.
Demgegenüberhat sich am helvetischen Rich-
terwahlsystem kaum etwas geändert.Trotz einer
gewissenFormalisierung desVerfahrens, die ihren
vorläufigen Endpunkt in der Schaffung der Ge-
richtskommission (2003) erreicht hat, finden die
wichtigenAusmarkungen immer noch in denVor-
zimmern derPolitik statt.Kommt es zu Kampf-
wahlen, so sind es vorwiegend parteipolitische
Überlegungen, dieden Ausschlag geben:Fachliche
Kriterien werdenverbalhervorgehoben, faktisch
aber übergangen. Um die zunehmendeKonfron-
tation zwischen den Professionalisierungs- und
Autonomieforderungen innerhalb der Richter-
schaft und demFesthalten am Primat derPolitik
zu überwinden, wäre die SchaffungeinesJustizrats
als unabhängigeWahl- undAufsichtsbehörde zu
überlegen. Dessen Mitglieder sollten durchParla-
ment und Bundesrat bestimmt werdenundeinen
repräsentativen Mix aus politischen, juristischen
und anderen fachlichenKompetenzen darstellen.
Die Richterwahlen würden direkt vomJus-
tizrat vorgenommen werden, und zwar ohne den
Zwang zurParteizugehörigkeit und mit einer län-
geren, einmaligen Amtszeit von zwölf bis fünfzehn
Jahren. Diese Lösung würde den Kreis der Bewer-
ber wieder öffnen und einen zeitgemässen Plura-
lismusimBundesgericht gewährleisten.

Michele Luminatiist Professor für Rechtsgeschichte und
Rechts theorie an der Universität Luzern. Am Schweizeri-
schenJuriste ntag in Aarau (13./14. 9.) werden diese und
weiter e für die Justiz wichtige Themendiskutiert.
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