Neue Zürcher Zeitung - 13.09.2019

(Romina) #1

Freitag, 13. September 2019 MEINUNG & DEBATTE


LockerungderGeldpolitik imEuro-Raum


Die Medizin der EZB ist zum Gift geworden


WilderAktionismus ist meist ein Zeichen der Ohn-
macht.Das gilt besonders für die Europäische Zen-
tralbank (EZB).Was dieWährungsbehörde am
Donnerstag an Massnahmen präsentierte, darf mit
Fugals Aktionismus bezeichnetwerden. Nicht nur
werden die Zinsen fürBankeinlagen bei der EZB –
erstmals seit2016 – noch tiefer in den negativen Be-
reich gedrückt.Auch das Programm zum Kauf von
Staats- und Unternehmensanleihen,das Ende 20 18
zunächst beendet worden war, wird reaktiviert,und
zwar auf unbestimmte Zeit. Die EZB erleichtert
es dadurch den Euro-Staaten, ihre Schuldenpoli-
tikmit noch billigerem Geld fortzusetzen. Zudem
will die EZB die Gelder aus auslaufendenAnleihen
weiterhin grosszügigreinvestieren.
Wer noch vorJahresfrist auf eine Normalisie-
rung der Zinspolitik gehofft hatte, sieht sich eines
Besseren belehrt.Wenige Wochen vor seiner Ab-
lösung durch ChristineLagarde lockert Mario Dra-
ghi die Geldversorgung zusätzlich und lanciert für
den Euro-Raum ein weiteres Stimulierungspro-


gramm. Ganz ohneWiderstand seinerKollegen
konnte Draghi das Programm aber nicht beschlies-
sen.Vielmehr mehren sich endlich auch im 25-köp-
figen EZB-Ratdie Stimmen jener,die Zweifelan-
melden, ob die primär strukturellen Probleme des
Euro-Raums mit stets noch mehr Gratisgeld ge-
löst werdenkönnen. Die Opposition war aber zu
schwach. Dem EZB-Chef blieb eine Schmach kurz
vor demRücktritt erspart.
Einmal mehr fühlt man sich beim Blick auf Euro-
pas Geldpolitik anParacelsuserinnert.Der Schwei-
zer Naturphilosoph erkannte schon im16.Jahrhun-
der t, dass die Dosis entscheidet, ob ein Mittel zum
Gift wird. Eine kleine Schmerztablette kann heil-
sameWirkung haben, das Schlucken einer gan-
zen Packung aber zumTod führen. Bei der Geld-
politik im Euro-Raum ist es ähnlich. Deren wohl-
tätigeWirkung nimmt zusehends ab, je aggressiver
sie eingesetzt wird;es profitieren bald nur noch
die Aktienanleger, Hausbesitzer, Schuldner. Die
Volkswirtschaft als Ganzes leidet hingegen unter
den Nebenfolgen.Die anfänglich heilsame Medizin
verk ommtzum Gift. Ein klugerArzt würde nun das
Medikament infrage stellen,die EZB setzt aber auf
eine weitere Erhöhung der Dosis.
Die Argumente für diesesFesthalten überzeu-
gen nicht. Gewiss, die Konjunktur hat sich etwas
abgekühlt. Zuvor fand aber ein breit abgestützter

Aufschwung statt.Während der Abschwung nun
sofort eine Lockerung bewirkt, hatte der Boom
keine Straffung zurFolge.Will heissen: Die EZB
reagiert einseitig und asymmetrisch auf dieKon-
junktur; dies schadet der Glaubwürdigkeit.Frag-
würdig ist zudem der steteVerweis auf die angeb-
lich zu tiefe Inflation. So lag die Inflation zwischen
2017 und 2019 im Schnitt bei 1,6 Prozent, also sehr
nah am Zielwert von knapp 2 Prozent.Das Ziel
der Preisstabilität kann als erfüllt betrachtet wer-
den, zumal es für eine Notenbank ohnehin unmög-
lich ist, die Inflationsrate punktgenau zu steuern.
Für die Schweizerische Nationalbank (SNB)
sind dies unerfreulichePerspektiven. Sie ist kaum
in derLage, eine von der EZB unabhängigePoli-
tik zu betreiben und die Zinsenin positivesTerri-
torium zurückzuführen.Würde sie dies tun, wäre
mit einer unerwünschten Erstarkung desFrankens
zu rechnen.Jedoch wächst auch in der Schweiz der
Unmut gegenüber den Negativzinsen. Am Don-
nerstag hat sich etwa die SchweizerischeBankier-
vereinigung aus der Deckung gewagt und die Nach-
teile der Niedrigzinsen beklagt. Die Klage ist be-
rechtigt, adressieren müsste man sie aber nicht nur
an die SNB, sondern ebenso an die EZB. Denn so-
langesich Frankfurt nicht von seiner giftigenPoli-
tik verabschiedet,ist auch in der Schweizkeine Ge-
sundung zuerwarten.

Die EZB reagiert einseitig


und asymmetrisch auf die


Konjunktur; dies schadet


der Glaubwürdigkeit.


Fragwürdig ist zudem der


steteVe rweis auf die


angeblich zu tiefe Inflation.


Der Supreme Court stützt diePolitik Trumps– vorläufig


Asylmissbrauch hat Folgen


Wenn diePolarisierung gross ist und die Mehrheits-
verhältnisse knapp sind, tut sich eine Demokratie
schwer, so auch jene in Amerika. Bei heiklenThe-
men – Stichwort Zuwanderung – bringt derKon-
gress inWashington nichts mehr zustande. Entspre-
chend gross ist dieVersuchung für die Exekutive,
ihre Ziele per Dekret zuerreichen.Schon Präsident
Barack Obama war vonKonservativen gern vorge-
worfen worden, er benehme sich wie ein Monarch.
Nun, da dieRepublikaner die Macht imWeissen
Haus besitzen, ist es umgekehrt.
Um gegen Dekrete vorzugehen, bleibt nur die
Justiz. Je mehr Dekrete, desto mehr Klagen.Je
mehr Klagen, desto mehrVerfügungen gegen die
Dekrete, die oft im ganzenLand gelten («nation-
wide injunctions»).Laut JustizministerWilliam
Barr waren es in den achtJahren derRegierung
Obama 20. Nun, in gut dreieinhalbJahren der
RegierungTrump, sind es schon fast 40. Solche ge-
richtlicheVerfügungen zu erwirken, ist einfacher,


als es sein dürfte, weil die Kläger haargenau wissen,
zu w elchem Richter sierennenmüssen,umdie ge-
wünschte Entscheidung zu erhalten.
Die RegierungTrump hat begonnen,solcheVer-
fügungen direkt beim Obersten Gericht anzufech-
ten. Recht häufig geht es dabei umsThema Zu-
wanderung. Im letzten Dezember weigerte sich der
Supreme Courtnoch,derRegierung denRücken zu
stärken, nachdem der BundesbezirksrichterJohn
Tigar in Kalifornien eine andereVerschärfung der
Asylpolitik einstweilig verboten hatte. Jetzt aber
schlug sich das Gericht auf die Seite derRegierung,
gegen den gleichen Richter.
Das Urteil betrifft nicht die Sache selber. Es
geht also nicht um dieFrage, ob dieRegierung
Asylgesuche verweigern kann, wenn Gesuchsteller
auf demWeg an die amerikanische Grenze durch
Drittstaatenreisten, ohne dort Schutz zu beantra-
gen. Nein, dieseFrage ist auf dem langen Marsch
des Rechtswegs. Es geht nur darum, obTigar der
Regierung verbieten kann, diese spezifische Asyl-
rechtsverschärfung anzuwenden, bis das Urteil in
der Sache dereinstrechtskräftig ist.
Im Dezember so und nun anders. In beidenFäl-
len geht es darum, ob dieRegierung das geltende
Asylrecht verletzte. Es scheint, als habe sich der
Wind gedreht. Hatte im Dezember noch das Inte-

resse der allfälligen Opfer – nämlich zurückgewie-
senerAsylbewerber –über wogen,ist d er Supreme
Court nun offenbar zur Ansicht gelangt, dieFähig-
keit derRegierung, eine Krise zu bewältigen,müsse
Vorrang geniessen. Genaues wissen wir nicht. Es
gibt keine Begründung des provisorischen Ent-
scheids.Was ist seit Dezember geschehen? Zum
einenerliess RichterTigar zwei weitere einstwei-
lige Verfügungen mit landesweiterWirkung gegen
Trumps Asylpolitik.Das riecht nach Aktivismus.
Zum andern wurde seither deutlich, dass das ame-
rikanische Asylrecht und seine grosszügigenRege-
lungen von Hunderttausenden von Zentralameri-
kanern ausgenutzt wurden, um ihrer wirtschaft-
lichen Misere zu entkommen.
Die Regierung darf nun bis auf weiteres Asyl-
suchende abweisen, die auf demLandweg durch
Mexiko anreisten. Der bisher so einfacheWeg,
dank Asylgesuch und mithilfe mitreisender Kin-
der mindestens für mehrereJahre in den USA le-
ben zukönnen, ist vorläufig versperrt.Das ist tem-
porär zweifellos eineVerschärfung des Asylrechts.
Aber ihr Grund liegt vor allem im Missbrauch.Wer
nachweislich und unmittelbar an Leib und Leben
bedroht ist, kann etwa auf der Grundlage derFol-
terkonvention immer noch vorläufigeAufnahme in
den USA erhalten.

Seit Dezember wurde


deutlich, dass das


grosszügige US-Asylrecht


von Hunderttausenden


von Zentralamerikanern


ausgenutzt wurde, um ihrer


Misere zu entkommen.


Verschleppte Ärztefälle der Staatsanwaltschaft


Missstände auf Kosten der Patienten und Angehörigen


Ein Mann stürzt in seinerWohnung. FünfTage spä-
ter stirbt er im UniversitätsspitalZürich.Die Staats-
anwaltschaft untersucht denFall. Anfangs verlau-
fen die Ermittlungen normal. Ein Obduktionsgut-
achten wird inAuftrag gegeben,Familienmitglie-
der werden einvernommen. Doch dann gerät das
Verfahren ins Stocken, die Akte verschwindet im
Schrank – ohne Begründung. Über vierJahre lang
passiertrein gar nichts.
Solche Situationen mitÄrztefehlern sind für Be-
troffene undAngehörige sehr belastend.Sie wollen
wissen,was passiert ist,wollen erfahren,warum das
Une rklärliche geschehen ist.Nur sokönnen sie das
Erlebte ablegen und wieder nachvorne schauen.
Deshalb ist es wichtig, dass solcheFälle schnell
untersucht werden. Doch bei der Zürcher Staats-
anwaltschaft war das Gegenteil derFall.
Ein Gutachter überprüfte dieArbeit des zustän-
digen Staatsanwaltes zwischen 2011 und 2016. Sein
Bericht bringt zahlreiche Missstände im Umgang


mit Medizinal- und Ärztefällen ans Licht. Nicht
nur gab es bei rund zwanzigFällen unerklärbar
lange Bearbeitungslücken. DreiVerfahren waren
ga r von derVerjährung betroffen, weil sie zu lange
im Aktenschrank liegengeblieben waren.Das darf
nicht sein. Denn für die Staatsanwaltschaft gilt das
Beschleunigungsgebot, das heisst: Sie muss Ermitt-
lungen so schnell wie möglich durchführen.
Das Gutachtenkommt zum Schluss, dass gleich
mehrere Sachen schiefgelaufen sind.Zum einen lag
die Bearbeitung derkomplizierten und zeitintensi-
ven Fälle auf den Schultern eines einzigen Staats-
anwalts. Die Idee, den Bereich mit nur einerPer-
son zu spezialisieren, war zum Scheitern verurteilt.
Der Mann agierte als Einzelmaske, wurde schlecht
in seinenJob eingeführt und erhieltkeine Unter-
stützung vonKollegen. Zudem schoben dieVorge-
setzten das Problem auf die langeBank. Oderes
wurde aus falsch verstandenerKollegialität über
Mängel hinweggesehen.
Dass sich die ZürcherJustizvorsteherinJacque-
line Fehr nun bei den Menschenentschuldigt, die
wegen der verschlepptenVerfahren Leid ertragen
mussten, ist richtig.Auch dass seitApril 2017 die
kompliziertenÄrztefälle nun wieder in einemTeam
bearbeitet werden, ist zu begrüssen. Doch auch die
restlichen strukturellen,organisatorischen und per-

sonellen Defizite müssen so schnell wie möglich be-
hoben werden.
Abgesehen von den langenVerfahren führen
Ärztefälle selten zu Schuldsprüchen. Nur wenn ein
eindeutig belegbarer Behandlungsfehler zu einer
Schädigung oder zumTod geführt hat,kann eine
Verurteilung erfolgen. Doch dieser Nachweis ist
schwierig zu erbringen. Bei den meistenPatienten
handelt es sich ohnehin um geschwächte und kranke
Menschen,bei denen mehrereTodesursachen denk-
bar sind.Zudem sindGerichtsprozesse teuer.Aus
Sicht vonPatientenschützern hat ein Strafverfah-
ren nur dann einen Sinn, wenn hinter dem Handeln
eines Arztes kriminelle Energie steckt.Das Zivil-
verfahren ist deshalb der bessereWeg, um Rechts-
streitigkeiten zwischenArzt undPatient beizulegen.
Hinzukommt, dass laut internationalen Studien
im Durchschnitt zehn ProzentallerPatienten bei
der Behandlung in einem Spital einen schädigenden
Zwischenfall erleben. Diese Zahlen gelten auch für
die Schweiz.Würdealso jedes dieser Ereignisse in
ein Strafverfahren münden, wäre baldein Grossteil
allerÄrztinnen undÄrzte in einenRechtsstreit ver-
wickelt. Denn den meisten unterläuftin ihrer Kar-
riere ein Behandlungsfehler.Viele könnten so unter
Umständen gar nicht mehr praktizieren. Und dies
wäre auch nicht im Sinne derPatienten.

Der zuständige Staatsanwalt


agierte als Einzelmaske,


wurde schlecht in seinen Job


eingeführt und erhielt keine


Unterstützung von Kollegen.


Zudem schoben die


Vo rgesetzten das Problem


auf die lange Bank.

Free download pdf