Neue Zürcher Zeitung - 13.09.2019

(Romina) #1

22 PANORAMA Freitag, 13.September 2019


«Die Inseln sind in einem schrecklichen Zustand»


Unicef-Helfer Hanoch Barlevi steht auf den Baha mas Menschen bei, die wegen «Dorian» alles verloren haben


Wirbelsturm «Dorian» hat vor einer
Woche auf den nördlichenBahamas
riesige Schäden angerichtet, Hunderte
von Personen werden noch vermisst.Be-
sonders betroffen sind dieAbaco-Inseln
und GrandBahama, eine Inselgruppe
im Norden derBahamas. Nachdem die
Menschen erst in Notunterkünften vor
Ort untergebracht wurden, sind sie nun
grösstenteils in dieLandeshauptstadt
Nassau gebracht worden. Hier gibt es
genugTrinkwasser, und die Infrastruk-
tur – Elektrizität,Telefon und Strassen –
ist intakt. Sogar Touristen seien hier an-
zutreffen, sagt Hanoch Barlevi vom
Uno-Kinderhilfswerk Unicefim Ge-
spräch mit der NZZ.


Ist die Gefahr fürs Erste gebannt?
Leider nein.Wir befinden uns immer
noch mitten in der Hurrikan-Saison.
Wir beobachten dasWetter jedenTag.
Auf den Meeren sind weiterhin Bewe-
gungen zu beobachten.Wir können nur
hoffen, dass sie nicht unsere Richtung
einschlagen.Wir rechnen damit, dass
die Evakuierten erst einmal hierblei-
ben. Das kann noch Monate dauern.
Derweil fangen dieWiederaufbauarbei-
ten auf den Inseln langsam an.


Haben Sie eine so schlimme Katastro-
phe schon einmal erlebt?

Ja, vor genau zweiJahren. Im Herbst
2017 fegten heftige Hurrikane über
Puerto Rico, die Insel Dominica, die
Jungferninseln und Hispaniola. Ich war
damals auf Dominica.Wenn ich mir
heute die Bilder von damals ansehe, se-
hen sie fast genauso aus wie dieaktuel-
len Bilder von denAbaco-Inseln – wenn
nicht sogar schlimmer. Fast 70 000Men-


schen waren damals betroffen. Es war
schlimm.Das Klima verändert sich, und
wir müssen für solcheWetterkonditio-
nen in Zukunft besser vorbereitet sein.


Beschreiben Sie uns Ihre täglicheArbeit.
Es gibt hierkeine festen Arbeitszeiten.
Wir arbeiten einfach immer. Es geht vor
allem darum, uns von unserem Haupt-
sitz in Nassau aus mit denverschiede-
nen Ministerien und anderen Hilfsorga-
nisationen zukoordinieren.Jeden Tag


treffen wir uns und besprechen dieLage,
die sich ja auch dauernd ändert.Uni-
cef ist zum ersten Mal in dieserRegion
tätig .Wir mussten uns erst einmal der
Regierung vorstellen und erklären, wie
wir arbeiten und helfenkönnen. Unser
Fokus sind die Kinder, deren schulische
und psychologische Betreuung.Wir be-
ginnen jetzt mit derAnmeldung der Kin-
der für den Unterricht. Die Lehrer er-
hal ten Training in SachenTrauma-Be-
wältigung und vielem mehr. Es finden
bereits jetzt erste schulische und ausser-
schulische Aktivitäten für Kinder statt.
Die Zusammenarbeit mit dem zuständi-
gen Ministerium funktionierte auf An-
hieb sehr gut.

Wie langewerden diese provisorischen
Massnahmen nötig sein?
Es kann bis zu einemJahr dauern, bis
die Familien wiederzurückkehrenkön-
nen.Auf Dominica haben wir heute
noch Leutevon uns stationiert. Hier ist
jetzt einTeam, das auf die ersten Be-
dürfnisse der Leute eingeht und hilft.
In naher Zukunft werden wir auch hier
Helfer stationieren, die die langfristige
Planung übernehmen.

Wie schaut diese Planung aus?
Da wir wegen der Klimaveränderung
auch in Zukunft wieder mitstarken
Stürmenrechnen müssen, ist es wich-
tig, dass die Gebäude widerstandsfähi-
ger aufgebaut werden.Wir beraten die
Regierung bei der Planung der neuen
Gebäude und drängen darauf, dass in
gewisse Massnahmeninvestiert wird,
damit eine nochmalige Zerstörung
der Schulen verhindert werden kann.

Das Konzept heisst «BuildBack Bet-
ter» – unserFokus sind dabei die Schul-
gebäude. Andere Hilfsorganisationen
kümmern sich um andere wichtige Ge-
bäude wie Krankenhäuser.

Der amerikanische PräsidentDonald
Trump legt grossenWert darauf,dass
Betroffene, die Schutz in den USA su-
chen, die entsprechendenVisa vorwei-
sen können.

Das stimmt. Aber wir kümmern uns
nicht um solche Migrationsfragen. Und
das Schlimme ist, dass es ja oft gerade
diese Menschen ohne Aufenthalts-
genehmigung sind, die am meisten lei-
den und oft am stärksten Unterstützung
brauchen. Bei uns gilt, dass jeder Hilfe
erhält. Egal welcher Hautfarbe oder
Religion und egal, ob im Besitz vonPa-
pieren oder nicht.

Wie steht es um die medizinischeVersor-
gung auf den betroffenen Inseln?
Alle Krankenhäuser sind funktionstüch-
tig. Das ist eine gute Nachricht. Aber
insgesamt sind die Inseln und ihre Be-
wohner in einem schrecklichen Zustand.

Können Sie das näher beschreiben?
Ich war zum Beispiel in einer Schule auf
den Abaco-Inseln, die halb zerstört wor-
den war.Datrafich einen zehnjährigen
Jungen an, der in denTrümmern stand
und mir den Ort, wo sein Pult gestanden
hatte , zeigte. Es war herzzerreissend. Er
hat bei dem Sturm seinenVater verloren.
AuchdasZuhausederFamiliewurdezer-
stört. Er ist jetzt ganz alleinemit seiner
Mutter und hat nichts mehr. Man erlebt
viele solche Schicksale. Die Menschen
sind gezeichnet vonTraumata und haben
gleichzeitig die Kraft, in die Zukunft zu
blicken und einen Neustart zu wagen.

Macht sich IhreFamilie nicht grosse
Sorgen um Sie, wenn Sie im Einsatz
sind?
Doch, aber meineFrau arbeitet auch
bei Unicef. Somit hat sieVerständnis
für meine Arbeit.Wir haben auch drei
Söhne, die sich natürlich Sorgen ma-
chen, wennihr Vater in solche Krisen-
gebiete geht. Aber ich hoffe, dass sie
auch vieles dabei über dieRealitäten des
Lebens lernen und so auf das Schicksal
von anderen Familienaufmerksam ge-
macht werden.
Interview:Franziska Scheven

ZAHLENRÄTSEL NR. 212

SPIELREGELN«KAKURO»:Die Zahlen 1
bis 9 müssen in ein er Re ihe die Ges amt-
summe ergeben. Diese ist in den schwar-
zenKästchenlink sdavonbz w. darübervor-
gegeben. Jede Zahl darf innerhalb einer
Summe nur einmal vorkommen.

Auflösung:
ZahlenrätselNr. 211

Dertägliche Überlebenskampf: NurwenigeMenschen harrenauf den Abaco-Inseln im Norden derBahamas aus. JOSE JIMENEZ/GETTY

1300 Menschen werden nochvermisst


(dpa)·Eine Woche nach dem verhee-
renden Hurrikan «Dorian» werden auf
den Bahamas noch immer rund 1300
Menschen vermisst.Das teilte die Kata-
strophenschutzbehörde des karibischen
Inselstaats am Donnerstag mit.Es sei
damit zurechnen, dass die Zahl der bis-
her 50 bestätigtenToten deutlich steigen
werde, sagte Premierminister Hubert
MinnisineinerTV-Ansprache.Eskönne
Wochen dauern, bis alleTodesopfer ge-
bo rgen seien, hiess es ausRegierungs-
kreisen weiter. Noch seien die Helfer

nicht in alle verwüsteten Gebiete vor-
gedrungen. Mehr als 5500 Menschen
seien inzwischen von den verwüsteten
Gebieten im Norden derBahamas auf
diebevölkerungsreichsteInselNewPro-
vidence gebracht worden.Deutsche und
niederländische Marinesoldaten began-
nen unterdessen mit ihrem Hilfseinsatz
auf denBahamas.
Während des Sturms war es an
einem Ölhafen des staatlichen norwe-
gischen Öl- und Gaskonzerns Equinor
auf GrandBahama zu einem Ölaustritt

gekommen.Ein Spezialistenteam sei in-
zwischen im Einsatz, um dieFolgen zu
beseitigen, teilte Equinor am Mittwoch
mit.Aus der Luft sei möglicherweise Öl
entdeckt worden, das auch einenTeil
der Küste verschmutzt haben könnte.
Am Hafen jedoch sei derzeitkein Aus-
tritt ins Meer festzustellen.Nach einem
Bericht der Zeitung«The Nassau Guar-
dian» warf der Generalstaatsanwalt der
Bahamas demKonzern vor, zu lang-
sam auf die «Umweltkatastr ophe» zu
reagieren.

Und sie stechen trotzdem weiter


In Brasilien ist ein Versuch, Mücken mit Gentechnik zu bekämpfen, vorerst gescheitert


STEPHANIE LAHRTZ

In Jacobina in Brasilien wurden vonJuni
2013 bis September 2015 jede Woche
rund 450000 gentechnisch veränderte
Männchen der Stechmückenart Aedes
aegypti ausgesetzt. Die Moskitos waren
in denLabors der britischenFirma Oxi-
tec entwickelt und in Brasilien vermehrt
worden. Ziel des Grossversuchs war es,
die lokale Mückenpopulation zu dezi-
mieren: Die gentechnisch veränderten
Männchen sollten sich mit freilebenden
Weibchen paaren und der entstehende
Nachwuchs aufgrund eines gentechni-
schenEingriffsabsterben.DieReduktion
der Mücken sollte die Zahl der Dengue-
und Zika-Infektionen senken. Denn die
dafürverantwortlichenVirenwerdenvon
AedesaegyptiaufMenschenübertragen.

Nachkommen nachgewiesen


Die Moskitopopulation konnte zwar
während derFreisetzungsperiode um
bis zu70 Prozent reduziert werden.
Aber nur wenige Monate nach der letz-

ten Freisetzung stieg sie wieder deutlich
an.Und offenbar überlebten auch einige
der Gentech-Nachkommen.Man habe
an unterschiedlichen Standorten zwi-
schen zehn und sechzig Prozent an ein-
heimischen Mücken gefunden, die Spu-
ren des fremden Erbguts in sich getra-
gen hätten, berichten nunForscher der
Yale-Universität in derFachzeitschrift
«ScientificReports». In den ersten sechs
bis zwölf Monaten nach derFreisetzung
stieg der Anteil an einheimischen Mos-
kitos mit fremden Erbgutschnipseln, da-
nach sank er wieder ab. Ob und wie viele
einheimische Moskitos mit fremden Erb-
gutteilen es zurzeit gibt,weiss man nicht.
Dass nicht alle Nachkommen von
Gentech-Mücken a bsterben, ist aller-
dingskeine neue Erkenntnis.Aus Labor-
versuchen wusste man, dass drei bis vier
Prozent der Nachkommen überleben.
Gentech-Kritiker warnen nun in teil-
weise drastischenTönen vor dem wei-
teren Einsatz solcher Mücken, weil zur-
zeitniemandwisse,obdie neu entstan-
den Mücken gefährlich seien. Denkbar
ist beispielsweise, dass sie die gefürchte-

tenVireneffizienterübertragenkönnten.
ErsteVersuche derYale-Forscherstütz-
ten dieseBefürchtungenallerdings nicht.

Gefahrder Resistenz


ErnstWimmer, Entwicklungsbiologe
an der Universität Göttingen, sieht
das Problem nicht in der Entstehung
von Mücken miteiner neuen Erbgut-
mischung. Das Erbgut veränderesich in
der Natur ständig. «Aber wenn nun er-
neut diese Gentech-Mücken in grosser
Anzahl ausgesetzt werden,könnte das
zu Resistenzen gegenüber dem einge-
bautenTötungsmechanismus führen. Er
plädiert daher dafür, dass wenn, dann
nur Gentech-Mücken mit zwei vonein-
ander unabhängig arbeitenden Sterili-
tätsmechanismen freigelassen werden.
Wie nötig die Anstrengungen gegen
Aedes aegypti sind, zeigen auch kürz-
lich veröffentliche Zahlen aus Brasilien.
Demnach stieg die Anzahl an Dengue-
Infektionen imVergleich zumVorjahr
um 600 Prozent auf nunmehr 1,4 Millio-
nen Fälle an,591 Menschen starben.

Axenstrasse


wieder befahrbar


Absturzgebiet wird überwacht


(sda)·DieAxenstrasse geht amFreitag
um 14 Uhr nach demFelssturz EndeJuli
wieder auf – jedoch mit Einschränkun-
gen.Weil noch immerFelsabstürze dro-
hen, muss die Strasse innertKürze ge-
räumt werden können.Darum bleibt
die Strasse für landwirtschaftlicheFahr-
zeuge, Mofas,Velos undFussgängerwei-
terhingesperrt.Aus Sicherheitsgründen
ist auch derWeg der Schweiz im gefähr-
deten Gebiet nicht frei gegeben.
Um die Sicherheit derVerkehrsteil-
nehmer auf dem Strassenabschnitt ge-
währleistenzukönnen,wurdeeineÜber-
wachungs- undWarnanlage installiert,
wie das Bundesamt für Strasse am Don-
nerstag mitteilte. Diese erkennt sich in
Bewegung setzende Blöcke und Mur-
gänge und veranlasst eine Sperrung der
Axenstrasse.Weitere Blockabstürze und
Murgänge seien nicht ausgeschlossen.
Die Axenstrasse ist seit dem 28.Juli
zwischen Flüelen und Sisikon gesperrt.
Damalswaren zwei Blöcke von rund
300 Kubikmetern ineine Rinne direkt
oberhalb der Axenstrasse gestürzt.


Hanoch Barlevi
Katastrophenhelfer
PD von Unicef
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