Neue Zürcher Zeitung - 13.09.2019

(Romina) #1

WIRTSCHAFT Freitag, 13.September 2019 Freitag, 13.September 2019 WIRTSCHAFT


BENJAMIN TRIEBE, LONDON


Es herrscht politisches Chaos in Gross-
britannien.WeiteTeile des Unterhauses
rebellieren gegen Premierminister Boris
Johnson. Zentrales Ziel derRebellen ist
es, einen Brexit ohneAustrittsabkom-
men mit Brüssel unter allen Umstän-
den zu verhindern. Der droht bereits
Ende Oktober. Für dieses Ziel nehmen
lan gjährigeParteimitglieder derTories
einenFraktionsausschluss auf sich, dar-
unter der Enkel vonWinston Churchill.
Auch die grossen Oppositionsparteien
wieLabour oder die schottische SNP,
die stets nach Neuwahlen riefen, ord-
nen diesenWunsch dem Ziel unter, den
No-Deal-Brexit abzuwenden.


Ein grosses Experiment


Aber was macht den ungeregelten Bre-
xit so gefährlich? Gegenwärtig befindet
sich dasVereinigteKönigreich mit der
EU in einer Zollunion und einem ge-
meinsamen Binnenmarkt fürWaren und
Dienstleistungen. An den Grenzen gibt
es keine ZölleoderKontrollen, und die
Warenstandards sind einheitlich.Aus-
serdem ist London Mitglied zahlreicher
EU-Institutionen, dieRegeln für den
EU-Raum setzen– über denDaten-
austausch bis zur Zulassung von Medi-
kamenten.
Diese Integration wird mit dem No-
Deal-Brexit auf einen Schlag beendet.
Eine Übergangsphase von mindestens
einemJahr, wiesie das von der damali-
gen PremierministerinTheresa May aus-
gehandelte Abkommen vorsah, entfällt.
Zwar haben beide Seiten Notfallpläne
erlassen, um dieFolgen zu mildern,


doch es wird Schäden geben.Noch nie
in derWirts chaftsgeschichte wurde eine
so engeVerflechtung über Nacht zer-
schlagen. Brexit-Hardliner bezeichnen
die Folgeneinschätzungen als «Projekt
Angst» undPanikmache, doch die ab-
solute Mehrheit der Ökonomen warnt
eindringlich.
Der InternationaleWährungsfonds
(IMF) schätzt, dass der No-Deal-Bre-
xit die britischeWirtschaftsleistung im
schlimmstenFall um 8% imVergleich
zu einemVerbleib in der EU schwächen
wird. DieBank of England erwartet im
Extremfall eineRezession und einen
Rückgang des Bruttoinlandprodukts
(BIP) um bis zu 5,5% und eine Arbeits-
losigkeit von 7%.Wie lang die Schäden
anhalten und wie sie langfristig die Ent-
scheide von Unternehmen beeinflussen,
hängt davon ab, wie schnell ein neues
Handelsabkommen mit der EU gefun-
den wird.


DieRegierung sieht Gefahr


Die britischeRegierung hat eine Risiko-
analyse unter dem Namen «Operation
Yellowhammer» (Goldammer) erstellt,
die sie am Mittwochabend unter parla-
mentarischem Druck publizieren musste


(vgl. Zusatz). Im schlimmstenFall ist
dem Bericht zufolge mit landesweiten
Protesten und Gegendemonstrationen
zu rechnen, die erheblicheRessourcen
der Polizei binden. Es bestehe auch die
Gefahr von öffentlicher Unruhe.Grund-
sätzlich seienWirtschaft und Gesell-
schaft unzureichend auf den ungeregel-
ten Brexit vorbereitet und würden es
auch bleiben.
Im Folgenden ist beschrieben, was
der No-Deal-Brexit für einzelne Be-
reiche des öffentlichen Lebens bedeu-
ten könnte. Es ist in wesentlichenTeilen
ein e Zusammenstellung aus Berichten
einesAusschusses des britischenUnter-
hauses, der DenkfabrikThe UK in a
Changing Europe und desWirtschafts-
verbands Confederation of British In-
dustry (CBI).Auch Aspekte desYellow-
hammer-Berichts werden aufgegriffen.


  1. Finanzmärkte und Inflation


Nach einer Einschätzung derBank of
England (BoE) ist das britischeFinanz-
systemrobust genug, um mit einem un-
geregelten Brexit umzugehen. Es droht
laut BoE also kein Bankenkollaps.
Finanzstabilität bedeutet aber nicht
Marktstabilität: Es ist mit erheblichen
Turbulenzen an den Börsen zurech-
nen, vor allem mit einem Zerfall des
Pfunds. Das könnte zu einemAnstieg
der Importpreise und damit der jähr-
lichenTeuerung auf bis zu 5,25% führen.


  1. Nordirland


Ein zentrales Problem ist dieVerhin-
derung vonKontrollen an der Grenze
zwischen derRepublik Irland und dem
zumVereinigtenKönigreich zählenden
Nordirland. Mit dem No-Deal-Brexit
würde dieseLandgrenze zur neuen EU-
Aussengrenze und müsste bewacht und
geschützt werden.Das droht denFrie-
den zu torpedieren, der sich mit dem
Karfreitagsabkommen von1998 einge-
stellt hat. Eine wasserdichte Lösung für
dieseFrage gibt es nicht (abgesehen von
einer Integration Nordirlands in oder
zumindest sehr engen Anbindung an
den Binnenmarkt der EU, was aber im
VereinigtenKönigreich innenpolitisch
sehr umstritten ist).
Die britischeRegierung hat ange-
kündigt, auf ihrer Seite der Grenze
weitgehend aufKontrollen zu verzich-
ten. In der internenYellowhammer-
Analyse heisst es, dieserAnsatz werde
sich wahrscheinlich als unhaltbar erwei-
sen – wegen erheblicherwirtschaftlicher,
juristischer und gesundheitlicher Risi-
ken (letzteres aufgrund fehlender sani-
tärer Checks für Agrargüter undTiere).
Die wirtschaftliche Gefahr ist gross:
Diebeiden Inselteile sind engverknüpft.
Einem Drittel der nordirischenWaren,
die über die Grenze gehen – zumeist aus
der Landwirtschaftund der Nahrungs-
mittelindustrie –, drohen Zölle von15%
oder mehr. In Kombination mit nicht-
tarifären Handelshemmnissen, etwa
Überprüfungen zur Einhaltung von Sa-
nitär- und Hygienestandards, könnte der
Handel um 20% zurückgehen. DieFol-
gen fürLandwirtschaft und Nahrungs-
mittelindustrie gelten als verheerend.
Langfristigkönnte der Schwarzmarkt
enormenAuftrieb erhalten.
Laut einer früherenRegierungsana-
lysekönnte die Bruttowertschöpfung in
Nordirland gegenüber einem Szenario,
in dem dasLand Teil der EU bleibt, um
9% tiefer ausfallen. Einer von zwanzig
Arbeitsplätzen wäre bedroht.

«Yellowhammer» bestärkt No-Deal-Gegner


bet.·DiebritischeRegierunghatamMitt-
wochabend ihreAnalyse der möglichen
Folgen eines EU-Austritts ohneAbkom-
men (No-Deal) veröffentlicht. Zur Her-
ausgabe des vertraulichen Dokuments
(«OperationYellowhammer») wurde
sie durch einen Beschluss des Unter-
hauses gezwungen. Der Bericht datiert
vom 2.August 2019 und wurde somit be-
reits während derAmtszeit von Premier-
minister BorisJohnson erstellt.
Die offizielle Darstellung der
schlimmstmöglichenFolgen eines No-
Deal-Brexits deckt sich weitgehend mit
den seit Monaten verbreitetenAnalysen
vonExperten.DasheiztdenMachtkampf
zwischenJohnsonsRegierung und einer
«Rebellen-Allianz» aus Oppositions-
parteien und abtrünnigen Mitgliedern
derKonservativenPartei zusätzlich an.
Derweil ist ein EU-Austritt desVereinig-

ten Königreichs am 31.Oktober die herr-
schende Gesetzeslage, sei es mit oder
ohne Scheidungsabkommen zwischen
London und Brüssel.
DieLage des Premierministers ist
denkbar ungemütlich:Johnson hat seine
Regierungsmehrheit im Unterhaus ver-
lo ren. Er scheiterte zwei Mal mit dem
Antrag, Mitte Oktober Neuwahlen ab-
zuhalten. Seine Gegner wollten sich
nichtauf frühe Neuwahlen einlassen,
weil der Regierungschef bei einem
Wahlsieg den EU-Austrittzur Not ohne
Abkommen vollziehen will. Sie bezwei-
feln auch seine Absicht, ernsthaft mit
Brüssel zu verhandeln.Das Parlament
hat deshalb ein Gesetz verabschiedet,
dasJohnson zwingen soll, bei der EU
um einen Brexit-Aufschub zu bitten,
falls Ende Oktoberkein Austrit tsver-
trag vorliegt.

Beieinem No-Deal-Brexit drohen der Hälfte aller britischen ExporteVerzögerungen undVerteuerungen. Notfallplanungen an den Häfen wie dem vonFelixstowe dürften dieFolgen mildern, aber nicht eliminieren. CHRIS RATCLIFFE/BLOOMBERG

Noch nie in der
Wirtschaftsgeschichte
wurde eine so enge
Verflechtung über
Nacht zerschlagen.

Der Brexit

ohne Abkommen

ist gefährlich

Für Hardliner ist der EU-Austritt ohne Vertrag


mit Br üssel kein Problem. Für die Gegner ist er


eine Katastrophe. Probleme brin gt er auf jeden Fall



  1. Irland


Nach Grossbritannien und Nordirland
wird dieRepublik Irland am stärksten
die Folgen des Brexits spüren. Die iri-
scheRegierung nimmt an, dass ein un-
geregelter Brexit kurzfristig 55 000
Arbeitsplätze und mittelfristig weitere
30 000Stellenkosten wird.Laut einer
im Juni 2019 publizierten Analyseer-
wartet sie in diesem Szenario starke
Unterbrüche des irisch-britischen Han-
dels sowie eine «eindeutige Gefahr für
die heimischen Lebensstandards». Das
VereinigteKönigreich ist Irlands zweit-
grösster Handelspartner, und fast alle
irischen Exporte in denRest der EU
nutzen den (derzeit barrierefreien)Weg
über Grossbritannien alsLandbrücke.
Das Irish Fiscal Advisory Coun-
cil, eine unabhängige Wirtschafts-
forschungsbehörde, rechnet beim No-
Deal-Brexit miteiner Senkung derWirt-
schaftsleistung um 3,3% über fünfJahre
sowie von 5% in zehnJahren gegenüber
demVerlauf ohne EU-Austritt. Die Be-
schäftigung sinkt um 2 bis 3,4%. Bei
einem geregelten Brexit wären die lang-
fristigen Effekte etwa halb so gross.


  1. Warenhandel


Der Hälfte aller britischen Waren-
exporte drohen Verzögerungen und
Verteuerungen. Substanzielle EU-Zölle
würden vor allem aufAutoteile und
Landwirtschaftsgüter anfallen; hinzu
kommen die notwendigen Überprüfun-
gen auf die Einhaltung von Produkt-
standards. Notfallplanungen an den
Häfen dürften dieFolgen mildern, aber
nicht eliminieren. Auch einige Handels-
abkommen mit Drittländern, darunter
Kanada, dieTürkei undJapan, verlieren
ihre Gültigkeit.
Rund 245 000 kleine britischeFir-
men handelnderzeit mit der EU, ohne
dies melden zu müssen.Das wäre nicht
mehr möglich. Bei einem No-Deal-
Brexit steigt die Zahl der Zollerklärun-
gen von jährlich 55 Mio. auf 250 Mio.
DasVereinigteKönigreich würde etwa
zweiJahre benötigen, ein angemesse-

nes Erfassungswesen aufzubauen.Die
britischeRegierung hat angekündigt,
beim ungeregelten Brexit ihrerseits fast
keine Zölle auf Importe zu erheben.Das
mildert den Preisschock für die Bevöl-
kerung, setzt britische Hersteller aber
billigerKonkurrenz aus Drittländern
aus, die bis jetzt durch EU-Aussenzölle
abgehalten werden.
Verbindungen über den Ärmelkanal
sind die zentrale Handelsroute derWirt-
schaft.In ihrerYellowhammer-Analyse
schreibt dieRegierung, am erstenTag
nach dem No-Deal-Brexitkönnten 50%
bis 85% derLastwagen,die den Ärmel-
kanal überqueren, nicht auf französische
Zol lanforderungen vorbereitet sein. Die
Zahl der Abfertigungenkönnte für bis
zu drei Monate auf 40% bis 60% des
derzeitigen Niveaus sinken, bevor sie
auf 50% bis 70% steigt.


  1. Lebensmittelversorgung


Der hochkompetitive britische Lebens-
mittelh andel beruht auf tiefenMargen
und tiefen Logistikkosten. Bereits ge-

ringe Zeit- undKostenerhöhungen bei
Lie ferungenkönnen sich stark auswir-
ken. 30% der in Grossbritannien ver-
zehrten Lebensmittelstammen aus der
EU. Verzögerungen an den Häfen hät-
ten auf verderblicheWaren den gröss-
ten Effekt.
Weil das Logistiksystem so effizient
ist, ist dieLagerkapazität begrenzt. Im
Vorfeld von Zeitenmit hoher Nachfrage
(zum Beispiel ab Oktober für das anste-
hendeWeihnachtsgeschäft)sind Lager-
kapazitäten ohnehin zweiJahre imVor-
aus ausgebucht. Preiserhöhungen und
Engpässe besonders für frische Lebens-
mittel gelten als unvermeidbar; alle gros-
sen Supermarktketten haben davor ge-
warnt.
Auch dieRegierung hält es laut
dem Yellowhammer-Dokument für
möglich, dass das Angebot an frischen
Lebensmitteln sinkt und Zulieferun-
gen für die Lebensmittelbranche (Zu-
taten,Chemikalien, Verpackungen)
geringer zurVerfügung stehen. Als
Ergebnis wäre zwarkein grundsätz-
licherVersorgungsengpass zu befürch-

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