Neue Zürcher Zeitung - 13.09.2019

(Romina) #1

Freitag, 13. September 2019 INTERNATIONAL 3


ANZEIGE

Netanyahu legt alle Hemmungen ab

Bei den Wahlen kommende Woche geht es für Israels Regierungschef um alles oder nichts


In Israel wird am Dienstag zum


zweiten Mal in diesemJahr das


Parlament neu gewählt. Benjamin


Netanyahu führt diesmal einen


besonders aggressiven, aber auch


riskantenWahlkampf.


INGAROGG, JERUSALEM


Der Mann der Stunde in Israel heisst
Avigdor Lieberman. Einst vom amtie-
renden Ministerpräsidenten Benjamin
Netanyahu auf die politische Bühne
katapultiert, könnte er es sein, der sei-
ner politischen Karriere ein Ende be-
reitet. Lieberman fügte Netanyahu im
Frühling dieses Jahres eine schwere
Schlappe zu, indem er aus der langjähri-
genKoalition zwischen der israelischen
Rechten und den Ultraorthodoxen aus-
scherte. Damit verhinderte er dieWie-
derwahl seines früheren Förderers und
erzwang Neuwahlen. Der Stein des An-
stosses war ein Gesetz über die weit-
gehende Befreiung der ultraorthodoxen
Männervom Militärdienst.
Politisch stand Lieberman immer
rechts der Mitte, und daran hat sich
auch nichts geändert. Kompromisse
gegenüber denPalästinensern sind für
ihn ein Kniefall vor«Terroristen». Doch
imWahlkampf hat er dieFrage desVer-
hältnisses zwischenReligion und Staat
zu einem zentralenThema gemacht. In
Interviews gab er zu bedenken,religiöse
Fanatiker wollten Israel in eineTheo-
kratie verwandeln. Kritiker werfen Lie-
berman Opportunismus vor, doch er
traf damit offenbar einen Nerv. Quasi
über Nacht stieg er zum Helden selbst
der Liberalen auf, denen der überpro-
portionale Einfluss der Ultraorthodo-
xen auf diePolitikseit langem ein Dorn
imAuge ist.
Netanyahus stärkster Herausforde-
rer, Benny Gantz, hat den Charakter des
jüdischen Staats in der Schlussphase des
Wahlkampfs ebenfalls zumThema ge-
macht. InWahlkampfspots betont das
von ihm undYairLapid angeführte
zentristische Bündnis Blau-Weiss sein
Bekenntnis zu einem säkularen Staat.
Nach Meinungsumfragen liefern sich
Blau-Weiss und Netanyahus Likud ein
Kopf-an-Kopf-Rennen. Die jüngsten
Prognosen sagen beiden in der nächsten
Knesset jeweils 30 bis 32 Sitze voraus,
wobei weder dasrechte noch das Mit-
te-linksLager auf die nötige Mehrheit
von 61 Sitzen für dieRegierungsbildung


kommt. Israelische Medien bezeichnen
Lieberman bereits alsKönigsmacher.
Umfrageinstitute prognostizieren sei-
nerParteieineVerdoppelung ihrer Sitz-
zahl von derzeit5auf etwa 10 Mandate.
«Lieberman ist einer der unberechen-
barsten Akteure in der israelischenPoli-
tik», sagt OferKenig vom Israel Demo-
cracy Institute. «Diesmal hat er sich als
antireligiös sowie antiultraorthodox
positioniert und sich von einemVerbün-
deten derRechten hin zu einer neutrale-
ren Haltung bewegt.» Sowohl Gantz wie
Lieberman schliessen eineKoalition mit
dem Likud nicht aus – imFall von Gantz
käme eine solche grosseKoalition defi-
nitiv nur ohne Netanyahu infrage.

Es drohteine Anklage


Doch für Netanyahu geht es um alles
oder nichts. Ende des Monats feiert
Israel das jüdischeNeujahrsfest. Bis da-
hin müssen die politischenParteien Prä-
sidentReuven Rivlin ihre Präferenz für
den künftigen Ministerpräsidenten vor-

legen. Hat Netanyahu dabei das Nach-
sehen, steht es schlecht um seine Chan-
cen, eine drohende Anklage abzuwen-
den. DiePolizei wirft dem langjähri-
genRegierungschefKorruption, Betrug
undVertrauensbruch vor.ZweiTage
nach dem Neujahrsfest entscheidet der
Generalstaatsanwalt darüber, ob er An-
klage erhebt.
Mit dem über ihm schwebenden
Damoklesschwert einer Anklage lässt
Netanyahu nichts unversucht, seinem
Image als «Mister Security» gerecht zu
werden. Anfang dieserWoche wartete
er mitVorwürfen an dieAdresseTehe-
rans auf. Die Iraner hätten eine heim-
liche Anlage für Experimente an Atom-
waffen betrieben. Erräumte indirekt
israelische Luftangriffe auf vonTehe-
ran unterstützte Milizen in derRegion
ein und rückte damit von der traditio-
nellen Linie ab, den Gegner in solchen
Fällen im Ungewissen zu lassen. Gleich-
zeitig kämpft er im Inneren mit harten
Bandagen um jede Stimme. Dabei hat er
erst gar nicht versucht, den einstkonser-

vativen Likud wieder stärker in der poli-
tischen Mitte zu verankern.Vielmehr ist
er noch weiter nachrechts gerückt.
In einerregelrechten Hetzkampa-
gne warf Netanyahu den israelischen
Arabern vor, sie versuchten, Stimmen
zu klauen. Zudem wollte er ein Gesetz
zur Einführung von Kameras an den
Wahlurnen durchboxen. Die arabischen
Wähler planten, «Israel zu vernichten»,
behauptete sein Büro dieseWoche in
einemFacebook-Post. Zwar löschte
das Büro den Eintrag wieder, trotzdem
sperrteFacebook die Seite am Donners-
tagvorübergehend.
Darüber hinaus kündigte Netanyahu
imFall seinerWiederwahl die Annek-
tierung desJordantals und dieAus-
dehnung der israelischen Souveränität
aufTeile des besetzten Westjordan-
lands an. Obwohl ohnehin kaum noch
jemand an eine baldige Lösung des
israelisch-palästinensischen Konflikts
glaubt, wären die Pläne derTodes-
stoss für einen künftigenPalästinenser-
staat.Das Jordantal gilt als dieKorn-

kammer des potenziellen Staats, ohne
die dieserwirtschaftlich nicht überleben
könnte. International wurde derVor-
stoss scharf verurteilt. Kritiker nann-
ten Netanyahu einen Brandstifter. Die
Opposition bezeichnete die Ankündi-
gung zwar alsWahlkampfmanöver, aber
inderFrage desJordantals unterschei-
det sich Gantz’Position kaum von der
desRegierungschefs.

Besuch beiPutin


Beobachter sehen in NetanyahusVor-
stoss vor allem einenVersuch, poten-
zielleWähler von kleinerenrechtenPar-
teien wieYamina («nachrechts») und
den Nationalreligiösenaufseine Seite zu
ziehen. Er gehe davon aus, dass Netan-
yahu in Sicherheitsfragen immer noch
ein verantwortungsbewusster Politi-
ker sei, sagt OferKenig im Gespräch.
In allen anderenFragen habe er jedoch
sämtliche Hemmungen abgelegt und
tue alles in seiner Macht Stehende, um
dasThema der drohenden Klage in den
Hintergrund zu drängen.
Wer ihm nicht die Stimme gebe,
wähle die Linke, behauptet Netanyahu.
Doch seine Strategie,seinenpotenziel-
lenKoalitionspartnern auf derRech-
ten Stimmen abspenstig zu machen, ist
riskant. Siekönnte dazu führen, dass
Kleinparteien die 3,25-Prozent-Hürde
knapp verfehlen und ihre Stimmen ver-
loren sind.Wohl auch deshalb hat er
in der Schlussphase sein ganzesAugen-
merk noch einmal auf Lieberman ge-
richtet. Am Donnerstagreiste Netan-
yahu nach Sotschi, um sich mit dem
russischen PräsidentenWladimirPutin
zu treffen.Dasbietet ihm nicht nur die
Gelegenheit, sich als Staatenlenker zu
inszenieren. Es ist auch eine Botschaft
an LiebermansWählerschaft. Ob sie
verfängt, sei jedoch fraglich, sagtKe-
nig.Viele der Einwanderer aus der
ehemaligen Sowjetunion stammten aus
der heutigen Ukraine oder aus ande-
ren Staaten, die einstTeil des Sowjet-
reichs waren. In dieserWählerschicht
ist Putin nicht besonders populär. «Und
selbst unter denRussenbewundert ihn
nichtjeder.»
Netanyahuräumte am Donnerstag
ein, dass er laut Umfragen seiner eige-
nenPartei derzeit hinten liege. Doch
fünfTagekönnen in Israel eine lange
Zeit sein.Durch unerwartete Ereignisse
könnte sich das Blattwenden,sagtKe-
nig.Abschreiben sollte man Netyanhu
also nicht.

BenjaminNetanyahu ist die bestimmende Figur in IsraelsPolitik –dochwie lange noch? AMMARAWAD / REUTERS

Die Briten trifft der «Yellowh ammer»


Ein internes Papier über die Folgen eines No-Deal-Brexits brin gt die Regierung in Erkläru ngsnot


MARKUS M. HAEFLIGER, LONDON


Das Schriftstück überdieFolgen eines
No-Deal-Szenarios, das die britische
Regierung am Mittwochabend widerwil-
lig herausrückte, trägt in der Überschrift
zwei Angaben mit Zündstoff: «Official»
und «sensitive» heisstes dort, «amtlich»
und «vertraulich».Sie bedeuten, dass
die folgenden fünf Seiten an düsteren
Prognosen von derAdministration sel-
ber abgegeben werden und nicht, wie
dies Regierungssprecher häufig tun,
als Angstmachereivoreingenommener
Experten abgetan werdenkönnen. Sie
machen ausserdem deutlich, dass Boris
Johnson und seine Minister dieFolgen
eines vertragslosen EU-Austritts unter
Verschluss halten wollten.


DüstereVoraussagen


Das Unterhaus hatte die Geheimhal-
tung aufgehoben, als die Abgeordne-
ten am Montagmit knapper Mehr-
heit die Offenlegung der sogenannten
«OperationYellowhammer» durchsetz-
ten. Es handelt sich um amtsübergrei-
fende Analysen für denFall, dass sich
London und Brüssel nicht einigen. Sie


werden seit vergangenem Jahr vom
Schatzkanzleramtkoordiniert und lau-
fend aktualisiert. Bis zu einer Indiskre-
tion vor einemJahr war nicht einmal
bekannt gewesen, dass es sie gab. Dass
ihnen ein Codewort zugeteilt wurde –
«Yellowhammer» ist die Bezeichnung

der Goldammer, eines Singvogels –, lässt
tief blicken; derAusdruck vermittelt den
Eindruck einer Manöverplanung oder
eines abenteuerlichen Spiels.
Aber es gilt ernst. Laut der aktuel-
len, auf den 2.August datierten Beurtei-
lung ist amTag nach einem No-Deal-
Brexit mit einemRückgang desLast-
wagenverkehrs beim Nadelöhr Dover–
Calais auf 40 bis 60 Prozent zurechnen.
Bis zu 85 Prozent derLastwagen seien
nicht auf die Abfertigung durch franzö-
sische Zöllner vorbereitet, heisst es. Pro
Tag durchlaufen 10 000 Lastwagen den
Hafen von Dover.

Der für dieNo-Deal-Planungzu-
ständige Minister, Michael Gove, er-
klärte,die Analysen seien einWorst-
Case-Szenario, keinerealistische Erwar-
tung.Durch intensivierteVorbereitun-
gen würden dieFolgen gemildert. Die
Liste derKonsequenzen gleicht jedoch
fast aufs Haar einemPapier, das letzten
Monat der Zeitung«T imes»zugespielt
worden war. Es war als «base scenario»
betitelt worden, alsrealistischer Mittel-
weg der Prognosen. DerVerdacht drängt
sich auf, dass im Hinblick auf die Offen-
legung das Etikett ausgewechselt wurde.
Die Störungen würden zu Nach-
schubproblemen bei Medikamenten und
Nahrungsmitteln führen, heisst es wei-
ter; die winterlicheJahreszeit mit einem
Rückgang derLandwirtschaftsproduk-
tion wirke sich zusätzlich nachteilig aus.
Im Bedarfsfallkönne man möglicher-
weise nicht angemessen auf Epidemien
reagieren.Komponenten für die Produk-
tion vonVerpackungsmaterial oderChe-
mikalien fehlten. Aber dasPapier enthält
auchPositives: Der Energie- undTr ink-
wasserbedarf sei gesichert, heisst es.
Laut dem Dokument wird der Zah-
lungsverkehr gestört, weil die EU den
Datenaustausch behindern wird. In

der EU niedergelassene Briten hätten
Nachteile zu gewärtigen.Ferner werden
Unruhen vorausgesagt, die diePolizei
fordern würden. Die angekündigtePoli-
tik, an der inneririschen Grenze schlicht
keineKontrollen einzuführen, sei weder
nachhaltig, nochkönne sie ohne Ab-
sprache mit der EU durch ein sanf-
tesKontrollregime abgelöst werden.
In Nordirland seienJobverluste, Pro-
teste und eine Zunahme des Schmug-
ge ls zu erwarten.

Opposition sprichtvon Skandal


Brexit-SchattenministerKeir Starmer
nannte das Szenario skandalös. Die Ur-
sache für die skizziertenFolgen seien
weder eine Naturkatastrophe noch ein
Krieg, sondern die willentlich verfolgte
Politik von Brexit-Hardlinern.
Am Montag hatte das Unterhaus
ausser den No-Deal-Prognosen auch die
Offenlegung derKommunikation ver-
langt, mit derJohnsons Entourage die
umstritteneVertagung desParlaments
mutmasslich imVoraus geplant hatte.
Dieser Massnahme widersetzte sich die
Regierung; sie sei unverhältnismässig,
erklärte Gove zur Begründung.

Die Gefahren eines
Brexits ohne Vertrag
Wirtschaft, Seite 26, 27

In einem erstklassigen Umfeld
unterstützt und begleitet Sie
unser interprofessionelles
Team zurück zueiner befreiten
Atmung. Mehr Infos unter
klinik-schloss-mammern.ch

Zurück zu


einer befreiten


Atmung.

Free download pdf